Lehren des Informationskrieges

Bernhard Pörksen

Dr. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Die Invasion der Putin’schen Truppen in der Ukraine hat eine eigene Deutungsschlacht im Netz ausgelöst, eine nie da gewesene Konfrontation von militärischer Gewalt und medialer Macht. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen analysiert in diesem Essay die Konfliktlinien und plädiert für eine normative Selbstvergewisserung der offenen Gesellschaft.

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 12-15

Vollständiger Beitrag als:

Es gibt, so zeigt sich, im Falle des Putin’schen Angriffskrieges zwei miteinander rivalisierende Parallelwirklichkeiten, die die öffentliche Wahrnehmung prägen. Die erste ist in der analogen Welt angesiedelt. Hier werden ukrainische Soldaten und Zivilisten umgebracht, sterben auf der Flucht, im Bombenhagel, gehetzt und gejagt. Hier sind die Macht- und Kräfteverhältnisse im Letzten klar, auch wenn sich die Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Mut der Verzweifelten verteidigen und wohl niemand damit gerechnet hat, wie erfolgreich ihr Widerstand über Wochen und Monate hinweg sein könnte. Putin hat in dieser ersten Wirklichkeit alle Möglichkeiten, das unterlegene Volk zusammenschießen zu lassen, und er tut dies, kaltblütig und brutal. Sein militärischer Sieg ist, wenn seine Armeen die Angriffe fortsetzen, allein eine Zeitfrage, trotz aller Waffenlieferungen und Sanktionen. Und Erfolg heißt hier: Die Unterlegenen strecken die Waffen.
 


In einer kommunikativ erzeugten Netzwirklichkeit gelten andere Spielregeln.



In der zweiten, der kommunikativ erzeugten Netzwirklichkeit stellen sich die Kräfteverhältnisse seit Kriegsbeginn jedoch entscheidend anders dar. Hier marschiert Putin in Richtung Niederlage, weil hier grundsätzliche andere Spielregeln gelten – und sich die westliche Welt in seltener Einmütigkeit solidarisiert. Hier, in der Netzwelt, heißt Erfolg: die eigenen Narrative durchsetzen, Deutungshoheit erringen, effektiv für das eigene Gesellschafts- und Lebensmodell werben. Und hier ist das militärische Machtgefälle zwischen Russland und der Ukraine nicht mehr spürbar, im Gegenteil. Denn im Netz stehen sich zwei publizistische Großmächte gegenüber. Auf der einen Seite: die totalitäre Gewalt, verkörpert durch Putin. Er regiert als Kommandeur, befehligt ein weitgehend amorphes Kollektiv, das nur selten ein individuelles Gesicht zeigt. Seine Söldner ziehen los, um den ukrainischen Präsidenten zu ermorden. Seine Medien schreiben von einer „militärischen Spezialoperation“. Begriffe wie „Krieg“ und „Invasion“ sind verboten, Medien und Opposition werden in äußerster Schärfe drangsaliert, auch durch immer neue Gesetze, die auf die Abschaffung des unabhängigen Journalismus zulaufen. Trollarmeen ziehen durch die sozialen Netzwerke, um Andersdenkende niederzubrüllen, Meinungsmehrheiten zu simulieren, Angst und Schrecken zu verbreiten, der ukrainischen Zivilbevölkerung zu drohen, das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite im publizistischen Großkonflikt dieser Tage und Wochen: die plötzlich aufschäumende Macht der vernetzten vielen, dirigiert von dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der sich als Meister der strategischen Kommunikation in den sozialen Medien entpuppt. Mehrfach täglich postet er Videos und Botschaften auf seinen Kanälen, die Menschen überall in westlichen Ländern übersetzen und verbreiten. Man erlebt ihn in ganz unterschiedlichen Rollen und an ganz unterschiedlichen Orten, mal nachts vor dem Präsidentenpalast, mal zusammen mit seinen Ministern in einem Bunker. Mal sieht man ihn im militärgrünen T-Shirt, dann wieder im Pulli, unrasiert, blass und erschöpft. An die Stelle der gewalttätigen Autorität eines Putin tritt hier existenzielle Authentizität. Eben in diesem Charisma der Verletzbarkeit liegt das Faszinationsgeheimnis Selenskyjs.
 

