Kolumne: Abschied vom Echsenmenschen

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Reptiloide Fantasmen sind unausrottbar: wo fremdes Erbgut jeglicher Unmenschlichkeit zur Erklärung dient.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 60-61

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Erstaunlich ist die Karriere der Echsenmenschen. Oder Reptiloiden, wenn wir uns ein bisschen geschwollener ausdrücken wollen. Woran mag es liegen, dass unter allen Vorstellungen von bösartigen Aliens ausgerechnet diese eine so tief ins kulturelle Gedächtnis der „westlichen Welt“ eingesickert ist? Echsenhafte Außerirdische, die menschliche Gestalt annehmen. Oder menschenähnliche Wesen mit Reptilien-Features. Vor knapp 100 Jahren begannen sie, Pulp-Magazine und fantastische Erzählungen zu bevölkern, breiteten sich dann rasant in Comic, Film und Fernsehen aus und wimmeln heute hemmungslos im Internet und vor allem in den Köpfen von Verschwörungsbegeisterten. Die Echsenmenschen sind aus dem Konspiranoia-Baukasten nicht mehr wegzudenken. Denn anstatt sich mit überlegener Feuerkraft die Erde untertan zu machen, traten sie den beschwerlichen Weg in die Politik an.
 


Doch ehe wir ihnen dorthin folgen, bleiben wir kurz bei der Frage: Was macht die Reptiloiden so reizvoll? Freudianisch lässt sich da gewiss einiges herausholen, zumal die frühen literarischen Erscheinungsformen der Spezies oft als „Schlangenmenschen“ auftraten. Ein zeitgenössischer Abkömmling dieser Unterart, Harry Potters Widersacher Voldemort, hat sogar alle Verkaufsrekorde im Reptiloiden-Segment gebrochen.

Diesseits der Metaphorik des Unbewussten aber vermute ich, dass die Echsen uns faszinieren, weil sie uns einerseits taxonomisch recht fern stehen und wir ihnen andererseits mit zunehmendem Alter immer ähnlicher sehen. Gerade bei betagten weißen Männern bricht sich oft das Reptilienartige Bahn. Wer denkt z. B. beim Anblick von Mick Jagger und Keith Richards nicht an ehrwürdige Krokodile oder unverwüstliche Leguane?

Für weniger erfreuliche Exemplare wird gerne das Bild vom Dinosaurier bemüht. Das ist allerdings ein perfides, aus purem Neid geborenes Bild und sei daher energisch zurückgewiesen. Schließlich dominierten die Dinosaurier den Planeten, den wir Erde nennen, fast 200 Mio. Jahre lang, ohne ihre Lebensgrundlage zu zerstören. Da musste schon mindestens ein Asteroid einschlagen.

Und wie war es damals eigentlich mit den Aliens? Gab es sie noch nicht? Haben sie sich für die Dinosaurier nicht interessiert? Oder tappen wir da nur im Dunkeln, weil die Kontakte in keiner für uns nachvollziehbaren oder bis heute erhaltenen Form aufgezeichnet worden sind? Ach, oder – Stichwort: „Asteroid“ – war die globale Katastrophe an der Kreide-Paläogen-Grenze am Ende das Werk grausamer Außerirdischer? Aber zu welchem Zweck? Einfach, weil sie es konnten?

Womit wir wieder bei der Politik wären. Und beim Krieg, der angeblich ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln ist (seit Putins Überfall auf die Ukraine wird ja ständig Clausewitz zitiert, als könnte das irgendwie weiterhelfen). Stichwort: „Kaltblütigkeit“: zumindest auf sprachmagischer Ebene wohl ein Anzeichen dafür, dass Reptiloide tatsächlich höchste Staatsämter bekleiden.

Und doch ist es dringend an der Zeit, uns das Echsen-Einmaleins abzuschminken. Zumal das Thema dieser mediendiskurs-Ausgabe nicht Mensch/Reptil lautet, sondern Mensch/Maschine. Und weil es hier ja um Medien geht, müssen wir gerade in beklemmenden Zeiten wie diesen auch die Fans alternativer Fakten direkt ansprechen und bei ihrer Ehre packen, falls sie eine haben. Also großes Erwachen, bitte schön: Der Echsenmensch ist eine False-Flag-Kategorie.

