Kolumne: Auf, auf zu neuen Ufern!

Steffen Grimberg

Steffen Grimberg ist Medienjournalist, arbeitet u.a. für die Medienkompetenzplattform MDR Medien 360G und schreibt für „taz“, „kressPro“, „Medienkorrespondenz“und andere Fachmedien.

Steffen Grimberg geht in seiner Kolumne auf den Umgang der privaten und öffentlich-rechtlichen Sender mit gemeinwohlorientierten Inhalten ein. Wie viel Public Value ist gut für Ansehen und Quote?

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 50-51

Vollständiger Beitrag als:

 

Jan Hofer, Linda Zervakis und jetzt auch noch Pinar Atalay. Matthias Opdenhövel ist ja schon weg. Von früheren Abgängen wie Joko und Klaas ganz zu schweigen. Seitdem jemand den Privaten erklärt hat, dass gemeinwohlorientierte, gesellschaftlich wertvolle TV-Relevanz auf Deutsch ganz einfach Public Value heißt, ist bei den Öffentlich-Rechtlichen kein Markenkern mehr sicher. Hofer und Atalay zieht’s zu RTL, Zervakis und Opdenhövel zu ProSiebenSat.1 – selbst das ist ja schon fast ein Proporz wie bei ARD und ZDF.

Denn dank der Coronapandemie ist auch den privaten TV-Sendern wieder eingefallen, dass sie auch irgendwie wichtig sind. Und dass Information gar nicht so wehtut, wie Thomas Ebeling einst bei der Münchner Hälfte des Privatfernsehens glaubte und sie deshalb am liebsten ganz aus dem Programm gestrichen hätte. Also gehen ProSiebenSat.1 wie RTL in die Vollen und überlassen die Grimme-Preis-Nominierungen künftig nicht mehr nur den lieben Kleinen von VOX und Tele 5.

Das erste lange TV-Interview mit Annalena Baerbock, der Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen? Lief schon Mitte April 2021 bei ProSieben, wo sich Baerbock in betont lässiger Atmosphäre von Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke interviewen ließ. Gut – dass die Moderator*innen am Ende die Politikerin beklatschten, sorgte für brancheninterne Häme und Klassenkeile. Aber wenn wir mal ehrlich sind: Bei den Soloauftritten der Kanzlerin bei Anne Will wird zwar nicht applaudiert, jedenfalls, solange noch nicht wieder Publikum dabei ist. Ein bisserl devot geht’s da aber auch schon mal zu.

RTL wiederum nutzte einen vom Binnenklima der ARD verstolperten Ball kongenial und verwandelte ihn schon vor EM-Anpfiff zielsicher. Was war geschehen? Die Klimaschutz-Initiative „KLIMA° vor acht“ hatte von der ARD gefordert, die während der Fußball-EM pausierende freitägliche Sportschau vor acht vor der Tagesschau im Ersten doch durch ein Format namens Klima vor acht zu ersetzen. Fünf Minuten für die Rettung der Welt! Doch die ARD winkte ab. Und RTL griff zu. Moderiert werden soll das Ganze natürlich von Jan Hofer. Da den die meisten Menschen immer noch mit der ARD in Verbindung bringen dürften, bekommen die Klimaretter indirekt so doch noch ihren Willen. Dialektik im dualen System kann so schön sein.
 

KLIMA° vor acht: Deutschland braucht PrimeTime fürs Klima (2021)



Ach so, und ProSieben baut gerade wieder eine eigene Nachrichtenredaktion mit 60 Stellen auf, spätestens 2023 sollen die News dann wieder hausgemacht sein. RTL weitet seine Nachrichten- und Infostrecken ebenfalls beängstigend aus. Ab August verstärkt Pinar Atalay die Reihe bekannter Nachrichtenköpfe und wird mit Chefmoderator Peter Kloeppel u.a. das Kanzler-Triell zur Bundestagswahl bestreiten.

