Kultur braucht Unterstützung
Das Studierendenfilmfestival Sehsüchte findet zum 54. Mal statt
Wie würden Sie das Sehsüchte-Festival jemandem beschreiben, der noch nie davon gehört hat?
Laura Lutz: Ich würde Sehsüchte als ein studentisches und junges Filmfestival beschreiben, das in Babelsberg – und auch deutschlandweit – eine relative Besonderheit darstellt: Wir sind international und studentisch zugleich. Das heißt, wir zeigen nicht nur Filme aus Deutschland oder der Region, sondern aus der ganzen Welt.
Imaya Ugwonno: Organisiert wird das Festival von uns Studierenden der Filmuniversität Babelsberg – und für uns ist es ein echter Learning-by-Doing-Prozess. Wir können dabei auf eine jahrzehntelange Festivaltradition aufbauen: Sehsüchte findet dieses Jahr zum 54. Mal statt, und von Jahr zu Jahr wird das Wissen, die Erfahrung und das Netzwerk an die nächste Generation weitergegeben.
Man muss keine Filmwissenschaft studiert haben, um die Filme zu verstehen oder um Freude daran zu finden.“
Was ist das Besondere an einem Filmfestival wie Sehsüchte?
Laura Lutz: Wir präsentieren Filme, die in der kommerziellen Kinolandschaft oft übersehen werden oder keinen Verleih finden. Zudem vergeben wir Preisgelder und wollen gerade Filmschaffenden aus anderen Teilen der Welt damit ermöglichen, weiter Filme zu machen, damit deren Werke weiter zirkulieren. Denn das ist ja auch so ein Thema: Bei vielen Festivals kostet die Einreichung Geld. Bei uns ist die Einreichung kostenlos, und wir vergeben gleichzeitig relativ hohe Preisgelder. Insgesamt stehen rund 35.000 Euro an Preisgeldern in zwölf Kategorien zur Verfügung.
Warum lohnt sich ein Besuch auch für Menschen, die keine Filmexpert:innen sind?
Imaya Ugwonno: Filmfestivals sind grundsätzlich für alle da – sie stehen allen offen, die Lust haben, sich Filme anzuschauen. Für Studierende aus Potsdam und Brandenburg ist der Besuch unseres Festivals übrigens kostenlos.
Laura Lutz: Wir beobachten aber, dass es oft eine gewisse Hemmschwelle gibt, ein Filmfestival überhaupt zu besuchen – besonders bei Menschen, die eher filmfremd sind. Viele wissen gar nicht so genau, was ein Filmfestival eigentlich ist oder wie es abläuft, weil sie noch nie auf einem waren. Diese Distanz oder Unsicherheit abzubauen, ist gar nicht so leicht – aber genau da wollen wir ansetzen. Wir gestalten unseren Festivalcampus bewusst offen: mit Foodtrucks, Angeboten für Kinder und einer Atmosphäre, in die man einfach mal hineinschnuppern kann – ganz ohne Vorkenntnisse oder Ticketdruck.
Und natürlich achten wir auch bei der Filmauswahl auf Zugänglichkeit. Man muss keine Filmwissenschaft studiert haben, um die Filme zu verstehen oder um Freude daran zu finden.
Imaya Ugwonno: Selbst wenn man sagt: „Ich möchte vielleicht kein Geld für ein Ticket ausgeben“, lohnt es sich, vorbeizuschauen; denn auch abseits der Filmvorführungen passiert bei uns unglaublich viel. Unser komplettes Rahmenprogramm ist kostenlos: Workshops, Panels, Ausstellungen – und sogar eine Virtual-Reality-Station gehört dazu. Darüber hinaus wollen wir auch Menschen außerhalb von Potsdam erreichen – Berlin ist ja nicht weit. Auch dort möchten wir Filmbegeisterte – und solche, die es vielleicht noch werden wollen – ansprechen.
Das diesjährige Motto lautet „Beyond“. Wie ist dieses Leitthema entstanden – und was steckt dahinter?
Laura Lutz: Wir wollten ein Wort finden, das all das bündelt, was für uns den Spirit des Festivals ausmacht – und das ist vor allem der Versuch, weiterzudenken, also beyond zu denken. „Beyond“ im Sinne von: über Kategorisierungen hinaus, vielleicht auch über Sehgewohnheiten – seien es westliche oder studentische – hinweg. Also jenseits des Gewohnten. Dazu haben wir auch den Satz formuliert: beyond borders, boxes and barriers – als Einladung, über Grenzen, Schubladen und Barrieren hinweg zu denken. Ein Ziel war für uns auch, mehr Einreichungen aus anderen Ländern zu bekommen, nicht nur aus Europa. Und genau in diesem Sinne haben wir dann auch Filme ausgewählt – solche, die diesen „Beyond“-Charakter verkörpern.
Wir wollen uns bewusst als offenes Festival positionieren, das bereit ist, anderen Perspektiven zuzuhören, Realitäten sichtbar zu machen und einen Raum für Diskurs zu schaffen – und damit vielen Menschen eine Plattform zu bieten.“
Inwiefern spiegelt das Motto aktuelle gesellschaftliche oder mediale Entwicklungen wider?
Laura Lutz: Die zunehmende Spaltung und Radikalisierung in der Gesellschaft und die Art und Weise, wie politischer Diskurs aktuell zugespitzt wird, haben uns dazu bewegt, dieses Motto zu wählen. Auch unser Leitsatz beyond boxes, borders and barriers ist in diesem Zusammenhang entstanden – vor dem Hintergrund eines ganz realen Rechtsrucks. Wir wollen uns bewusst als offenes Festival positionieren, das bereit ist, anderen Perspektiven zuzuhören, Realitäten sichtbar zu machen und einen Raum für Diskurs zu schaffen – und damit vielen Menschen eine Plattform zu bieten.
Imaya Ugwonno: Wir möchten mit unserem Programm vielleicht auch mal den Finger in die Wunde legen und auf gesellschaftliche Herausforderungen aufmerksam machen – aber dabei einen Rahmen schaffen, der Austausch ermöglicht, Spaß macht und zum Mitdenken einlädt.

