„Kinder haben ein Recht auf vernünftige Antworten.“
Frau Bildau, Sie erklären einem Millionenpublikum Tag für Tag die Welt. Gab es Fragen Ihrer Kinder, bei denen Sie merkten, dass Sie an Ihre Grenzen stoßen?
Ja, und zwar an meine emotionalen Grenzen. Solche Momente gab es in den letzten Jahren immer häufiger, erst recht, als meine Töchter älter wurden und die Fragen zunehmend komplexer wurden. Als meine kleine Tochter wissen wollte, ob Putin ihre Adresse habe, musste ich erst mal schlucken, genauso bei der Frage, die ich als Titel meines Buches verwendet habe: „Mama, kommt der Krieg auch zu uns?“ Wenn ich als Journalistin Nachrichten erkläre, ist das etwas völlig Anderes, da kann ich professionelle Distanz wahren.
Wann wurde Ihnen klar, dass sie dieses Buch schreiben wollen?
Das war ein längerer Prozess, aber ich weiß noch genau, was ihn ausgelöst hat. Das war eine Frühstücksfrage meiner älteren Tochter, die völlig aus dem Nichts kam und mich kalt erwischte: „Mama, gibt’s eigentlich was Neues von den Taliban?“ Ab diesem Moment, der einige Jahre zurückliegt, habe ich darüber nachgedacht, mit welchen Fragen sich Kinder beschäftigen. Vielleicht kriegen unsere Töchter als Kinder eines Journalistenpaars mehr mit als andere, aber viele Freunde und Bekannte mit anderem beruflichen Hintergrund haben ebenfalls erlebt, dass ihre Kinder sie ohne jede Vorbereitung mit solchen Fragen konfrontieren. Kinder haben ein Recht auf vernünftige Antworten, daher sollte man sich beizeiten auf solche Gespräche vorbereiten, und deshalb war mir irgendwann klar: Ich muss dieses Buch schreiben.
„Mama, gibt’s eigentlich was Neues von den Taliban?“

Das Weltgeschehen lässt sich nicht ausklammern
Viele Eltern versuchen allerdings, ihre Kinder so lange wie möglich vor den Schattenseiten des Daseins zu beschützen.
Ich habe tatsächlich neben vielen positiven Reaktionen diverse böse E-Mails von Eltern bekommen, die genau dieser Meinung sind. Das hat mich nicht überrascht, denn das ist auch einer der Gründe für dieses Buch. Ich möchte auf nachvollziehbare Weise darüber aufklären, warum es so wichtig ist, dass wir mit unseren Kindern über solche Themen sprechen: Weil es heutzutage gar nicht mehr möglich ist, die negativen Ereignisse des Weltgeschehens auszuklammern. Gerade angesichts unseres digitalisierten Alltags ist es absurd zu glauben, dass Kinder von den Krisen und Kriegen nichts mitbekommen würden. Meistens sind wir Eltern auch gar nicht dabei, wenn sie in der Kita, in der Schule oder bei Freunden und Verwandten mit solchen Themen konfrontiert werden. Oft schnappen sie dabei nur was auf: eine Überschrift, eine Meldung im Radio, einen Gesprächsfetzen. Dann sind wir als Eltern gefordert, ihnen dabei zu helfen, das zu begreifen. Das geht aber nur, wenn wir ihnen erklären, was dahintersteckt.
Wie spricht man mit Kindern, wie es Peter Maffay in seinem Vorwort formuliert, „über Gewalt, Tod und Zerstörung“?
Entscheidend ist erst mal, wie alt das Kind ist, da differenziere ich auch im Buch. Es ist natürlich ein riesiger Unterschied, ob ich mit einem Kita-Kind oder einem jungen Teenager spreche. Von den Psychologen, die ich für das Buch interviewt habe, habe ich gelernt: Kleinere Kinder sollte man zuhause nicht aktiv mit solchen Themen konfrontieren, sondern nur reagieren, wenn die Kinder Fragen haben. Bei Kindern im Grundschulalter kann man nachforschen, ob sie sich damit beschäftigen. Beim Thema Krieg und Flucht könnte man fragen: „Sprecht ihr in der Schule darüber? Gibt es bei euch neue Kinder, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind?“ Teenager haben eine ganz andere Gesprächsgrundlage, sie hören und sehen Nachrichten auf dem Handy, lesen vielleicht sogar Zeitung oder haben in der Schule über die Themen gesprochen.
Sachfragen sind vergleichsweise leicht zu beantworten, aber was ist, wenn man selber Angst hat? Wie kann man Sicherheit vermitteln, wenn man selbst verunsichert ist?
