Keine künstliche Intelligenz

Warum die FSK nach 70 Jahren ein neues Prüfverfahren einführt

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Stefan Linz

Im Sommer 1949 hat die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) ihre Arbeit aufgenommen. Die FSK ist nach dem Jugendschutzgesetz zuständig für die Alterskennzeichnung von filmischen Inhalten im Kino und auf Video/DVD. Seit ihrer Gründung hat sie fast 250.000 filmische Inhalte geprüft und freigegeben: Spielfilme, Dokumentationen, Kurzfilme, Serien, Trailer, Werbespots, Musikclips, Konzertaufnahmen sowie Bonusmaterial auf DVDs. Derzeit werden pro Jahr rund 12.000 Freigaben erteilt. Über die Altersfreigaben entscheiden rund 230 ehrenamtliche Prüferinnen und Prüfer, die aus unterschiedlichen Berufsfeldern und gesellschaftlichen Bereichen stammen. Viele haben Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder in der Medienwirkungsforschung. Nach gut 70 Jahren wird die Prüfpraxis radikal geändert. FSK-Geschäftsführer Stefan Linz erläutert die Hintergründe.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 4/2019 (Ausgabe 90), S. 46-49

Vollständiger Beitrag als:

Das Prüfverfahren der FSK ist dank jahrzehntelanger Erfahrung etabliert und hat sich bewährt. Warum wird es ab dem kommenden Jahr geändert?

Die Idee kommt nicht von ungefähr. Es gibt einen Beschluss der Familienministerkonferenz aus dem Mai 2018 zur Entwicklung vergleichbarer Systeme bei der Jugendschutzbeurteilung von Inhalten. Es geht also darum, Prüfverfahren kompatibel zu machen mit den Anforderungen einer digitalen Medienwelt. Gerade für Filme gibt es heutzutage eine Vielzahl von Vertriebswegen, online wie offline; Geschwindigkeit spielt dabei eine immer größere Rolle, weil die Veröffentlichungszyklen immer kurzfristiger werden. Filme kommen oft weltweit zu einem identischen Starttermin auf den Markt. Sie sind für die deutschen Anbieter teilweise erst kurz vor diesem Termin verfügbar und müssen noch synchronisiert werden. Das klassische FSK-Prüfverfahren braucht jedoch eine gewisse Zeit. Wenn ein Anbieter nicht vorab einen konkreten Prüftermin vereinbart hat, kann es bis zur Prüfung eines Spielfilms je nach Auslastung der Prüfausschüsse auch mal zwei Wochen dauern.

Wie wird das Verfahren in Zukunft aussehen?

Die FSK entwickelt gemeinsam mit den Ständigen Vertretern der Obersten Landesjugendbehörden derzeit ein kriterienbasiertes Klassifizierungstool, das die Prüfverfahren vereinfachen und beschleunigen soll. An der Qualität der Altersentscheidungen wie auch an der rechtlichen Qualität der Entscheidungen soll sich selbstverständlich nichts ändern. Dieses Tool soll aber nicht für sich allein stehen, sondern wie bisher in eine Verfahrenskette mit Berufungsmöglichkeit und personenbasierten Prüfgremien eingebunden werden.

Wie sieht dieses Verfahren aus?

Im Kern besteht das Tool aus einem dynamischen webbasierten Fragebogen mit Fragen zu allen jugendschutzrelevanten Sachverhalten. Die Fragen sind objektiviert, deshalb sind die Antworten bei einem linearen filmischen Inhalt auch vollständig überprüfbar. Für die Nutzer des Tools nicht sichtbar ist jede Antwortoption mit einer Beurteilungslogik verknüpft. Diese bildet die etablierte Spruchpraxis der FSK-Prüfausschüsse und deren Wirkungsannahmen anhand von definierten Kriterien ab. Die Beurteilungslogik bestimmt also nach einer zuvor festgelegten Definition eine Altersbewertung. Es handelt sich ausdrücklich nicht um eine künstliche Intelligenz, ganz im Gegenteil: Alle Faktoren sind von Jugendschutzexperten festgelegt worden und in ein Werkzeug implementiert, das zukünftige Prüfungen objektiver und nachvollziehbarer machen soll.

Verschiedene Nutzer kämen also zum selben Ergebnis?

Das ist die Voraussetzung für die korrekte Funktionsweise des Tools und unser Anspruch an das System: Unterschiedliche Nutzer geben für den gleichen Inhalt die gleichen Antworten. Deshalb müssen die Fragen auch so objektiviert sein, dass der Interpretationsspielraum so klein wie möglich ist.

Wer wird die Prüfungen durchführen?

Grundsätzliche Voraussetzung ist eine Schulung der Nutzer. Die Prüfungen können in der FSK durchgeführt werden. Theoretisch gibt es auch die Option, dass extern geschulte Personen das Tool nutzen. Ob wir diese Möglichkeit anbieten, lässt sich derzeit noch nicht sagen. In jedem Fall muss die Qualität der Entscheidungen sichergestellt werden.

Werden die Prüfverfahren für Filmverleiher und DVD-Anbieter preiswerter?