Liebe Verschwörungsgemeinde, ihr habt euch die ganze Zeit an der Nase herumführen lassen. Beispielsweise Angela Merkel. Anstatt euch die Kuppen wund zu tippen, ob die Ex‑Kanzlerin von Reptiloiden ferngesteuert oder selbst heimliches Reptil ist, mal Hand aufs Herz: Wer es ihr nach Fukushima oder im September 2015 noch immer nicht abnehmen wollte, musste ihr doch spätestens bei ihrer Musikauswahl zum Großen Zapfenstreich zugestehen, dass sie ein eigenständig handelnder Mensch ist.

Na schön, dann die Merkel halt nicht, mögen einige knirschen. Aber der Verdacht, dass zumindest mächtige weiße Männer in Wahrheit Echsenmenschen sind, bleibe bestehen. Drückte sich nicht Donald Rumsfeld um eine klare Antwort, als ihn anno 2011 ein mittlerweile wegen seiner Neigung zum sexuellen Übergriff aus der Öffentlichkeit verschwundener Comedian mehrmals fragte, ob er und Dick Cheney „Lizard People“ seien? Und wer, wenn nicht ein bösartiger Alien, würde heute noch einen Krieg anfangen?

Antwort auf die zweite Frage (die erste möge in den Tiefen des Raumes verhallen): ein enthemmter Cyborg.

Na, wie hört sich das an? Wenn wir schon eine Referenz aus den Sphären der fantastischen Literatur oder der Science-Fiction brauchen, um geopolitische Sauereien einzuordnen, dann doch besser diese als der Reptilienquark.

Auch beim Cyborg-Bild steht uns, wenn wir wollen, Sigmund Freud zur Seite. Für ihn war – zur gleichen Zeit, als in „Weird Tales“ die ersten Schlangenmenschen auftauchten – der moderne Mensch ein „Prothesengott […], recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt.“ Freud verwies obendrein darauf, „daß diese Entwicklung nicht gerade mit dem Jahr 1930 A. D. abgeschlossen sein wird. Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern.“
 


War es Botox, Cortison oder ein unbekanntes Drittes, das Wladimir Putins Antlitz zur aufgedunsenen Kriegsverbrechervisage erstarren ließ? Hängt die unwahrscheinliche Gesichts- und Haarfarbe oder auch das zwanghaft-faschistoide Blöken eines Donald Trump mit einer verhängnisvollen Schwäche für Wurmkuren zusammen? All dies soll uns herzlich egal sein. Ganz gleich, welchen Massenmörder oder Autokraten-Horrorclown wir uns anschauen, stets wird uns eine Variation des Themas „Allmachtswünsche von Prothesengöttern“ begegnen.

Der Cyborg als Mensch mit Maschinenanteilen konkretisiert sich, wo er an der Macht ist, zum Menschen mit Maschinerie. Sein Wort setzt schweres Gerät in Gang, bis hin zu Vernichtungswaffen. Sein verlängerter Arm ist die Armee. Je mehr er optisch zum Waran oder Alligator auszuhärten scheint, desto größer seine Lust am Potenzial seiner Prothesen. Aber ebenso wenig wie der vermeintliche Echsenmensch ein Reptil ist, ist der Cyborg tatsächlich eine Maschine.

Und nichts an ihm ist außerirdisch. Verbietet kein wacher Verstand das Gespinst von der extraterrestrischen Einmischung, so tut es jedenfalls der Krieg. Noch die tödlichsten Prothesengötter sind ganz von dieser Welt. Und ebenso, wie sie keine Aliens sind, können wir leider auch nicht „Galaktika, vom fernen Stern Andromeda“ (na, wer erkennt die Referenz?) rufen, um uns ihrer zu entledigen. Das müssen wir Menschen schon selbst schaffen.