Kolumne: Eisbären auf der Transsib
Meine Erinnerung an eine Amtsstube ist geprägt von akkurat geputzten Räumen, die jeweils durch einen Holztresen geteilt sind. Hinter dem Tresen Männer in blauen Kitteln und dahinter lange Regalreihen voller Videokassetten und Behälter mit 16-mm-Filmen. So präsentierten sich gern Stadt-, Kreis- und Landesbildstellen, die im analogen Zeitalter das Monopol über jegliche Bildmedien hatten, die im Schulbereich eingesetzt wurden. Der zentrale Wandschmuck in diesen behördlichen Servicestellen bestand vielfach aus dem Schriftzug: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, oft mit dem Zusatz: „Chinesisches Sprichwort“. Angesichts des sonstigen Ambientes wirkte dieses Zitat ausgesprochen modern, zudem verwies die Quellenangabe auf nichts weniger als einen weltphilosophischen Handlungsansatz. Dabei war der Spruch nie anders gedacht, als er hier vordergründig auch benutzt wurde. Nämlich als Werbung. 1921 sollte damit in einer US-amerikanischen Zeitschrift auf Bilder in Werbeaufdrucken für Straßenbahnen hingewiesen werden. 1927 erfand man zur Anzeige den Hinweis hinzu: „Chinesisches Sprichwort“. Um solcherlei Kontext scherte sich in den Bildstellen kaum jemand. Das Zitat passte einfach zu gut zum eigenen Selbstverständnis und außerdem suggerierte die formulierte kernige Behauptung darüber hinaus so etwas wie ein Wahrheitsmonopol. Hatte man das nicht geradezu dadurch gepachtet, dass der üppige Regalinhalt weitgehend von Kultusbehörden zertifiziert war?
In diesem Umfeld hatte ich im Namen eines Filmverleihs versucht, Interesse für den Erwerb von künstlerisch intendierten Spiel- und Kurzfilmen zu wecken. Das war nicht leicht, denn bei dem, was ich bot, hatte man es plötzlich mit konkurrierenden Bildaussagen zu tun. Ähnlich wie bei Worten war wieder vergleichende Interpretation gefragt. Seit Gründungszeiten tendierte man in Bildstellen aber eher zu eindeutigen Aussagen. Ziemlich hilfreich für mein Anliegen erwies sich angesichts dessen ein Text aus meiner Tucholsky-Ausgabe. Der Dichter war 1926 im Gewand von Peter Panter ebenfalls von der semantischen Möglichkeit der Bilder angetan. Allerdings sah er die Sache etwas komplexer: „Und weil ein Bild mehr sagt als hunderttausend Worte, so weiß jeder Propagandist die Wirkung des Tendenzbildes zu schätzen.“ „Tendenzbild“ – das weckte sogar bei manchem Blaukittel nachdenkliches Interesse.
An Tucholskys Worte musste ich jüngst wieder denken, als wir als Dorfverein den Nachlass des verstorbenen Ortschronisten übernommen haben. Hinsichtlich der dabei ererbten Fotosammlung aus den Jahren 1945 bis 1989 überkamen nicht nur mich, den Zugezogenen, gewisse Zweifel, ob damit auch nur annähernd ein authentisches Entwicklungsbild des Dorfes dokumentiert werden kann. Immer nur fröhliche Menschen bei der Arbeit und beim Feiern. LPG-Gründung, Umzüge zum 1. Mai, der Bau von Wohnhäusern und Stallgebäuden. Eröffnung von Schule, Kindergarten und Landwarenhaus. Alles hat es wie abgebildet gegeben – und doch passt es nur bedingt zu dem, was am Gartenzaun von früherem Leben erzählt wird und was an realen Spuren über die dargestellten Objekte hinaus auch noch zu finden ist.