Spiritus – Die Sinfonie Des Chaos läuft in der Sektion „Focus Animation“ (Bild: © Antoine Freuchet & Juliette Schmincke)
Welche Themen rücken die Filme im Sehsüchte-Programm 2025 besonders in den Fokus?
Imaya Ugwonno: Vor allem Themen rund um Identität, Migrationsgeschichten, Arbeits- und Alltagsrealitäten – und das in ganz unterschiedlichen Kontexten: geografisch, kulturell und gesellschaftlich. Auch verschiedene Altersgruppen finden ihren Platz. Zudem spielen Themen wie Klimawandel, Krieg und Flucht eine wichtige Rolle. Besonders bei Letzterem war es uns ein Anliegen, genau hinzuschauen: Wie erzählen wir diese Geschichten – und wessen Stimmen lassen wir zu Wort kommen? Ein Beispiel: In diesem Jahr zeigen wir auch Filme von Filmschaffenden im Exil, die ihre ganz eigenen Perspektiven und Erfahrungen einbringen.
Gilt das auch für die Sektion „Future“, der Kinder- und Jugendsektion, oder gibt es hier einen anderen thematischen Schwerpunkt?
Laura Lutz: In dieser Programmsparte herrscht natürlich eine ganz andere Leichtigkeit als im restlichen Festivalprogramm. Trotzdem geht es auch hier um Themen wie Außenseitertum, Gemeinschaft, Beziehungen und Zugehörigkeit – nur eben auf eine kindgerechte Weise. Denn letztlich beschäftigen Kinder ähnliche Fragen wie Erwachsene – sie nehmen sehr wohl wahr, was um sie herum passiert. Natürlich gibt es in diesem Bereich auch mehr Komödien und lustigere Filme. Gleichzeitig scheuen wir uns nicht, auch schwierige Themen anzusprechen – zum Beispiel in der „Teens“-Sektion, in der ein Film über sexualisierte Gewalt gezeigt wird. Hierzu wird im Anschluss an die Vorführung eine Leiterin des Sozial-Therapeutischen Instituts Berlin-Brandenburg anwesend sein, die das Q & A begleitet und gemeinsam mit den Jugendlichen im Publikum Raum für Reflexion und Aufarbeitung bietet: Was ist im Film passiert? Und wie kann man damit umgehen?
Insgesamt dürfen sich die jungen Festivalbesucher:innen auf ein vielfältiges Filmprogramm freuen – mit deutschsprachigen ebenso wie internationalen Produktionen. Letztere werden im Kino live ins Deutsche eingesprochen, also nachsynchronisiert.
Welchen Stellenwert hat Internationalität für euer Festival? Aus welchen Ländern erwartet ihr Filmstudierende und Filmschaffende, die am Festival teilnehmen?
Imaya Ugwonno: Internationalität hat für uns einen sehr hohen Stellenwert. Besonders unsere Nachbarländer sind stark unter den Einreichungen vertreten – aber wenn man wirklich ein vielseitiges, globales Programm zusammenstellen möchte, muss man aktiv auf die Suche gehen und dranbleiben. In diesem Jahr zeigen wir Filme aus rund 50 Ländern, und wir erwarten Filmschaffende unter anderem aus Tunesien, dem Senegal, Mexiko, Hongkong und verschiedenen europäischen Ländern. Diese internationale Vielfalt aufrechtzuerhalten ist aber nicht selbstverständlich.
Laura Lutz: Unser Juryteam unterstützt beispielsweise aktiv bei der Visumsbeantragung, was in vielen Fällen gar nicht so einfach ist. Immer wieder gibt es Hürden – politischer, bürokratischer oder finanzieller Art, die man auf den ersten Blick oft gar nicht sieht. Aber wir geben unser Bestes, um diese Vielfalt zu ermöglichen – weil wir überzeugt sind, dass genau sie das Festival bereichert.
Ein großes Learning war aber definitiv, erstmal zu begreifen, wie viele Ressourcen man für eine vergleichsweise kurze Festivalzeit überhaupt benötigt.“
Vor welchen Herausforderungen stand das Team in diesem Jahr, insbesondere mit Blick auf die Kürzungen im Kulturbereich?
Laura Lutz: Es gab tatsächlich eine Phase, in der wir nicht sicher waren, ob wir unsere kalkulierten Ausgaben überhaupt decken können. Deshalb haben wir zunächst versucht, über möglichst viele Spenden und Akquiseaktionen zusätzliche Gelder zu generieren. Wir hatten dabei wirklich Glück – und vor allem starke Rückendeckung von der Universität, insbesondere von unserer Präsidentin Susanne Stürmer. Sie hat uns sehr unterstützt und sogar dabei geholfen, Fördermittel, die bereits abgelehnt worden waren, doch noch bewilligt zu bekommen. Für uns war das eine große Erleichterung – so können wir ohne finanzielle Sorgen ins nächste Jahr starten.
Ein großes Learning war aber definitiv, erstmal zu begreifen, wie viele Ressourcen man für eine vergleichsweise kurze Festivalzeit überhaupt benötigt. In der Phase, in der unklar war, ob wir das Ganze finanziell stemmen können, war unser rettender Gedanke: Im Worst Case stellen wir einfach einen Beamer hin – und auch das wäre eine kulturelle Leistung gewesen. Wenn es so weitergeht, könnte ein Festival irgendwann tatsächlich so aussehen – aber hoffentlich nicht. Denn: Kultur braucht Unterstützung. Für uns bedeutet das auch, Kompromisse einzugehen. Mittlerweile haben wir einen Nachhaltigkeitsbeauftragten im Team, der sich um das Nachhaltigkeitsmanagement und eine möglichst umweltfreundliche Produktion kümmert. Er achtet in allen Abläufen darauf, dass alles funktioniert, wie wir es uns vorstellen – aber eben so umweltschonend wie möglich. Und das bedeutet manchmal auch: mehr Geld für eine nachhaltigere Lösung in die Hand zu nehmen.
Warum sollte man die diesjährige Festivalausgabe nicht verpassen?
Laura Lutz: Es gibt auf jeden Fall einzelne Themen im Programm, die sonst selten so sichtbar sind. In diesem Jahr haben wir zum Beispiel eine Fokussektion, in der wir den Schwerpunkt auf Animationsfilme legen. Außerdem haben wir die Sektion „Future Teens“, also unsere Jugendsektion, wieder eingeführt – die war ein, zwei Jahre lang nicht Teil des Programms. Ganz neu ist in diesem Jahr auch die Sektion „Engagierter Film“, die Teil des Hauptprogramms ist und in der ein eigener Preis vergeben wird. Damit möchten wir Filme würdigen, die sich in besonderer Weise gegen Diskriminierung und für positive gesellschaftliche, soziale oder ökologische Veränderungen einsetzen. Dabei ist die Form ganz offen: Ob dokumentarisch, animiert, Kurzfilm, Langfilm oder Spielfilm – alles ist möglich.
Wie können Besucher:innen Tickets erwerben oder an Veranstaltungen teilnehmen?
Laura Lutz: Tickets sind über unsere Website unter sehsuechte.de erhältlich. Außerdem können vor Ort auf dem Festivalgelände am Gästecounter ebenfalls Einzeltickets und Festivalpässe erworben werden.

