Kolumne: Introvertiert unter Extravertierten

David Assmann

David Assmann ist freier Filmkritiker, Filmemacher und Filmwissenschaftler. Er ist Mitglied des Auswahlgremiums von Berlinale Generation, der Jury für den Kinder & Jugend Grimme­ Preis und seit 2018 Prüfer bei der Frei­willigen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

„Die Pandemie hatte das Thema ‚Einsamkeit‘ auf die politische Agenda gesetzt, aber allmählich wird deutlich, dass ihre problematischsten Ausprägungen aktuell womöglich ganz woanders lauern, als im Nachgang von Corona erwartet.“

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 3/2024 (Ausgabe 109), S. 52-53

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Es ist erst ein paar Jahre her, da sorgte die Nachricht, dass in Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen worden sei, allenthalben für Verblüffung. Bis dahin war Einsamkeit vor allem als Thema für die Kunst betrachtet worden, als individuelles Problem und als Fall für die Psychotherapie, aber kaum als Aufgabe der Politik. Als zwei Jahre später die Coronapandemie ausbrach, avancierte das Sozialverhalten der Bevölkerung plötzlich zum Kernbereich politischer Entscheidungen und wurde von A wie „Abstandhalten“ bis Z wie „Zuhausebleiben“ durchreguliert. Senioren mussten auf den Besuch ihrer Familien verzichten, Kinder und Jugendliche ohne den täglichen Austausch mit Gleichaltrigen auskommen, Geburtstage fanden ohne Gäste, Fußballspiele ohne Fans, das Abitur ohne Abifeier statt.
 


Der Anteil derer, die unter Einsamkeit litten, vervierfachte sich und stieg insbesondere unter jungen Menschen drastisch an, die Anzahl der Suizidversuche unter Jugendlichen nahm um das Dreifache zu.“



Es war eine Phase der außergewöhnlichen Belastungen und Entbehrungen, ein beispielloser globaler Feldversuch, dessen Folgen auf die psychische Gesundheit der Menschen in etlichen Studien beobachtet und untersucht wurden. Schließlich galt es ja nicht nur, die Wirksamkeit der Maßnahmen zu erfassen, sondern auch permanent ihre Verhältnismäßigkeit abzuwägen. Die Konsequenzen der Lockdowns und Kontaktbeschränkungen waren gravierend: Zur akuten Angst vor einer potenziell tödlichen Krankheit kamen Sorgen um den Arbeitsplatz und den Kollaps der Wirtschaft, Überforderung mit Kinderbetreuung und Homeschooling sowie die Entfremdung und der Verlust von Freundschaften aufgrund der zunehmend polarisierten Debatte über den Umgang der Politik mit der Pandemie. Wer allein war, litt unter Isolation; wer nicht allein war, unter Lagerkoller. Der Anteil derer, die unter Einsamkeit litten, vervierfachte sich und stieg insbesondere unter jungen Menschen drastisch an, die Anzahl der Suizidversuche unter Jugendlichen nahm um das Dreifache zu.

Doch die Untersuchungen brachten auch etwas Erstaunliches zutage: Rund ein Fünftel der Befragten gab an, zufriedener, ausgeglichener und glücklicher zu sein als vor der Pandemie. Für sie war der erzwungene Rückgang sozialer Interaktion mit einem Gefühl der Erleichterung verbunden. Menschen, die vor Corona ständig unter dem gefühlten Druck gestanden hatten, den Schein zu wahren, Produktivität zu demonstrieren und sich bei jeder Veranstaltung sehen zu lassen, fühlten sich von ihrem inneren Leistungszwang befreit. Viele jüngere Leute gaben an, weniger Angst zu haben, etwas zu verpassen. Sie konnten sich mehr auf ihr eigenes Glück konzentrieren und ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. Und das alles ohne das übliche Stigma eines unsozialen Lebensstils.
 


Keine Frage, Corona war die Stunde der Introvertierten. Die sozialen Medien barsten vor Memes, die veranschaulichten, wie es ist, als introvertierte Person in einer extravertierten Welt zu leben. Vielen Menschen wurde dadurch erst bewusst, wie sehr die Gesellschaft seit jeher jene begünstigt, die sich souverän in ihr zu bewegen vermögen. Wer gut mit Leuten kann und unterhaltsam ist, bringt es im Leben leichter zu etwas als jemand, der seine Menschenscheu mit Kompetenz kompensieren muss. Oder umgekehrt: Mit außerordentlichem Fleiß, Talent und Intellekt können auch Einzelgänger und Eigenbrötlerinnen Erfolg und Anerkennung erringen, aber ein gewinnendes Wesen und nützliche Kontakte öffnen zahlreiche Türen auch denjenigen, die nicht unter Genieverdacht stehen.

Schon in der Schule wird belohnt, wer gesellig, belastbar und kommunikationsbegabt ist. Um mitzuhalten und nicht als Mauerblümchen marginalisiert zu werden, bleibt Introvertierten nichts anderes übrig, als sich an die Erfordernisse der extravertierten Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Und da die Introversion nach C. G. Jung zu den unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen zählt, wird das ständige Adaptieren zu einer lebenslangen Aufgabe. Auf Dauer wirkt dieser Anpassungszwang ermüdend auf Körper und Geist – was wiederum die erhöhte Anfälligkeit Introvertierter für Erkrankungen wie Burn-out mit sich bringt. Die Lockdowns während der Coronapandemie boten Introvertierten eine willkommene Atempause, aber allmählich verbessert hatte sich ihre Situation bereits seit den 1980er-Jahren, als das Computerzeitalter die Privathaushalte erreichte. War „Nerd“ bis dahin ein abwertender Begriff gewesen, der die soziale Unzulänglichkeit und das vermeintlich nutzlose Spezialwissen einer Person hervorhob, waren nun plötzlich einige der (erfolg‑)reichsten Menschen der Welt Nerds. Die schleichende Revolution vollzieht sich seitdem parallel an zwei Fronten: auf dem Arbeitsmarkt, wo Computernerds anhaltend gefragt sind, und auf der Anwendungsebene, wo Introvertierten die technische Entwicklung in besonderem Maße zugutekommt. Reale Begegnungen werden von virtuellen Kontakten abgelöst, E‑Mails ersetzen Telefonate, in Internetforen können sich Gleichgesinnte noch über das abgelegenste Spezialwissen austauschen.
 


