Kolumne: Réglage

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Jenni Zylka beschreibt und liefert Beispiele für „Regulierung“, die sie lieber „Réglage“ nennen würde, „mit deutlichem Accent aigu, denn das klingt viel besser, eleganter – und weniger nach staatlichem Eingriff in die Privatsphäre“.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 60-61

Vollständiger Beitrag als:

Sie sagen Friseur, ich sage Coiffeur. Sie sagen Wasser, ich sage Leitungsheimer Spätlese. Und Sie sagen vermutlich Regulierung. Ich aber sage „Reglage“. Das bedeutet tatsächlich das Gleiche. Vielleicht sage ich sogar „Réglage“, mit deutlichem Accent aigu, denn das klingt viel besser, eleganter – und weniger nach staatlichem Eingriff in die Privatsphäre. Die Reglage dient eigentlich zur Verringerung von Gangfehlern – bei Uhren mit einem Uhrwerk aus Zahnrädern, zugegeben, aber das lässt sich auf sämtliche Bereiche übertragen: Gangfehler können überall auftreten.

Ein paar Jahrhunderte nach der Anwendung in der Räderuhr, die zum ersten Mal nachweisbar 1335 eine Kirche namens Chiesa di San Gottardo in Corte al Palazzo Reale zierte (vorher waren Sand- und Sonnenuhren en vogue), entdeckte man die Reglage, also die Regulierung, für die Fiktion: Fast jeder dystopische Roman, ob George Orwells 1984, Aldous Huxleys Schöne neue Welt, Margaret Atwoods Der Report der Magd oder John Lanchesters ganz aktueller Brexit-Albtraum Die Mauer, nutzt die staatliche Reglage unterschiedlicher Gebiete (Informationsaustausch, Fruchtbarkeit, Orte), um die Nöte der Protagonistinnen und Protagonisten zu beschreiben und den Druck auf sie zu erhöhen. Je stärker der Staat reguliert, desto größer wird das Mitgefühl mit der Heldin oder dem Helden – für Desfred, die „Magd“ in Atwoods Roman, die ihrem „Herrn“ unbedingt ein Kind gebären soll, liegt eines der wichtigsten Rechte in harter staatlicher Hand: das Recht zu bestimmen, ob, wann und mit wem man sich fortpflanzt. (Jene menschenrechtsverachtende Reglage wird in manchen Gesellschaften nach wie vor praktiziert – arrangierte Ehen und die Pflicht, ein Kind nach dem anderen zu bekommen, gibt es z.B. in orthodoxen Glaubensgemeinschaften. Und sie ist nicht nur grundlegend misogyn, sondern greift fast ebenso stark in das Leben der Männer ein.)
 


Weil diese utopischen Regulierungen so ungeheuerlich sind, lassen sie sich ebenso hervorragend zur Ausweitung des Dilemmas in Filmen nutzen.



Weil diese utopischen Regulierungen so ungeheuerlich sind, lassen sie sich ebenso hervorragend zur Ausweitung des Dilemmas in Filmen nutzen. Die Leinwand- oder Fernsehadaptionen der meisten oben genannten Romane waren große Erfolge – der Klassiker unter den Regulations-Kino-Thrillern überstieg sogar den Triumph des Buches: Logan’s Run (Flucht ins 23. Jahrhundert) aus dem Jahr 1976 von Michael Anderson, der auf dem gleichnamigen Roman von William F. Nolan und George Clayton Johnson basiert. Der Staat reguliert in der Geschichte um den „Sandmann“ Logan 5, gespielt von Michael York, vor allem anderen das Alter seiner Bürgerinnen und Bürger: An ihrem 30. Geburtstag leuchtet die in die Hand implantierte „Lebensuhr“ der nichts ahnenden Bewohnerinnen und Bewohner einer riesigen, futuristischen Kuppel – und sie werden „erneuert“, eigentlich jedoch umgebracht. Logan 5 kommt langsam hinter das grausame Geheimnis des Systems und trifft erst nach seiner Flucht außerhalb der Kuppel seinen ersten alten Menschen, bezaubernderweise gespielt von Peter Ustinov. Je älter man als Zuschauerin bzw. Zuschauer wird, desto ergreifender ist die Szene, in der Logan 5 staunend die Falten des Alten berührt, weil er solch interessant gewellte Haut noch nie gesehen hat. (Im Lichte dessen erscheint kosmetische Faltenbekämpfung fast wie eine Vorstufe zu dieser staatlichen Altersregulierung.)
 

Die YouTube-Videos auf dieser Seite sind im erweiterten Datenschutzmodus eingebettet, d.h., Daten werden erst dann an Dritte übertragen, wenn die Videos abgespielt werden (siehe auch Datenschutzerklärung).



