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Kolumne: Hauptsache leicht verdaulich

David Assmann

David Assmann ist freier Filmkritiker, Filmemacher und Filmwissenschaftler. Er ist Mitglied des Auswahlgremiums von Berlinale Generation, der Jury für den Kinder & Jugend Grimme­ Preis und seit 2018 Prüfer bei der Frei­willigen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Anfang des Jahrtausends kam im deutschen Mediendiskurs ein Begriff auf, der viel über die Zeit, über die Medien und über den damaligen Diskurs aussagt: Histotainment. Dem Begriff mangelt es allerdings nicht nur an sprachlicher Eleganz, sondern vor allem an Trennschärfe. Er avancierte daher zum abwertenden Kampfbegriff, der sich im Diskurs als wenig hilfreich erwies und weitgehend wieder verschwunden ist. Das von ihm bezeichnete Problem ist allerdings relevanter denn je.

Printausgabe mediendiskurs: 29. Jg., 1/2025 (Ausgabe 111), S. 48-50

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In den Jahren nach der Jahrtausendwende war das gesellschaftliche Interesse an Geschichte, insbesondere der des 20. Jahrhunderts, enorm. Autobiografien von Marcel Reich-Ranicki und Sebastian Haffner führten um die Jahrtausendwende herum die Sachbuch-Charts an. Im Fernsehen hatte sich der Anteil der Geschichtssendungen zwischen 1993 und 2003 nahezu verdoppelt. Der Historiker Guido Knopp und seine ZDF-Redaktion Zeitgeschichte waren zu einer weltbekannten Marke geworden, deren warmgelaufene Produktionsmaschine seit Mitte der 1990er-Jahre alle paar Monate eine neue NS-Dokumentation auf die Bildschirme brachte: Hitlers Helfer, Hitlers Krieger, Hitlers Kinder usw. usf. Auch im Kino war Hitler präsent, als Hauptrolle in den deutschen Produktionen Der Untergang (2004) und Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (2007), als Nebenrolle in den Hollywoodfilmen Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat (2008) und Inglourious Basterds (2009). Neue Medien wie Computerspiele, das Internet, CD-ROMs und DVDs brachten auch neue Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hervor. Und das Fernsehen kombinierte Geschichtsthemen vermehrt mit Elementen aus anderen beliebten Gattungen wie Soaps, Gameshows und dem boomenden Reality-TV.

Insbesondere an letzterem zeigt sich, dass es sich bei solchen hybriden Historyformaten für die Sender um eine Win-win-Situation handelte. Der geschichtliche Zugang von Schwarzwaldhaus 1902, einer vierteiligen ARD-Serie aus dem Jahr 2002, bot dem öffentlich-rechtlichen Sender die Möglichkeit, am erfolgreichen Big Brother-Konzept der ungeskripteten 24-Stunden-Aufzeichnung zu partizipieren und dabei zugleich seinem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Für drei Monate tauschte eine fünfköpfige Familie aus Berlin-Lichterfelde die Existenz als Werkstoffwissenschaftler, Heilpraktikerin und Schulkinder gegen die spartanischen Bedingungen einer Schwarzwälder Bauernfamilie von vor hundert Jahren, inklusive Viehzucht und Ackerbau, Kraut- und Knollenfäule, Leistenbruch und Blutvergiftung. Das Ergebnis war nicht nur ein Quotenhit, sondern überzeugte auch die Kritik und wurde mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet: Hier werde „Geschichte ‚von unten‘“ präsentiert, lobte die Jury: „Selten gelang die Vermittlung von Alltagskultur auf derart perfektem und zudem unterhaltsamem Niveau.“

 

Schwarzwaldhaus 1902 | Ausschnitt aus „Sorge um Ismail: Die Zeitreise steht auf der Kippe“ (Deutsche Fernsehgeschichte , 21.02.2020)



Da haben wir sie also, die Verbindung von Geschichte und Unterhaltung, die der sperrige Begriff „Histotainment“ sprachlich nachahmt. Das Kofferwort aus „History“ und „Entertainment“ ist eine Analogiebildung zu „Infotainment“, das der Medienwissenschaftler Neil Postman 1985 in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie eingeführt hat. Indem das Fernsehen jegliche Inhalte als Unterhaltung präsentiere, so Postman, schwäche es das Urteilsvermögen des Publikums. Die Verquickung mit Unterhaltung verwandle Information in Desinformation: „Desinformation ist nicht dasselbe wie Falschinformation. Desinformation bedeutet irreführende Information – unangebrachte, irrelevante, bruchstückhafte oder oberflächliche Information –, Information, die vortäuscht, man wisse etwas, während sie einen in Wirklichkeit vom Wissen weglockt. […] Unwissenheit lässt sich allemal beheben. Aber was sollen wir tun, wenn wir die Unwissenheit für Wissen halten?“ (Postman 1985, S. 133 f.) Postmans pessimistische Positionen haben ihm den Beinamen „Kultur-Kassandra“ eingebracht, aber mit 40 Jahren Abstand lässt sich kaum behaupten, dass seine Befürchtungen gänzlich unbegründet waren.