Kann mal jemand den Privaten sagen, dass sie nicht öffentlich-rechtlich sind und es bitte mit dem Public Value nicht übertreiben sollen? Da darf Thilo Mischke mit Dokus zu Themen wie Rechtsradikalismus und Armut in Deutschland zur Primetime bei ProSieben auf den Sender, dass selbst ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler neidisch wird. Und sich wie jüngst in Leipzig in die alte Volksweisheit „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“ flüchtet.

Apropos dumme Sprüche: Statt Sportschau oder Klima erfreut uns die ARD in den vier EM-Wochen jetzt allen Ernstes mit dem Format Sprüche vor acht. Ein Schelm, der dabei an Public Value denkt.

Spätestens seit Joko & Klaas mit siebenstündigen Reportagen über den Pflegenotstand hierzulande punkten (Pflege ist #NichtSelbstverständlich) und überhaupt immer mal wieder Themen wie Gewalt gegen Frauen und die Lage geflüchteter Menschen in Deutschland publikumswirksam ans vor allem jüngere TV-Volk bringen, beschleicht einen diese Ahnung: Annette Kümmel meint es ernst. Oder wie die Chief-Sustainability-Frau der ProSiebenSat.1 Media SE im April in der „FAZ“ zur Reform des dualen Systems schrieb:

Das gemeinsame Ziel aller Beteiligten sollte ein neues, gemeinschaftliches Verständnis der Player in Deutschland sein, die mit ‚trusted content‘, redaktionell geprüften Inhalten, ein verlässliches Gegengewicht zur Desinformation bieten. In diesem Verständnis möchte ich das duale Rundfunksystem in seiner Gesamtheit als Allianz für Inhalte verstanden wissen, mit der wir, die private und öffentlich-rechtliche Säule, unsere gemeinsame Verantwortung für Demokratieförderung und gesellschaftspolitische Themen anerkennen und deutlich machen.“


Da ging in mancher Anstaltsleitung der Puls schon merklich nach oben. Schließlich galt lange für ausgemacht, dass „We love to entertain you“ und Public Value nicht unter einen Hut bzw. in ein Vollprogramm gehen. Es ist den Privaten hoch anzurechnen, dass sie hier nun auch Rücksicht auf die liebe Konkurrenz von ARD und ZDF nehmen. „Wir wollen kein öffentlich-rechtlicher Sender werden“, sagte ProSieben-Content-Chef Henrik Pabst Anfang Juni 2021 bei den Medientagen Mitteldeutschland in Leipzig. Nur wisse eben auch ProSieben, „dass wir aufgrund unserer Reichweite eine gesellschaftliche Verantwortung haben.“

Und die ist bei allen Privaten durchaus noch ausbaufähig. Zwar hat RTL Dieter Bohlen in Rente geschickt und Oliver Pocher darf auch nicht mehr so richtig ran. Aber GNTM hat immer noch kein Foto für Public Value – und was war da neulich bei Plötzlich arm, plötzlich reich los? Public Value meint nämlich auch, Fernsehen als mäßig verkappte Freakshow sein zu lassen.

Diese Erkenntnis ist auch bei den Privaten übrigens schon etwas älter. Und die Motivation dahinter ist längst nicht altruistisch. Schon als RTL-Chef Gerhard Zeiler vor über einem Jahrzehnt beim Medienforum NRW für die kommerziellen Anbieter gesellschaftliche Relevanz reklamierte, standen dahinter knallharte medienpolitische Interessen. Heute brauchen alle Sender im Wettbewerb mit den Streamern und anderen neuen Playern Verbündete. Wenn es um „Must be found“ und andere Privilegien in der digitalen Welt geht, sind die Öffentlich-Rechtlichen automatisch gesetzt. Die Privaten müssen mit mehr Relevanz punkten. Für die Nutzerinnen und Nutzer ist das endlich mal eine Win-win-Situation. Und dass dieser Spagat im dualen System gar nicht so schwer ist, beweist RTL: In seiner Heimat Luxemburg erfüllt der Sender im Staatsauftrag einen „service public“ und ist damit schließlich so gut wie öffentlich-rechtlich.