Einer der bekanntesten Regulierungsthriller stammt aus dem Jahr 1998: Die Truman Show, ein Film, der von Peter Weir nach einem Drehbuch von Andrew Niccol inszeniert wurde. Im Film spielt Jim Carrey den Versicherungsangestellten Truman Burbank, der nichts davon weiß, dass sein gesamtes Leben eine Simulation und er der Hauptdarsteller in einer TV-Liveshow ist. Seit seiner Geburt schauen ihm Tausende von Menschen zu – reguliert wird somit sein gesamtes Leben: Konsum, Kontakte, Informationen, sogar Gefühle versucht der Macher, gespielt von Ed Harris, zu beeinflussen. Der Drehbuchautor Niccol ist ein Experte für Filme über Reglage: Vor der Truman Show hatte er das Buch zu Gattaca geschrieben und bei dem 1997 entstandenen Science-Fiction-Thriller auch Regie geführt. Ethan Hawke spielt darin den sehschwachen und an einem Herzfehler leidenden Helden Vincent in einer Welt, in der durch genetische Selektion – eine der ambivalentesten Formen der Regulierung – „schwache“ Menschen aussortiert werden sollen. Durch einen Trick schafft es Vincent, als angehender Raumfahrer einem Elite-Weltraumunternehmen beizutreten. Er muss jedoch auf der Hut sein und seine körperlichen Spuren in einer Umgebung, in der die DNA protokolliert wird, schnellstmöglich beseitigen. In einer beeindruckenden Szene „peelt“ sich Hawke alias Vincent morgens in der Dusche alte Hautzellen vom Körper, damit der Schwindel nicht auffliegt. Später ist es eine einzige Wimper, die ihm fast das Genick bricht.
 


Dass eine staatlich verhängte Ausgangssperre aufgrund viraler Ansteckungsgefahr keine Science-Fiction mehr ist, erleben wir gerade.



Auch der von Andrew Niccol geschriebene und inszenierte, nur auf Streamingportalen veröffentlichte Thriller Anon aus dem Jahr 2018 beschäftigt sich mit Regulierung: Staatlich geregelte „Transparenz“-Systeme protokollieren durch Implantate die Gedanken sämtlicher Menschen – angeblich, um Verbrechen von vornherein auszuschließen. Die Gedanken sind quasi nicht mehr frei, sondern werden kontrolliert – und damit auch reguliert. Der Staat als Regulator ist das üblichste aller Motive – egal, ob ein Usurpator sich den Staat geschnappt und sämtliche „Regularien“ und Regeln neu geschrieben hat oder ob der Staat selbst der Bösewicht ist.
 


Dass eine staatlich verhängte Ausgangssperre aufgrund viraler Ansteckungsgefahr keine Science-Fiction mehr ist, erleben wir gerade. Und auch sämtliche Seuchenfilme der letzten Jahrzehnte haben die Regulierung durch den Staat als Stilmittel benutzt: In Steven Soderberghs momentan viel zitiertem Pandemie-Thriller Contagion klappt die Quarantäne und damit das Regulieren der Kontakte nicht; in Wolfgang Petersens Outbreak von 1995 wird das vom Militär selbst hergestellte Virus örtlich begrenzt – eine einzige Stadt wird abgesperrt.

Und trotzdem gibt es – neben der Reglage in der Uhr, der Regulierung als meist negativ konnotiertem, fiktionalem Element und neben den klassischen, vor allem ökonomisch und antimonopolistisch bedingten Regulierungsbehörden-Steckenpferden Gas, Strom, Telekommunikation und Post, die zu Recht kritisch und genau beäugt und immer wieder evaluiert werden – weitere schöne Funktionen der Regulierung: Temperaturen. Die des Bade- oder besser (und nachhaltiger) Duschwassers beispielsweise. Manche Menschen werden bekanntlich nicht wach, bevor sie sich morgens nicht mit eiskaltem Wasser erschreckt haben, manche Männer setzen sich – alter, nicht verlässlich funktionierender Ökotrick – vor dem Date in heißes Badewasser, um die Geschwindigkeit ihrer Spermien zu reduzieren und damit ihre ungewollte Fortpflanzung zu regulieren. Und mit der Temperatur der Herdplatte kann man aus Mehl-Milch-Eiersoße knusprige Pfannkuchen machen; man kann scharfe Zwiebeln süß und glasig zaubern und Kartoffeln kochen; man kann die Unterseite der neuen Pfanne entweder direkt verbrennen oder das Qualitätsprodukt über Jahrzehnte benutzen. Wir haben die Regulierung – buchstäblich – in der Hand.