So sehr sich die Begriffe „Infotainment“ und „Histotainment“ in sprachlicher Bauart und kulturpessimistischer Stoßrichtung ähneln, unterscheiden sie sich doch in zwei zentralen Punkten. Zum einen hat „Histotainment“ keinen verbürgten Urheber, der den Begriff durch Definition und Thesen schärfen könnte. Konsens scheint lediglich darüber zu bestehen, dass das Zusammentreffen von Geschichte und Unterhaltung im Falle von Histotainment keine fruchtbare Verbindung im Sinne eines „best of both worlds“ ergibt, sondern eher einen faulen Kompromiss, bei dem die Unterhaltung der Geschichte übermäßige Zugeständnisse abverlangt. Dabei kann es um konkrete Praktiken gehen wie ungekennzeichnete Re­enactments, die die Authentizität des Archivmaterials kontaminieren. Oder ganz allgemein um einen unwissenschaftlichen Zugang, bei dem es weniger um Nachdenken als um Nacherleben und Nachfühlen geht. Um unterkomplexe „Event-Movies“, die historische Fakten nach Belieben verzerren, bis sie in ihr formelhaftes Narrativ passen. Oder um den Einsatz von Geschichte als oberflächliches Temporalkolorit, ohne nennenswerten Sachverstand und Erkenntnisgewinn.

Ein weiteres problematisches Merkmal von Histotainment zeigt sich auch in der Tendenz mancher NS-Dokumentationen, dem Publikum trotz aller Gräuel und Schrecken ein Gefühl von Entlastung zu vermitteln. Beispielhaft dafür ist der ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter (2013), der es fertigbrachte, dass keine einzige der titelgebenden Hauptfiguren ideologisch überzeugter Nazi war. Als Antisemiten tun sich lediglich die polnischen Partisanen hervor. Gemessen am anmaßenden Geltungsanspruch des Titels scheint die Botschaft des Films zu lauten: Die Nazis, das waren die anderen. Die Trilogie ist damit „eine Offenbarung für alle, die schon immer wussten, dass nicht nur die Juden, sondern auch und vor allem die Deutschen Hitler zum Opfer fielen“, befand die „Jüdische Allgemeine“ in ihrer Rezension (Pyka 2013).
 


Ein weiteres problematisches Merkmal von Histotainment zeigt sich auch in der Tendenz mancher NS-Dokumentationen, dem Publikum trotz aller Gräuel und Schrecken ein Gefühl von Entlastung zu vermitteln.“



Darin besteht übrigens der zweite zentrale Unterschied zum „Infotainment“: dass „Histotainment“ nur im deutschen Sprachraum ein diskursprägender Begriff ist. Das mag daran liegen, dass das Ringen um Deutungshoheit und der Kampf gegen das Beschönigen oder Vergessen in der hiesigen Geschichtswissenschaft eine noch existenziellere Rolle spielt als anderswo. Jede Reduktion der Komplexität löst da reflexhaft Widerstand aus, wobei übersehen wird, dass die Vermittlung von Geschichte außerhalb historischer Fachbücher zwangsläufig mit gewissen Abstrichen an wissenschaftlichem Anspruch einhergeht. Der britische Historiker Tristram Hunt stellt treffend fest, die pauschale Ablehnung, die viele seiner Kollegen Geschichtssendungen entgegenbringen, verweise letztlich auf den Kern ihrer Kritik am Fernsehen: „its failure to be a book“ (Hunt 2004, S. 90). Viel zu kurz kommt dabei, wie die Historik umgekehrt vom Fernsehen profitieren kann: „Aufklärung braucht Reichweite“, lautet nicht umsonst der Leitspruch von Guido Knopp. Selbstverständlich darf der Zweck nicht alle Mittel heiligen und die Reichweite nicht auf Kosten der Aufklärung gehen. Doch in Zeiten, in denen sich Menschen auf Demonstrationen massenhaft Judensterne an die Brust heften, weil sie mit Entscheidungen der Regierung nicht einverstanden sind, und in denen eine Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2025 die Behauptung aufstellen kann, Hitler sei Kommunist gewesen, ohne dass ihr das bei der Wahl spürbar schadet, in solchen Zeiten ist breitenwirksame Geschichtsvermittlung ohne Frage wichtiger denn je.

Und so präzise und verbindlich Fachbücher als Quellen auch sein mögen, haben ihnen die audiovisuellen Medien doch auch einiges voraus. Wenn Peter Jackson in seinem Dokumentarfilm They Shall Not Grow Old (2018) hundert Jahre altes Archivmaterial nachkoloriert und mit Ton unterlegt, wenn Sam Mendes in seinem Spielfilm 1917 (2019) einen Soldaten in Echtzeit und ohne sichtbare Schnitte begleitet, dann erzeugen diese Filme eine Unmittelbarkeit und immersive Wucht, die kein Buch über den Ersten Weltkrieg erreichen könnte. Diese Macht der Bilder, der künstlerischen und technischen Brillanz sind unverzichtbare Werkzeuge bei der Aufgabe, ein breites Publikum an historische Themen heranzuführen.

Es ist ein gutes Zeichen, dass die Präsenz des Begriffs „Histotainment“ in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen hat und er mittlerweile aus dem Diskurs weitgehend verschwunden ist. Der lapidare Satz „Für diese Dokumentation wurde mit Re­enactments gearbeitet“ im Abspann der MDR-Produktion Wie Tina Turner nach Niedertrebra kam. Amateurbands in der DDR (2023) räumt beiläufig ab, was beim themenverwandten Film This Ain’t California (2012) noch zu einer heftigen Kontroverse geführt hatte. Wir sind inzwischen bereit, überzogene Vorstellungen von einem dokumentarischen Reinheitsgebot abzulegen und einen weiteren Begriff von Geschichtsvermittlung zu akzeptieren, der auch die Dimensionen der Erfahrung und Emotion in sich aufnehmen kann.
 

Literatur:

Hunt, T.: How Does Television Enhance History? In: D. Cannadine (Hrsg.): History and the Media. Houndsmills u. a. 2004, S. 88–102

Postman, N.: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main 1985

Pyka, J. N.: Einspruch: Opferneid als Dreiteiler. In: Jüdische Allgemeine, 19.03.2013. Abrufbar unter: https://www.juedische-allgemeine.de