Keine Frage, Corona war die Stunde der Introvertierten.“



Eine Generation später steht bei fast allen Menschen das Smartphone im Zentrum ihrer Kommunikation. Handy-Apps sind dafür populär, dass sie effizient und bequem sind, aber für Introvertierte sind sie vor allem Tools zur Umgehung oder Minimierung ihrer sozialen Phobien. Sie können per Liefer-Apps Essen bestellen, ohne wie zuvor ein Restaurant anrufen zu müssen, bleiben über Social Media mit ihrem Freundeskreis in Verbindung und werden von Dating-Apps idealerweise direkt zum „perfect match“ geführt. Computer und Smartphone ermöglichen Introvertierten mehr gesellschaftliche Teilhabe, als es alle Anti-Einsamkeits-Programme der Politik jemals könnten.

Allerdings bergen sie auch das Risiko, einsiedlerische Tendenzen noch zu verstärken und jeglichen Außenkontakt auf den Bildschirm des Smartphones zu konzentrieren. Im schlimmsten Fall entstehen Phänomene wie die Hikikomori in Japan: geschätzte 1 bis 2. Mio. Menschen, meist jung und überwiegend männlich, die aus Überforderung vor den gesellschaftlichen Erwartungen monate- bis jahrelang die Wohnung nicht mehr verlassen oder erst gar nicht ihrem Kinderzimmer entwachsen sind. Die selbst gewählte Einsamkeit wird für sie zu einer Falle und die Technik, indem sie das lebensnotwendige Mindestmaß an Gesellschaftsbezug und Unterhaltung liefert, zum fatalen Enabler.
 


Wo Einsamkeit auf toxische Männlichkeit und Ressentiments trifft, gerät die Demokratie in Gefahr.“



Gewissermaßen am entgegengesetzten Ende des Einsamkeitsspektrums von den Hikikomori, die sich freiwillig, aber unverschuldet in Isolation begeben, liegt die aus den USA stammende, aber auch hierzulande wachsende Gruppe der Incels (kurz für „involuntary celibate“). Ihre toxische Einsamkeit ist unfreiwillig, aber selbst verschuldet: In Ermangelung an Frauen, die sich auf ihr rückständiges Rollenbild einlassen, fristen sie ein von Misogynie und Selbstmitleid geprägtes Singledasein. Damit sind sie so etwas wie eine verkörperte Bekräftigung der Devise: Wer ficken will, muss freundlich sein. Incels sind der augenfälligste Extremfall einer Neuen Rechten, die sich in Fragen der Romantik und Partnerschaft chronisch schwerzutun scheint. Laut einer Befragung, die der Psychologe Guido Gebauer unter Mitgliedern der Datingplattform Gleichklang durchführte, erklärten AfD-Wähler signifikant häufiger, dass sie in der Liebe „verarscht“ worden und über ihr Liebesleben verbittert seien, dass das ganze Gerede von der Liebe eine Lüge sei und es die echte Liebe gar nicht gebe.

Dass seine Partei und Wählerschaft nicht unbedingt als Vorbild für ein gelingendes Liebesleben taugt, hielt den AfD-Spitzenpolitiker Maximilian Krah nicht davon ab, im Sommer 2023 ein TikTok-Video mit Ratschlägen für männliche Singles aufzunehmen. „Schau keine Pornos. Wähl nicht die Grünen. Geh raus an die frische Luft“, trägt Krah im Stakkato-Ton vor, „und vor allem, lass dir nicht einreden, dass du lieb, soft und schwach und links zu sein hast. Echte Männer sind rechts.“ Ob Krah, der acht Kinder von drei Frauen hat, ein geeigneter Ratgeber in Beziehungsfragen ist, mag Ansichtssache sein, dem Erfolg seines Clips tut es keinen Abbruch. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Krah durch seine reichweitenstarken TikTok-Videos ein Begriff; das Video mit den Datingtipps ist mit weitem Abstand sein meistgesehenes.

So lächerlich Krahs Onlinemonologe auch erscheinen mögen, verfehlen sie doch nicht ihre beabsichtigte Wirkung. Die zunehmende Popularität der AfD unter jungen Menschen wird nicht zuletzt auf ihre Dominanz auf Social Media, insbesondere TikTok, zurückgeführt. Die Pandemie hatte das Thema „Einsamkeit“ auf die politische Agenda gesetzt, aber allmählich wird deutlich, dass ihre problematischsten Ausprägungen aktuell womöglich ganz woanders lauern, als im Nachgang von Corona erwartet. Wo Einsamkeit auf toxische Männlichkeit und Ressentiments trifft, gerät die Demokratie in Gefahr. Mehr noch als ein sozialpolitisches Programm gegen Einsamkeit sind hier wirksame Maßnahmen der medienpädagogischen und vor allem politischen Bildung gefragt, um einen nachhaltigen Rechtsruck der Jugend zu verhindern.