Kürzlich habe ich im sibirischen Nowosibirsk eine Fotoausstellung über die sowjetische Arbeitswelt gesehen. Frauen schinden beim Gleisbau, erschöpfte Stahlarbeiter ruhen am Pausentisch und einsame Traktoren ziehen auf riesigen Staubfeldern ihre Bahnen. Müde Menschen in überfüllten Nahverkehrszügen und lange Schlangen vor dürftig ausgestatteten Ladengeschäften. Der Fotograf gehörte offenbar nicht zu den arrivierten Propagandisten des sozialistischen Aufbaus. Anders der Schöpfer unseres dörflichen Bildfundus. Er war ein „Volkskorrespondent“ der hiesigen Lokalzeitung und so quasi von Amts wegen zu einer optimistischen Tendenz beim Ausrichten der Linse seines Fotoapparats angehalten. Wir hoffen jetzt auf das eine oder andere private Fotoalbum, um die Bildchronik unserer Gemeinde in eine ausgewogene Balance bringen zu können
Wenn heute jemand erzählt, er werde seinen Urlaub auf den Seychellen, den Malediven oder am Kilimandscharo verbringen, so findet er wohlwollende Anerkennung und niemand wundert sich über solche Reisekoordinaten. Anders ging es mir, als ich erzählte, dass ich nach Nowosibirsk fahre. Bewunderung und Erschrecken hielten sich die Waage. Ein kluger Freund sprach gar die Hoffnung aus, dass ich dort nicht von Eisbären gefressen werde. In Nowosibirsk gibt es zwar schon im November Frost und Schnee, doch eines der Naherholungsgebiete der Einwohner der Stadt, die nach dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn (Transsib) zur drittgrößten in Russland geworden war, ist das 800 Kilometer entfernte Altai-Gebirge. Das liegt an der mongolischen Grenze und somit sehr offensichtlich weit vom nördlichen Polarmeer entfernt. Ich war in der Hauptstadt Sibiriens auf Einladung des Goethe-Instituts, um deutsche Filme vorzustellen und für Lehrer einen medienpädagogischen Workshop durchzuführen. Bei allen Veranstaltungen traf ich auf kluge und ausgesprochen interessierte Teilnehmer. Die Stadt selbst hat mich überrascht wegen ihrer wahrnehmbar gelungenen Symbiose zwischen russisch-sowjetischer Tradition und westlicher Postmoderne. Im Zentrum sind die Bauwerke des Sozialistischen Klassizismus durchbrochen und überbaut von Hochhäusern und Glaspalästen, die Ausfallstraßen sind gesäumt von riesigen Einkaufszentren. Am Ufer des Ob verschwinden die alten Waffenschmieden des Zweiten Weltkrieges zugunsten moderner Wohnviertel. Die wenigen verbliebenen Holzhäuser aus der Zarenzeit sind aufwendig restauriert und beherbergen teure Boutiquen und Edellokale, wie sie auch in den Zentren deutscher Großstädte zu finden sind.
Ich schätze noch die Kultur der Ansichtskarte. Diesbezüglich stand ich in Sibirien vor einem Problem, weil in Russland inzwischen die Kommunikation noch weitaus konsequenter als hierzulande über Social-Media-Kanäle abgewickelt wird. Kioske führen dort alles Mögliche, nur kein bunt bedrucktes Papier, das man mit handschriftlichen Botschaften anreichern kann. Die Buchhandlung „Kapital“ machte schließlich ihrem nostalgischen Namen alle Ehre, indem sie noch einen Kartensatz vorrätig hatte. In der Zentralpost gab es dazu dann sogar passende Briefmarken. Alle Empfänger in Deutschland waren verblüfft über die Stadtansichten, die ich ihnen habe zukommen lassen. Warum wissen wir so wenig von Russland, obwohl doch jeder diesbezüglich eine ziemlich eindeutige Meinung hat? Noch problematischer als „Tendenzbilder“ scheinen ganz offensichtlich gar keine Bilder zu sein.
In unserer Dorfchronik wollen wir die sich oft widersprechenden Motive nebeneinander stellen. Jeder soll die Chance haben, sich als Selbstdenker eine eigene Meinung zu bilden. Das ist dem Dorffrieden zuträglich und niemand muss sich ähnlich wie Christian Morgensterns Palmström wundern: „[…] Weil‘, so schließt er messerscharf, ‚nicht sein kann, was nicht sein darf.‘“