Kolumne: Wundermittel, Veggiefresser, Todestrieb

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Wie gesund ist mediale Ernährungsberatung? Über hochgekochte Trends und die dazugehörigen Gegenbewegungen.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 58-57

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In Sachen Gesundheit fühlte ich mich von den Medien in den Nullerjahren gut verstanden, heute hingegen sehe ich mich ständig von ihnen unter Druck gesetzt. In den Nullern verging keine Woche, ohne dass irgendwo an prominenter Stelle von Studien berichtet wurde, denen zufolge mäßiger Alkoholkonsum der reinste Segen für den Körper sei. Vor allem Rotwein durfte als Wundermittel glänzen: „Antioxidantien“ hieß das Zauberwort – sie hemmten Entzündungen, machten „freie Radikale“ unschädlich und wimmelten angeblich sogar Lungen- und Prostatakarzinome ab. Ein, zwei Gläser täglich sollte man sich durchaus gönnen, um in den vollen Genuss der Schutzwirkung zu kommen.

Wer sich damals, in den Nullern, neben den eigenen Trinkgewohnheiten auch eine Vorliebe für verkohlte Grillwürstchen schönreden wollte, konnte sich auf Udo Pollmer berufen. Pollmer, seines Zeichens Lebensmittelchemiker, versicherte, dass Ketchup die krebserregenden Stoffe im verbrannten Fleisch neutralisiere. Er predigte Argwohn gegenüber Salat, er beteuerte, dass der Mensch für eine rein pflanzliche Kost nicht geschaffen sei – und schon gar nicht, wenn er darauf keine Lust habe.

Diese erleichternden Botschaften brachte Pollmer in einer Kombination aus Redegewandtheit und gemütlichem Erscheinungsbild unter die Leute: auf durchaus einnehmende Weise also, vor allem für den Geschmack der ewig beschworenen „Mitte der Gesellschaft“.

Und genau dort hatte er seinen Stammplatz. Schon damals herrschte ja – abseits der Studien zu den Wohltaten des Rotweins – kein Mangel an Alarmrufen, wie krank uns unsere Lebensweise, unsere schlechten Gewohnheiten machten. Aber ehe uns solche Meldungen zu sehr auf den Stoffwechsel schlugen, tauchte verlässlich Pollmer wieder irgendwo im Medienmainstream auf und winkte gut gelaunt Entwarnung. Alles halb so wild.

Er läutete das Jahrtausend mit dem Lexikon der populären Ernährungsirrtümer ein; weitere von ihm mitverfasste Bücher tragen Titel wie Esst endlich normal! (2005) oder Wer gesund isst, stirbt früher (2008). Unverdrossen gab er den gewitzten Onkel, der uns mit einem Augenzwinkern und zugleich im Gestus der wissenschaftlichen Autorität bescheinigte: Ist schon alles okay so, wie wir es machen – in Wirklichkeit drohen nur die krank zu werden, die unser fröhliches Konsumverhalten infrage stellen. Legen wir noch eine Runde Würstchen auf?

Doch wie es so geht seit ein paar Jahren mit vielen, die gerne „normal“ sagen und damit sich selbst meinen: Onkel Udo scheint sich radikalisiert zu haben. Heute veröffentlicht er nicht mehr in den Medien der gesellschaftlichen Mitte, sondern rechts außen – regelmäßig bei „Tichys Einblick“ und gelegentlich auf der „Achse des Guten“. In der „Weltwoche“, dem Leib- und Magenblatt der Schweizer „Nationalkonservativen“, tobte sich Pollmer heuer im Frühjahr unter der Überschrift: Veganes Essen macht uns zu Kannibalen aus. Vielleicht eine Art späte Retourkutsche dafür, dass ihn die – bis heute nicht gerade als Leuchtturm der Wokeness bekannte – „FAZ“ bereits 2015 als „Veganerfresser“ verspottete.

