Kolumne: Vatis Argumente

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Vati will nicht „woke“ sein. Vati will seine Ruhe.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 52-53

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Also, wenn Vati loslegt, dann – einige können sich vielleicht noch erinnern – bringt er so seine Argumente. „Woke up this morning and found myself dead”, sagt Vati: Das sang kein Geringerer als Jimi Hendrix. Und kaum zwei Jahre später sollte er recht behalten. Das ist nun wirklich ein Jammer. Aber bei Hendrix, sagt Vati, bei dem hat sich doch niemand um die Hautfarbe geschert. Hendrix, der war eben einfach cool. Das ist der Unterschied, sagt Vati. Und er korrigiert sich: Das macht den Unterschied.

„Woke up this morning and found myself dead“, wiederholt Vati, mit Betonung auf „woke“. Nach wie vor hat er ein Herz für die jungen Leute und ein Ohr am Puls der Zeit. Zugleich hat er Erfahrung, denn ja, Vati hat das Leben gelebt. Einmischen will er sich trotzdem nicht – ein jeder kehr’ vor seiner Tür, das ist sein Wahlspruch. Und: Immer schön den Ball flach halten.

Was Vati gar nicht mag, das sind die schrillen Töne und der blinde Aktionismus. Alles kaputt schlagen kann schließlich jeder – auch wenn er sich nun sonst welche Pronomen gibt. Und oft, sagt Vati, sind doch gerade die, die so empfindlich tun, im Grunde die Brutalsten. Passt dies nicht, passt das nicht, na, dann wird es halt „gecancelt“. Triggerwarnung, wenn ich so was schon höre! Sensitivity Reading! Wir haben das früher Zensur genannt. Seit wann, sagt Vati, sind denn bitte schön Tabus ein Fortschritt?

Nun kommt ihm bloß nicht mit Sklaverei und Prügelstrafe, mit Folter oder mit entrechteten Frauen – zum Nachweis, dass Tabus durchaus ein Fortschritt sein können. Das ist doch ganz was anderes. Stichwort „Diversität“ z. B.: Gehören zur Diversität die alten weißen Männer etwa nicht dazu? Ist das, was ihr „cancelt“, nicht auch ein Teil des Diversen? Tja, denkt mal drüber nach, sagt Vati: ein Teil unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Gesellschaft – ein Teil der wunderbar bunten Menschheit.

Apropos, fragt Vati weiter: Was ist z. B. damit gewonnen, wenn wir Person of Color sagen? Das heißt doch nichts anderes als „Farbige“, aber das soll jetzt verboten sein? Auf die Weise, meint Vati, werden doch diejenigen diskriminiert, die nicht so viel Englisch können, und diejenigen, die es nicht so mit sprachlichen Feinheiten haben. Und ist den Leuten mit der dunkleren Hautfarbe damit irgendwie geholfen? Vati wagt es zu bezweifeln. Nun wird er doch ein bisschen lauter, und in Nullkommanix kommen ihm weitere Wörter in den Sinn, die anscheinend nicht mehr erlaubt sein sollen. Eins nach dem anderen fallen sie ihm ein, und alle müssen sie jetzt mal wieder raus.

Mit den ganzen Palästina-Kundgebungen, das hat Vati neulich irgendwo gelesen, besiegelt die „woke“ und „queere“ Linke ihren moralischen Bankrott. Das hat gesessen, findet Vati. Mit moralischem Bankrott kennt er sich schließlich aus. Als Eigentümer einer Immobilie, die man zu marktüblichen Preisen vermietet, als Besitzer eines Aktiendepots mit guter Performance, als Halter eines SUV, weil das Finanzierungsmodell unschlagbar war, muss man sich sein Gewissen ja auch irgendwo hinstecken. Aber man versucht eben nicht, anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Das macht den Unterschied.

Ja, Vati war früher auch auf Demos. Gegen die Pershings und so. Und mal gegen Gorleben, oder hatte er sich das damals nur ganz fest vorgenommen? Er war jedenfalls schwer verknallt gewesen. Was tut man nicht aus Liebe? Vati ist ja nun keiner von denen, die sich auf nichts mehr einlassen wollen. „Beziehungsunfähig“, „Situationship“, ach Gottchen, manchmal tun ihm die jungen Leute aufrichtig leid.