Ich möchte das am Beispiel des Anschlags in Magdeburg erläutern. Die Söhne eines Bekannten wollten danach nicht mehr mit ihm auf den Kölner Weihnachtsmarkt gehen; eine total verständliche Reaktion. Wenn Kinder Angst haben, dass ihnen und ihren Eltern etwas zustoßen könnte, hilft es wenig, wenn man sagt: „Keine Sorge, uns passiert nichts.“ Der Rat einer Kinderpsychologin in meinem Buch lautet: In solchen Fällen helfen Vergleiche, damit die Kinder eine Situation einschätzen können. Man kann sie zum Beispiel fragen: „Kennst du jemanden, der an einer Pilzvergiftung gestorben ist?“ Die Antwort wird mit großer Wahrscheinlichkeit „Nein“ lauten. Und genauso unwahrscheinlich ist es, dass uns etwas auf dem Weihnachtsmarkt zustößt. Trotzdem kann man als Erwachsener ruhig zugeben, dass man selbst verunsichert ist, das spüren die Kinder ohnehin. Man sollte die eigene Angst nicht leugnen, aber zeigen, wie man ihr mit Verstand begegnen kann; und dann trotz allem gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt gehen.
Gerade angesichts unseres digitalisierten Alltags ist es absurd zu glauben, dass Kinder von den Krisen und Kriegen nichts mitbekommen würden.“
Wie erklärt man das Unerklärliche?
Wie verhält man sich, wenn man, wie Sie schreiben, „keine Erklärung für das Unerklärliche“ hat und zum Beispiel nicht beantworten kann, warum sich Menschen gegenseitig Gewalt antun?
Das ist in der Tat eine Frage, die Kinder gerade nach Ereignissen wie in Magdeburg oder zuletzt in Aschaffenburg sehr häufig stellen: „Warum hat der Mensch das gemacht?“ Dann muss ich zugeben, dass das auch für mich selbst unfassbar ist. Es hilft den Kindern, dass sogar die Erwachsenen keine Erklärung für so ein Verhalten haben, denn dann spüren sie, dass sie mit ihrem Unverständnis nicht alleine sind. Von den Psychologen weiß ich, dass man auf die Frage nach dem „Warum?“ am besten reagiert, indem man erklärt: „Es gibt Menschen, die haben nie gelernt, wie man mit ganz starken Gefühlen umgeht. Solche Leute denken: ‚Wenn ich etwas will, dann muss ich das mit Gewalt erreichen.‘“ Für uns Eltern ist es mit dieser Antwort jedoch nicht getan. Wir müssen noch einen Schritt weitergehen und nach der Frage hinter der Frage suchen: Was interessiert mein Kind an diesem Thema? Die Antwort lautet meistens: „Kann mir das auch passieren?“ Und dann helfen Vergleiche.
Auch Erwachsenen gelingt es nicht immer, sachlich zu bleiben, wie Sie am eigenen Beispiel beschreiben, als Sie mit Ihrer Tochter über den Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023 diskutiert haben. Was war passiert?
Sie kam aus der Schule mit der Erkenntnis, die Hamas hätten ja auch einen Grund für ihren Angriff gehabt. Natürlich darf man das Leid der Palästinenser im Gazastreifen niemals ausblenden, aber für mich hörte sich das an wie „selbst schuld, Israel“; und da bin ich, muss ich gestehen, aus der Haut gefahren. Das war natürlich nicht richtig, aber durch die Recherche für mein Buch habe ich gelernt, dass wir als Eltern durchaus die Pflicht haben, bei schwierigen und komplexen Themen Stellung zu beziehen. Ich darf meine persönliche Position verdeutlichen, aber muss sie natürlich begründen können. Außerdem darf ich nicht verschweigen, dass es zu den jeweiligen Themen viele verschiedene Meinungen gibt, denn auch das gehört zu unseren Aufgaben: Kinder sollten so früh wie möglich lernen, dass die Dinge nie nur schwarz oder nur weiß sind. Das klappt aber nur, wenn wir ihnen eine Debattenkultur vorleben, die unterschiedliche Sichtweisen zulässt. Deshalb darf ich meinen Kindern auch nicht vorschreiben, dass sie gefälligst meiner Meinung sein sollen.
In Krisenzeiten finden Jugendliche in den klassischen Medien offenbar zu wenig Halt, daher ist die Gefahr groß, dass sie im Internet danach suchen; und dort stoßen sie dann auf ungefilterte Meldungen und Fake News.“
Auf Augenhöhe
Bis zum Grundschulalter respektieren Kinder den Wissensvorsprung der Eltern, aber spätestens als Teenager beginnen sie, die Haltungen zu hinterfragen, und manchmal beziehen sie allein aus Prinzip eine konträre Position. Wie reagiert man auf radikale Ansichten oder gar illegale Aktionen?
Sobald Aussagen oder Taten strafrechtlich relevant werden, muss ein elterliches Machtwort her. Bei allen anderen Fragen muss ich mit Teenagern auf Augenhöhe diskutieren. Ich halte zwar nichts davon, als Mutter die beste Freundin meiner Töchter sein zu wollen, aber es ist unabdingbar, sie ernst zu nehmen und ruhig und sachlich Argumente auszutauschen. Wenn sie allerdings gewisse Grenzen überschreiten, muss man ihnen die Konsequenzen klarmachen. Aber es geht ja vor allem darum, extremen Entwicklungen vorzubeugen.
Wie gelingt das?