Heute wird in den Medien nur noch selten zum Alkoholkonsum aufgerufen, nicht einmal mehr zum „maßvollen“. Stattdessen steigt die Bereitschaft, Filme und andere Kulturgüter dahin gehend nachzubearbeiten, dass gesundheitsschädliches Verhalten wie Rauchen oder anderer Drogenkonsum herausretuschiert wird. Comic-Cowboy Lucky Luke, dem irgendwann in den 80ern plötzlich keine Fluppe mehr, sondern ein Grashalm zwischen den stets geschürzten Lippen klebte, könnte plötzlich wie ein Visionär wirken, wäre da nicht das Problem mit den rassistischen Klischees, aber das ist eine andere Baustelle.

Reinhard Mey singt, wenn er bei Konzerten seinen Evergreen Gute Nacht, Freunde zum Besten gibt, auch längst „Was ich noch zu sagen hätte, dauert keine Zigarette“. So konsequent, dass er die Negation des besungenen Moments dann mit „und kein letztes Glas im Steh’n“ vollendet, zeigt er sich bisher nicht, aber das kann ja noch kommen. Konzerte sind schließlich wieder möglich, und sei es mit der 2G-Regel.

Für den abgedrifteten Udo Pollmer hat sich, soweit ich weiß, keine Nachfolgerin gefunden. Die öffentliche Gesundheitskommunikation versucht uns heute einhellig zur Vernunft zu bringen bzw. zur Selbstoptimierung zu drängen. Ihre Handreichungen beschränken sich weitgehend auf Variationen der Formel „gesund trotz Stress“. So unverblümt wie in diesen Ratschlägen grassiert der Neoliberalismus nicht einmal mehr im FDP-Programm. Fragt nicht, was euch krank macht, sondern haltet euch fit für die Tretmühle!

Der in mehr oder weniger konziliante Töne verpackte mahnende Zeigefinger wippt über einer Gesellschaft, in der nach wie vor ein „Veggie Day“ in der Betriebskantine mit dem Untergang des Abendlandes gleichgesetzt werden kann und die Coronaleugner ihre eigene Partei gründen.

Womit wir, es tut mir leid, beim Stichwort „Todestrieb“ wären. Dieser müsste zwar, nach Freud’scher Deutung, in einer Gesellschaft mit derart ausgeprägtem Analcharakter wie der deutschen ohnehin allgegenwärtig sein. Selten jedoch äußerte er sich hier seit 1945 so stürmisch als kollektive Regung wie in jüngster Zeit. Just bevor die Klimakatastrophe unabwendbar wird, „Deutschland, aber normal“ zu verlangen, ist schon schwer morbide. Und im Zeichen mutierender Pandemiekeime aus den beiden Zutaten „Impfverweigerung“ und „Drang zum Ringelpiez mit Anfassen“ eine politische Agenda zu basteln, hat doch einiges von: „Ich mache Schluss, aber ich nehme euch alle mit“.

Ach ja, richtig: Ein anderer Begriff für den Todestrieb in gesellschaftlichem Ausmaß lautet Sozialdarwinismus. Mit diesem Schlagwort lassen sich, Simsalabim, sogar die Anliegen der „Basis“, der AfD und der Zeigefinger-Optimierer unter einen gemeinsamen Aluhut bringen. Oder besser noch: in eine Wrestling-Arena – schließlich stehen die jeweiligen Vorstellungen davon, wie wir ins Verderben rennen sollen, einander dann doch wieder unversöhnlich gegenüber.

Wäre das nicht überhaupt „der Weg“, wie die Mandalorianer sagen? Sozialdarwinisten aller Couleur kommen zusammen, um ihr ideologisches Hobby unter sich auszutragen. Udo Pollmer darf Attila Hildmann verspeisen. Und wir anderen, die wir nicht ganz so „normal“ ticken, stoßen mit einem guten Glas Antioxidantien auf den Veggie Day an. Und auf die Hoffnung, dass aus dem Thema „Medien und Gesundheit“ nun endlich mal der Druck rauskommt.