Laura Lutz und Imaya Ugwonno gehören zum diesjährigen Sehsüchte-Team.
Und die letzte Frage:Was macht für Sie persönlich einen guten Film aus?
Imaya Ugwonno: Für mich persönlich ist es vor allem wichtig, dass ein Film mir etwas Neues zeigt – etwas, das ich so noch nicht gesehen habe. Ein guter Film ist für mich auch einer, der mutig ist und sich traut, Themen anzugehen, die sonst vielleicht eher gemieden werden.
Laura Lutz: Was ich noch ergänzen würde – und das ist in Filmunikreisen etwas umstrittener – ist die emotionale Wirkung. Ich merke nämlich, dass mich selbst ein stilistisch und formal perfekter Film völlig kaltlassen kann, wenn er nichts in mir auslöst.
Vielen Dank für das Interview!

Laura Lutz (Foto: © mediendiskurs)
Laura Lutz studiert Medienwissenschaften (M. A.) an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Sie verantwortet die kuratorische Leitung des Studierendenfilmfestivals Sehsüchte.

Imaya Ugwonno (Foto: © mediendiskurs)
Imaya Ugwonno studiert Medienwissenschaften (M. A.) an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Sie ist zuständig für die Koordination des Hauptprogramms beim Studierendenfilmfestival Sehsüchte.

Victoria Iragorri Bettin (Foto: privat)
Victoria Iragorri Bettin studiert Publizistik und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin. 2025 absolvierte sie ein Praktikum bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernehen, u.a. in der Redaktion von „mediendiskurs“.