Auch das kann ich im Moment noch nicht sagen, aber es ist unser Ziel, die Prüfverfahren günstiger zu machen. Ob das gelingen wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Sie dürfen nicht vergessen, dass ein technisches Tool auch in der Betreuung und in der Pflege Aufwand erfordert. Gerade zu Beginn wird es zudem vermutlich viele Fragen geben.

Wie werden Sie mit strittigen Fällen umgehen?

Es wird wie bisher die Möglichkeit geben, in Berufung zu gehen, dann wird sich ein Prüfausschuss mit dem Inhalt befassen.

Werden Sie Ihr Tool veröffentlichen, sodass z.B. Eltern eine Freigabeentscheidung nachvollziehen können?

Die Beurteilungslogik, also den unsichtbaren Teil hinter den Antwortoptionen, werden wir nicht veröffentlichen. Sie ist das Herzstück des Klassifizierungstools und basiert auf der jahrzehntelangen Spruchpraxis und den ihr zugrunde liegenden Wirkungsannahmen der Prüfausschüsse. Das ist unsere Kernkompetenz, die wir schützen möchten; auch, um Missbrauch zu vermeiden. Die für eine Freigabeentscheidung maßgeblichen Gründe wollen wir dennoch transparent machen.

In den Niederlanden werden Altersfreigaben auf Basis eines ganz ähnlichen Systems erteilt. Inwiefern unterscheiden sich die beiden Modelle?

Wir haben das niederländische System 2010 sehr umfangreich testen können und festgestellt, dass die Übereinstimmungen der jeweiligen Ergebnisse relativ hoch waren, obwohl das Modell natürlich nicht auf die speziellen Anforderungen und Gegebenheiten des deutschen Marktes ausgerichtet ist. „Relativ“ war für uns aber nicht gut genug. Um unseren Qualitätsanspruch zu erfüllen, war es nötig, eine eigene Entwicklung vorzunehmen, damit alle Faktoren, die in den Prüfausschüssen für die Spruchpraxis relevant sind, berücksichtigt werden können. Im Verlauf eines langen Prozesses haben wir dieses neue Modell unseren Vorstellungen entsprechend entwickelt.

Wie sieht der Fragebogen konkret aus?

Es gibt verschiedene Jugendschutzdimensionen. Die bekanntesten Kategorien sind die Darstellung von Gewalt, die Thematisierung oder Darstellung von Drogenkonsum sowie die Darstellung von Sexualität. Berücksichtigt werden muss aber z.B. auch selbstverletzendes Verhalten, Suizid oder die sprachliche Ebene. Der Fragebogen umfasst derzeit knapp 100 Fragen, die dank einer internen Logik jedoch nicht alle beantwortet werden müssen. Wird eine der Jugendschutzkategorien nicht tangiert, fallen die zugehörigen Unterfragen weg. Wird eine Einstiegsfrage dagegen mit „Ja“ beantwortet, folgen detaillierte Fragen zu dieser Kategorie.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

Da bietet sich die Kategorie „Drogenkonsum“ an, das ist auch für die Prüfausschüsse immer wieder ein besonderes Augenmerk, weil eingeschätzt werden muss, ob von den entsprechenden Szenen eine entwicklungsbeeinträchtigende Wirkung ausgeht. Der Nutzer muss zunächst angeben, ob der Drogenkonsum bildlich dargestellt oder „nur“ thematisiert wird. Dann folgen weitere Fragen zu verschiedenen Details, z.B.: Handelt es sich um sogenannte harte oder weiche Drogen, sind Minderjährige involviert, wird der Konsum kritisch dargestellt? Dank exakter Definitionen hat der Nutzer praktisch keinen Interpretationsspielraum. Das ist auch in einem der wichtigsten Aspekte im Bereich „Jugendschutz“ für filmische Inhalte, der Kategorie „Gewalt“, von großer Bedeutung und die Voraussetzung dafür, dass unterschiedliche Nutzer bei gleichen Sachverhalten zu identischen Ergebnissen kommen.

Gewalt ist ein weites Feld. Wie sehen hier die Unterfragen aus?

Bei Gewaltdarstellungen wird u.a. abgefragt, ob und in welcher Form Verletzungen zu sehen sind oder ob die Gewalt in Verbindung mit Diskriminierung steht. Der Fragebogen wie auch die Beurteilungslogik sind in dieser Kategorie außerordentlich komplex. Der Fragebogen kann allerdings nicht dafür genutzt werden, eine Abwägung zwischen jugendgefährdenden und jugendbeeinträchtigenden Inhalten zu liefern. Wenn es um indizierungsrelevante oder vielleicht sogar strafrechtlich relevante Tatbestände geht, muss ein Film nach wie vor einem Prüfausschuss vorgelegt werden. Diese Einschätzung kann der Fragebogen nicht vornehmen.

Sie haben die alte und die neue Klassifizierungsmöglichkeit bestimmt miteinander verglichen. Wie sahen die Ergebnisse aus?

