Kolumne: KI prägt die Kultur von morgen

Holger Volland

Holger Volland ist Vice President der Frankfurter Buchmesse und Gründer des digitalen Kulturfestivals THE ARTS+.

Künstliche Intelligenz hilft Schülerinnen und Schülern beim Lernen und Internet-Stars bei der optimierten Selbstdarstellung. Über Algorithmen zwischen Redundanz und Konformitätsdruck.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 4/2019 (Ausgabe 90), S. 62-63

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Vor einigen Monaten besuchte ich in Korea Verlage. Üblicherweise residieren sie dort in anonymen Großraumbüros, die Tische sind voller Papiere, Bücherstapel überall, an den Wänden Regale voller gedruckter Werke. Am Tag meiner Abreise wollte ich noch eine neue Verlagsgruppe ansehen. Als ich dort ankam, stand ich vor einem riesigen Glaspalast. In der Eingangshalle parkte ein Rennwagen der Firma Hyundai. Gläserne Aufzüge fuhren zwischen den 15 Stockwerken hinauf und hinunter. Im Vorraum standen Skateboards für die Mitarbeiter, es lief leise Popmusik, um über das Nachmittagstief hinwegzuhelfen. Dieser Verlag schien anders zu sein.

Im Gespräch mit dem Geschäftsführer erfuhr ich dann auch, weshalb. Der Bildungsverlag ST Unitas hat sich auf Prüfungsvorbereitung spezialisiert. Die koreanischen Mütter sind als Tigermütter dafür bekannt, ihre Kinder täglich 14 oder mehr Stunden lernen zu lassen, damit sie eine Chance in der kompetitiven Berufswelt bekommen. Der Verlag hilft Lernenden dabei, die besten Startchancen in diesem System zu bekommen. Der Geschäftsführer erklärte mir das Geschäftsmodell der Verlagsgruppe: In fast 100 Fachgebieten entwickelt der Verlag algorithmische Vorhersagen darüber, welche Fragen in den kommenden Prüfungen auftauchen werden. Die Schüler bezahlen dafür, ihre wahrscheinlichen Prüfungsfragen vorab kennenzulernen. Außerdem bezahlen sie dafür, diese Prüfungen gleich im System üben zu können und eine detaillierte Auswertung ihrer persönlichen Schwächen zu erhalten. Diese Auswertungen werden selbstverständlich mittels Maschinenlernen erzeugt. Als drittes und traditionellstes Geschäftsmodell bietet der Verlag personalisierte Lerninhalte an, mit denen gezielt die persönlichen Schwächen ausgemerzt werden können. So bringt es der Verlag auf über 1.200 Mitarbeiter, von denen mehr als die Hälfte Programmierer sind.

Alle Angebote von ST Unitas basieren auf verschiedenen Technologien der künstlichen Intelligenz (KI). Künstliche Intelligenz zeigt sich hier als systemische Kraft, die in Analyse, Vorhersage und Personalisierung medialer Inhalte bereits weitaus mehr vermag, als dies Menschen könnten.

Der Einsatz von KI im Rahmen kreativer Prozesse und Projekte, insbesondere zur Erstellung und Bewertung medialer Inhalte, ruft derzeit weithin Diskussionen hervor. Schließlich galt die Kreativität immer als exklusive Domäne des menschlichen Geistes und als Zeichen unserer kulturellen Eigenständigkeit. Maschinen, die Musik komponieren, Bilder malen, Filme analysieren oder Romane schreiben, verursachen deshalb regelmäßige, polarisierende Debatten, denn genau diese Kultur wird durch Technologie auch verändert.

Basis unserer Kultur ist die Kreativität, also unsere ausgebildete Fähigkeit, etwas Originelles zu erschaffen, das gleichzeitig einen Nutzen mit sich bringt. Zu den Fähigkeiten, die mit Kreativität unbedingt einhergehen, zählen wir Problembewusstsein, Ideenreichtum, Flexibilität im Denken, Improvisation, Anpassung einer Lösung an die Realität und Unverwechselbarkeit einer Idee. All dies üben wir ab dem Kindergarten ein, um später umfangreiche Probleme lösen zu können. Es sind diese Fähigkeiten, die uns Menschen in die Lage versetzen, Kunst, Wissenschaft, Bildung, Musik, Filme, Bücher oder Fotografien zu schaffen, die andere Menschen berühren, informieren oder zur Diskussion anregen.
 

Algorithmen prägen die Kultur

Und dennoch nimmt uns intelligente Software immer mehr kreative Aufgaben ab. Kreativität ist ein riesiger Markt in der App-Ökonomie und es gibt Millionen Programme für so ziemlich jede künstlerische und kreative Richtung. Doch zahlen wir einen Preis. Denn wahrscheinlichkeitsbasierte Entscheidungen algorithmischer Systeme tendieren zur Einförmigkeit. Das beste Beispiel dafür sind Selbstporträts auf Social Media. Vergleicht man Selfies der Generation Instagram mit denen älterer Menschen, fällt sofort auf, dass sich ungewollte Schnappschüsse oder echte, aus dem Leben gegriffene Situationen bei den Jungen nicht mehr finden. Stattdessen: perfekte Posen, perfekte Haut und Haare, Model-Lächeln und ein Bildaufbau wie aus dem Magazin. So viel Perfektion ist ohne Technik kaum mehr herzustellen. Die Programme sind smart genug geworden, um aus mehreren Motiven das beste herauszusuchen. Auswahlkriterium ist beispielsweise die höchste Wahrscheinlichkeit von Likes durch andere Nutzer. Eine solche Auswahl gelingt durch den Einsatz von KI. Sie hat gelernt, welche Motive, Posen und welche Art von Lächeln die meisten Beifallsäußerungen bekommen haben. Doch die intelligenten Helfer können noch viel mehr. Sie können Filter vorschlagen, die das Hautbild verbessern, die Augen vorteilhaft vergrößern oder die Farbigkeit des Bildes gefälliger machen. Sie können störende Bildinhalte, wie Straßenschilder oder andere Personen, entfernen und die freien Stellen mit künstlich erzeugten Bildinformationen so perfekt ergänzen, dass man es nicht merkt. Und so passt sich die mediale Ästhetik langsam, aber sicher an die Währung Likeability an.

Künstliche Intelligenz trifft dabei immer wahrscheinlichkeitsbasierte Entscheidungen, sie ist deshalb natürlich gut geeignet, um die durchschnittliche Qualität von Inhalten zu erhöhen oder große Mengen medialer Inhalte zu durchsuchen. Durch die schiere Menge an Content haben wir auch gar keine andere Chance, als uns dieser Technologien zu bedienen.

Dabei dürfen wir jedoch eines nicht vergessen: Wir haben es als Menschen nicht so weit gebracht, weil wir uns mit Durchschnitt und allgemeingültigen Lösungen zufriedengeben. Bahnbrechende Veränderungen wurden oft ausgelöst durch Nonkonformisten und Menschen, die um die Ecke gedacht haben. Leute also, die Erfolgswahrscheinlichkeiten bewusst ignoriert haben und stattdessen auf ihre Intuition und ihren Bauch hörten. Solche Menschen braucht die digitale Welt von morgen dringender denn je!