Ich zitiere in meinem Buch Nelson Mandelas Ausspruch „Bildung ist die mächtigste Waffe, die du verwenden kannst, um die Welt zu verändern.“ Diese Waffe brauchen unsere Kinder in der heutigen Zeit, da sich die Frage nach Krieg und Frieden völlig neu stellt, mehr denn je. Zur Bildung gehört natürlich auch und vor allem die politische Bildung: zu Hause, in der Schule, aber auch schon in der Kita.
Sie verweisen in Ihrem Buch auf eine Studie der Universität Bielefeld, laut der drei Viertel der 12- bis 16-Jährigen kein Vertrauen mehr in den Journalismus haben. Hat Sie das überrascht oder sogar schockiert? Und welche Schlussfolgerungen sollten gerade ARD und ZDF daraus ziehen?
Es muss unser Ziel sein, und dafür engagiere ich mich Tag für Tag, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. In Krisenzeiten finden Jugendliche in den klassischen Medien offenbar zu wenig Halt, daher ist die Gefahr groß, dass sie im Internet danach suchen; und dort stoßen sie dann auf ungefilterte Meldungen und Fake News. Deshalb müssen wir auf allen Plattformen vertreten sein, um mit gut recherchierten und weiterführenden Informationen für sie da zu sein. In der Redaktion diskutieren wir ständig darüber, wie wir mit schwierigen Themen umgehen und wie es uns gelingen kann, einen konstruktiven Journalismus zu betreiben, der die Menschen, alte wie junge, nicht nur mit negativen Schlagzeilen konfrontiert, sondern auch konstruktive Lösungsansätze präsentiert.
Abgesehen vom persönlichen Umfeld und der Schule beziehen Jugendliche einen großen Teil ihres Weltwissens aus digitalen Netzwerken. Eltern sind oft selbst davon überfordert, in diesem Wust an Informationen den Überblick zu behalten. Wie wichtig wäre gerade angesichts der Häufung von Fake News ein Schulfach Medienkunde?
Sehr wichtig! Medienkunde gehört zwar zum Bildungsauftrag, aber jedes Bundesland setzt Medienbildung anders um. Ein verpflichtendes Unterrichtsfach an allen weiterführenden Schulen würde ihr den Stellenwert geben, den sie in der heutigen Zeit braucht, auch wenn es eine große Herausforderung für die Lehrkräfte bedeutet. Aber natürlich sind auch wir Eltern gefragt, um unsere Kinder für Fake News zu sensibilisieren. In meinem Buch zeigt ein Experte für Kindermedien Wege auf, wie das gelingen kann, indem man Kinder zum Beispiel selbst falsche Nachrichten schreiben lässt.
Aus Kindern „kleine Optimisten“ machen
Wie schafft man es, wie Sie im Schlusswort appellieren, Kinder zu „kleinen Optimisten“ zu erziehen?
Dieses Anliegen liegt mir sehr am Herzen: Wie kann man seinen Kindern dabei helfen, trotz all der vielen Krisen nicht die Zuversicht zu verlieren? Wie bei allem anderen heißt es auch hier: Wir müssen es ihnen vorleben! Wir Eltern müssen selbst lernen, mit diesen Krisenzeiten umzugehen und Widerstandskraft zu entwickeln; nur dann werden das auch unsere Kinder können. Wenn die Nachrichtenlage wenig Anlass zu Optimismus bietet, ist das Umfeld umso entscheidender. Eltern müssen im Gespräch mit den Kindern unbedingt die schönen Dinge des Lebens betonen. Wenn man die Kinder fragt „Wie war’s in der Schule?“ oder „Wie war dein Tag?“, kriegt man meistens bloß „Gut!“ zu hören. Wir fragen unsere Töchter, was am heutigen Tag ihr „Glitzermoment“ war, und schon bekommt man ganz andere Antworten, über die man dann wieder ins Gespräch kommen kann.
Wie kann es gelingen, solche „Glitzermomente“ in einen Zusammenhang zu großen Themen wie Krieg und Klimakrise zu bringen?
Indem man den Kindern zeigt, dass sie auch im Kleinen ihren Teil dazu beitragen können, die Welt ein bisschen besser zu machen. Sie können zum Beispiel einen Flohmarkt veranstalten und den Erlös an Geflüchtete spenden, sie können Müll sammeln, Politikern schreiben. Es gibt viele Möglichkeiten, den Kindern klarzumachen, dass sie nicht machtlos sind.

Sara Bildau (Jahrgang 1984) arbeitet seit 2006 fürs ZDF und moderiert im „Zweiten“ die heute-Nachrichten. Zuvor hat sie an der Dualen Hochschule in Ravensburg Medien- und Kommunikationswirtschaft studiert. Die gebürtige Gießenerin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Düsseldorf. Das Buch Mama, kommt der Krieg auch zu uns? ist im Münchener Verlag Gräfe und Unzer erschienen. Peter Maffay hat das Vorwort geschrieben.

Sara Bildau (Foto: ZDF/Jana Kay)
Sara Bildau ist Journalistin und Moderatorin.

Tilmann P. Gangloff (Foto: privat)
Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.