Vati ist auch keiner, der unbedingt alte Filme gucken muss oder der jetzt, wo die Kinder längst aus dem Haus sind, noch mal den Jim Knopf zur Hand nimmt. Aber wenn es nun heißt, dies und das kann so nicht mehr gezeigt oder hier und da muss was umgeschrieben oder anders bebildert werden, damit es niemanden kränkt oder gar „traumatisiert“, dann ist für Vati ein Punkt erreicht, an dem man denkt: nicht euer Ernst. Oder: nicht auszuhalten. Oder: warum so viel Toleranz mit den Intoleranten? Wo soll das hinführen, wenn alle auf einmal aus Zucker sind? Hat es Vati denn geschadet, diese Bücher und Filme so zu sehen, wie sie damals halt waren? Oder hat es z. B. Roberto Blanco geschadet?

Solche Fragen versucht Vati allerdings für sich zu behalten. Er will ja auch keiner von gestern sein – keiner von denen, über die sich die Schreiberlinge lustig machen, weil sie angeblich mit der Welt von heute nicht klarkommen und sich ein Deutschland wie in alten Filmen, also jetzt speziell Heimatfilmen, zurechtfantasieren. Von wegen nicht klarkommen! Vati wäre der Letzte, der vor der Wirklichkeit weglaufen würde. Das tun doch vielmehr die, die dauernd mit ihren Triggerwarnungen und Traumatisierungen zugange sind.

Aber wenn all die Bedenken und Ermahnungen, all die Vorschriften und Verbote, all die Sensibilitäten und Tabus einem zu sehr auf den Zeiger gehen, dann kann man halt selbst auch ein bisschen unerbittlich werden. Jetzt drehen wir den Spieß mal um, sagt Vati: kein Karneval ohne Blackfacing, kein Herrenabend ohne das N-Wort und den Klaps auf den Po der Kellnerin. Alles natürlich mit einem Augenzwinkern. Man kann es, fügt Vati hinzu, mit dieser „wokeness“ ja wirklich auch übertreiben. Und damit ist doch keinem gedient. Wie sagte schon der Alte Fritz? Jedem das Seine. Ach nein, wie war es doch gleich? Jeder ist sich selbst der … Auch nicht. Manchmal bringt das ganze Gewese um Diskriminierung und Pipapo Vati doch ein bisschen durcheinander. Oder aus der Fassung. Jeder nach seiner Fasson, das wars. Aber das andere ist natürlich einfacher: alles kaputtreden. Bloß nicht: durchatmen, Kirche im Dorf lassen und, verdammt noch mal, endlich Ruhe geben.

Ruhe, ja, das ist es, was Vati sich wünscht. Und nicht nur sich, sondern uns allen. Würde endlich Ruhe einkehren, dann könnte alles wieder bleiben, wie es war. Bloß – damit Ruhe herrschen kann, muss eben manchmal fürs Erste einer kräftig auf den Tisch hauen. Auch wenn es dabei Scherben gibt. Wenn Vati ganz ehrlich ist: allerhöchste Eisenbahn. Scherben bringen Glück, heißt es doch, sagt Vati. Und: abwarten. Wir werden sehen, wer die Faust ballt. Und wie er da so träumt, geht ihm eine Melodie von Franz Josef Degenhardt durch den Kopf. Ha, ausgerechnet von dieser roten Socke, denkt Vati. Natürlich mit einem Augenzwinkern.

Ja, der Degenhardt. Der sang sein Lied Vatis Argumente im selben Jahr wie der Hendrix sein Woke up this morning. 1968, das waren bewegte Zeiten. Und die letzten Zeilen aus Degenhardts Lied – einige können sich vielleicht noch erinnern – lauten:

„Also, wenn Vati loslegt,
dann fragt man sich immer:
Was ist der bloß so wütend?
Hat er gemerkt, dass ihn keiner mehr ernst nimmt?“