Kolumne: Anderswelt

Ein Reisebericht aus dem Dunkel der Medienwelt

Hans Demmel

Hans Demmel ist Journalist und Medienmanager. Er war Geschäftsführer des Nachrichtensenders n-tv und Vorstandsvorsitzender des Privatfunkverbandes VAUNET. Er hat als Reporter beim Bayerischen Fernsehen gearbeitet, war Redaktions- und Bereichsleiter bei RTL und Chefredakteur bei VOX. Er lebt in Köln und führt die Produktions- und Beratungsfirma One Stop Medien.

Wo „Fake News“ gesät wurden, ist ein Dschungel aus „Alternativer Medien“ gewachsen. Gedeihlicher Boden für Unzufriedene und Demokratiefeinde.

Printausgabe tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99), S. 46-47

Vollständiger Beitrag als:

 

Die häufigste Frage, die mir nach dem Erscheinen meines Buches Anderswelt gestellt wurde, ist eigentlich ganz einfach: „Würden Sie es noch einmal tun?“ Die Antwort auf diese Frage fällt dagegen schwer, ist zweigeteilt und lautet: „Wenn ich gewusst hätte, was da mit welcher Wucht auf mich zukommt, hätte ich es nicht gemacht. Aber: Nachdem ich dieses halbe Jahr in der Welt der sogenannten alternativen Medien zugebracht habe, ist mir klar, dass dieses Buch gemacht werden musste.“

Mit großer Naivität habe ich mich auf eine Reise begeben, bei der ich nicht einmal vom Schreibtisch aufstehen musste und die dennoch ein besonderes Abenteuer war.

Sechs Monate habe ich mich ausschließlich in sogenannten alternativen Medien rechts der Mitte informiert. Bei allen notwendigen Differenzierungen vom noch bürgerlich scheinenden Rand bei „Tichys Einblick“ bis hin zum unverhohlenen Rechtsradikalismus bei „Compact“ oder offensichtlichem Unsinn bei Ken Jebsens Tiraden: Sie alle unterminieren unser Gemeinwesen. Mit einseitiger Darstellung, verbogenen, reduzierten oder falschen Fakten und einer Themenauswahl, die praktisch ausschließlich dunkel und bedrohlich ist: Politik unfähig, Corona harmlos, Flüchtlinge gefährlich, Deutschland am Ende.

Wie kurz die Wege selbst nach Absurdistan sind, ist schnell zu erfahren. Wer dem audiovisuellen Teil dieser Publikationen – meist auf YouTube – folgt, findet sich innerhalb kurzer Zeit in einem Dschungel aus Fehlinformationen und wilden Theorien wieder.

Es finden sich unter vielen anderen: ein verurteilter Schwerverbrecher, der sich als politischer Analyst verkauft. Ein Filmemacher, der selbst von der AfD ausgeschlossen wurde. Ein Ex-Polizist, der mit einer rosaroten Herzchen-Brille einen Herrn namens Södolf (gemeint ist offensichtlich der bayerische Ministerpräsident) beschimpft, und ein Rentner, der angebliche Fälschungen bei der US-Wahl festgestellt haben will und auf Trumps Truppen hofft. Es finden sich Vorwürfe wie der, die Polizei habe den Sturm auf den Reichstag initiiert, um die Querdenker-Bewegung zu diskreditieren, und der Vorschlag, gegen Corona sei Vitamin D für 50 Cent aus der Apotheke ein wirksames Heilmittel. Nicht alles erreicht ein großes Publikum: So hat der Frankfurter Rentner mit den Wahlfälschungsvorwürfen gerade mal 60 Abrufe erzielt, Ken Jebsens Wutrede gegen die Coronapolitik dagegen mehrere Millionen. Insgesamt steigen Auflagen- und Abrufzahlen dieser Publikationen konstant, der Ton ist aggressiv, was wohl dem Absatz hilft.

Saskia Esken, die Parteivorsitzende der SPD, wird bei „Tichys Einblick“ als „Sektenführerin aus einem dritten Welt-Land“ bezeichnet und die Wahl Armin Laschets zum Parteivorsitzenden in „Compact“ als „Verschwulung der CDU“ – ja, wie soll man dies bezeichnen? – herabgewürdigt, zumindest in der Denkwelt des Autors.

Weiter ist zu lesen, wie der Ex-Kulturchef des „Spiegel“ ehemalige Kollegen niedermacht mit dem Vorwurf – und aus seiner Sicht ist das ein Vorwurf –, 90 % der Journalisten seien linksgrün, was einem Schwachsinnigen-Anteil von 100 % entspräche. Es finden sich 20-jährige Nachwuchsautoren, die dieses Land und seine Politik grundsätzlich infrage stellen, und ein nicht sonderlich professionelles, bewundernd-unterwürfiges Interview, das Beatrix von Storch mit dem weltweit wohl einflussreichsten rechten Publizisten führt: Steve Bannon.