Wir sind mit den Testläufen sehr zufrieden, weil das Klassifizierungstool beide Ziele erfüllt: Es garantiert einerseits den hohen Standard der FSK-Freigaben und sorgt andererseits dafür, dass das Verfahren einfacher und dadurch beschleunigt wird.

Jugendschutzexperten vermuten, dass das neue Verfahren zu strengeren Freigaben führen wird. Dem ist nicht so?

Nein, das kann man pauschal nicht sagen. Man darf zudem nicht vergessen: Wir vergleichen Ergebnisse von personenbasierten Verfahren, die auf der Basis subjektiver Wirkannahmen zustande kamen, mit einem kriterienbasierten Verfahren und einer definierten Beurteilungslogik. Das macht einen direkten Vergleich schwierig, aber wir haben festgestellt, dass wir mit beiden Verfahren zu gleichen Ergebnissen kommen.

Der Jugendschutz orientiert sich heute an anderen Kriterien als vor 20 oder 30 Jahren. Ist Ihr Modell auch in dieser Hinsicht „dynamisch“?

Das Tool darf ebenso wie der Jugendschutz im Allgemeinen kein starres Konstrukt sein. Es muss genauso wie die Spruchpraxis in den Prüfausschüssen kontinuierlich weiterentwickelt werden, um neue Inhalte oder Problemstellungen, die jetzt vielleicht noch gar nicht absehbar sind, richtig zu erfassen. Schon aus diesem Grund werden personenbasierte Prüfgremien auch in Zukunft unverzichtbar sein. Wir werden das Tool kontinuierlich weiterentwickeln, also neue Fragen und neue Antwortoptionen einführen oder die Beurteilungslogik verändern.

Glauben Sie, dass die Anbieter angesichts des vereinfachten Prüfvorgangs auch ältere Produktionen neu bewerten lassen? Viele Filme, die einst keine Jugendfreigabe erhalten haben, würden heute ab 16 oder sogar ab 12 Jahren freigegeben.

Auch das kann man so pauschal nicht sagen. Das hängt immer davon ab, welche Kriterien damals für die Freigabeentscheidung ausschlaggebend waren. Es gibt Bereiche wie etwa die Thematisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, die bis in die 1970er-Jahre zu sehr hohen Freigaben geführt haben. Diese Filme würden heute vermutlich niedrigere Freigaben bekommen. Aber wir rechnen nicht damit, dass sich durch das neue Prüfverfahren das Vorlageverhalten wesentlich ändern wird, zumal die FSK-Freigaben ja auch in Zukunft mit Kosten verbunden bleiben.

Die Umstellung auf das neue Modell stellt eine gewisse Zäsur dar. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit, auch die Altersfreigaben zu modifizieren? Die Spanne beispielsweise zwischen 6 und 12 Jahren ist viel zu groß.

Sie wissen, dass die FSK in diesem Fall die gesetzlichen Vorgaben umsetzt und die Freigabestufen nicht selbst festlegt. Aber es ist in der Tat offensichtlich: Zwischen 6 und 12 Jahren, aber auch zwischen 12 und 16 Jahren liegen große Entwicklungssprünge. Sollte der Gesetzgeber zu dem Schluss kommen, dass neue Altersstufen eingeführt werden müssen, könnte das Klassifizierungstool problemlos angepasst werden. Aus unserer Sicht wäre es allerdings wichtig, dass Änderungen in allen gesetzlichen Grundlagen für den Jugendmedienschutz berücksichtigt würden. Es gibt eine Zuständigkeitstrennung zwischen Bund und Ländern. Derzeit ist die deutsche Medienregulierung nicht konvergent, aber immerhin sind der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag und das Jugendschutzgesetz hinsichtlich der Altersstufen angeglichen worden.

Bei Filmen mit einer Freigabe ab 12 Jahren gibt es seit 2003 das sogenannte Elternprivileg: In Begleitung von Erziehungsberechtigten dürfen auch 6-Jährige solche Vorstellungen besuchen. Warum gilt das nicht auch für die Freigaben ab 6 und ab 16 Jahren?

Diese Frage müssten Sie ebenfalls dem Gesetzgeber stellen, aber wir fragen uns das natürlich auch. Die FSK muss sich laut Jugendschutzgesetz wie alle anderen Selbstkontrollen auch an den jüngsten Mitgliedern einer Altersstufe orientieren. Ein Film erhält also z.B. eine Freigabe ab 16, wenn er sich auf 13‑Jährige entwicklungsbeeinträchtigend auswirken könnte, auch wenn sich 15‑Jährige den Film problemlos anschauen könnten. Eltern haben jedoch ein grundgesetzlich garantiertes Erziehungsprivileg. Es steht ihnen daher z.B. frei, zu Hause mit ihren 5‑jährigen Kindern Inhalte anzuschauen, die erst ab 6 Jahren freigegeben sind, und diese Möglichkeit sollten sie auch im Kino haben. In dieser Hinsicht ist die aktuelle Regulierung aus unserer Sicht extrem streng, zumal es ja eine deutliche Veränderung der Rezeptionssituation bedeutet, ob ein Kind allein oder in Begleitung seiner Eltern im Kino ist.
 

Stefan Linz ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK).

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.