Bannon war es, der 2016 den Wahlkampf von Donald Trump mit der Maßgabe: „the media is the enemy“ befeuert hat. Bannon und Trump haben die Begriffe „fake news“ und „alternative facts“ in konservativen Kreisen salonfähig gemacht und auf den politischen Gegner umgemünzt. Der schmutzige und verlogene Wahlkampf hatte Erfolg, sicher auch, weil er auf die Gefühlslage einer verunsicherten Wählerschaft zielte und deren Wunsch nach anderer Wahrheit, gefühlter, gehoffter Wahrheit erfüllte. Mit nachprüfbaren Fakten hatte dies zwar wenig zu tun, traf aber die Stimmungslage vieler US-Bürger.

Trump und Bannon haben eine Zielgruppe bedient, die auch in Deutschland wächst.

Eine Zielgruppe, die den etablierten Medien, der Politik, der Wissenschaft misstraut. Dieser schleichende Vertrauensverlust, der spätestens mit der Finanzkrise 2008/2009 begann, hat sich durch drei katalytische Wellen massiv verstärkt, den Flüchtlingsherbst mit der Kölner Silvesternacht 2015/2016, die Klimakrise und Corona.
 


So fräst sich demokratiefeindliches Gedankengut langsam, aber wohl auch unaufhaltsam in bürgerliche Schichten.



Es sind die Unzufriedenen in diesem Land, die Fraktion derer, die jahrelang „Merkel muss weg“ skandierten, derer, die Menschen mit dunkler Hautfarbe grundsätzlich für eine Bedrohung halten, derer, die glauben, Politiker seien nur Marionetten dunkler Mächte, wahlweise gesteuert von Bill Gates oder George Soros oder vom „world economic forum“ oder auch von allen dreien und anderen, gerne auch „jüdischen Mächten“ gemeinsam.Diese Unzufriedenen werden in der „Anderswelt“ adressiert und so fräst sich demokratiefeindliches Gedankengut langsam, aber wohl auch unaufhaltsam in bürgerliche Schichten. Die Anderswelt ist dunkel, bietet wenig Hoffnung, aber genau dies trifft Gefühllage und Denken eines beträchtlichen Teils der deutschen Bevölkerung. Unwissen, Unzufriedenheit, Hass, Hetze und Verschwörungstheorien mischen sich in dieser Anderswelt zu einem brandgefährlichen Amalgam.

Laut einer etwa zwei Jahre alten Studie1 ist etwa ein Drittel der Deutschen anfällig für Verschwörungstheorien, 11 % glauben daran. Legt man die Zahl der Wahlberechtigten zugrunde, sind dies etwa 20 Mio. potenziell Gefährdete und mehr als 6 Mio. Verschwörungsgläubige. Alle Daten zu dieser Erhebung stammen aus der Zeit vor Corona und es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie diese Erhebung Ende 2021 aussehen würde.

Zusammenfassend stellt sich die Frage: Gab es je für mich die Gefahr, abzugleiten, dem „Flächenbombardement“ mit alternativen Fakten, mit Hass und Hetze zu erliegen? – Zeitweise ja. Es gab immer wieder Momente, wo mir nur noch meine Erfahrung und mein Urvertrauen in den Anstand und in die Professionalität so vieler Journalistenkollegen geholfen haben. Geholfen hat immer wieder das professionelle Gespür für Plausibilität oder besser Nichtplausibilität für viele der gelesenen Storys, der gesehenen Videos und Interviews.

Wenn Fakten ins Spiel kamen, was bei meiner Recherche selten genug war, waren sie einseitig, selten belegt, aus wenig nachvollziehbaren Quellen, aber häufig auch nicht auf den ersten Blick widerlegbar. Wer eine hohe Affinität zu dieser Denkwelt hat, wer dies glauben will, weil es das eigene Vorurteil, den eigenen Meinungskorridor widerspiegelt, sitzt in der Falle.

Jeder kann sich im Netz seine eigene Wahrheit zusammenlesen – nicht so, wie die Welt ist, sondern so, wie der Einzelne sie gerne hätte. Für ein demokratisches Gemeinwesen ist das Fehlen einer zumindest groben Übereinstimmung über Grundwerte und Grundwahrheiten aber eine existenzielle Bedrohung.

PS: Nur um einem Missverständnis vorzubeugen: Anderswelt ist keine Recherche, kein Text, der die Meinungsfreiheit infrage stellt. Aber: Lüge, Hass, Hetze und Beleidigung haben mit Meinungsfreiheit und Journalismus nichts zu tun. Und sind verboten.
 

Anmerkung:

1) Roose, J.: Conspiracy in Crisis. Representative Surveys on Belief in Conspiracy Theories before and during the Covid-19 Crisis. Berlin 2021 (herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung). Abrufbar unter: www.kas.de (letzter Zugriff: 12.12.2021)