Selenskyj bittet Menschen in Russland, Putin zu stoppen (Euronews, 30.09.22)



Worin besteht die Medienmacht des ukrainischen Präsidenten, wie lässt sich sein Einfluss auf die öffentliche Meinung der westlichen Welt erklären? Vier Gesichtspunkte. In narrativer Hinsicht ist es die archetypisch bekannte, sofort verständliche David-gegen-Goliath-Geschichte, die hier wirkt. Weltanschaulich-ideologisch gesehen erscheint der ukrainische Präsident längst als Symbolfigur der offenen Gesellschaft. In ethisch-moralischer Hinsicht ist es der Einsatz des eigenen Lebens, die Weigerung zu fliehen, die Menschen auf der ganzen Welt berührt und erschüttert (er brauche keine Flucht- und Mitfahrgelegenheit, sondern Waffen, so ließ er die USA wissen). Und medienanalytisch betrachtet kommt einem Selenskyj in diesen Tagen auf allen Kommunikationskanälen ganz nah; fast scheint es so, als würde man ihn kennen, als sei er – eben durch die medial hergestellte Vertrautheit – zum Verwandten geworden, zum Freund, dessen Mut man bewundert. Er selbst tut im Angesicht seines womöglich drohenden Todes kaum etwas anderes, als den Aggressoren zu drohen und ansonsten um Beistand zu bitten – bei ausländischen Regierungschefs, Plattformbetreibern, dem eigenen Volk, der Weltbevölkerung. Entscheidend ist: Er und seine Leute mobilisieren durch die Auftritte in den sozialen Netzwerken. Sie animieren zur Bildung einer Gemeinschaft, die man – im Gegensatz zu einem strikt hierarchisch geprägten Kollektiv mit klar definierbaren Innen-außen-Grenzen – als Konnektiv bezeichnen könnte. Es ist eine Organisation ohne Organisation, eine Individual-Masse und Ich-Wir-Gemeinschaft, die mithilfe der digitalen Medien und durch das Teilen von Informationen mit gemeinsamem Fokus entsteht. Das Attraktivitätsgeheimnis eines solchen Konnektivs besteht in der Mischung aus Offenheit und zielgerichteter Partizipation, aus individueller Sichtbarkeit und Zugehörigkeitsgefühl. Man arbeitet gemeinsam, fühlt sich der einen Sache verpflichtet.
 


Das Konnektiv ist eine Organisation ohne Organisation, eine Individual-Masse und Ich-Wir-Gemeinschaft, die mithilfe der digitalen Medien und durch das Teilen von Informationen mit gemeinsamem Fokus entsteht.



Aber wer genau ist Teil des Konnektivs zur Verteidigung der ukrainischen Unabhängigkeit? Schwer zu sagen. Und kaum zu kontrollieren. Da sind diejenigen, die sich vor Ort und im Land über Facebook vernetzen und Straßenschilder abmontieren, um die Angreifer in die Irre zu führen. Da sind diejenigen, die Ermutigungsvideos und Dokumente der Zivilcourage posten, die Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails verbreiten, auf Twitter Tipps geben, wie man Straßensperren baut und Fluchtwege plant. Da sind die Plattformbetreiber, die auf einmal russisches Werbegeld zur Verbreitung von Desinformation zurückweisen, ihren pseudoneutralen Opportunismus der Vergangenheit über Nacht aufgeben. Und so könnte man immer weitere Initiativen und Player aufzählen, die alle zum Konnektiv, dieser global vernetzten Publikative neuen Typs, gehören. Noch einmal: Hier, in den sozialen Netzwerken der westlichen Welt und in der zweiten Wirklichkeit der Kommunikation, hat Putin verloren. Global vernetzte Konnektive sind, was die Farbigkeit, die Vielfalt und die Intensität ihrer inszenatorischen Möglichkeiten betrifft, dem Kollektiv einer strikt hierarchisch organisierten Propagandamacht strukturell weit überlegen. Das ist die gute Nachricht. Der Schmerz dieser Tage und Wochen besteht darin, dass das kommunikative Geschick zwar die Solidarität und den Sanktionswillen der westlichen Welt beflügelt und befeuert und die Ächtung von Putins Gehilfen überall auf der Welt beschleunigt, aber die Menschen in der Ukraine doch nicht retten kann. Sie werden in der ersten Wirklichkeit des Krieges drangsaliert und umgebracht – und diese erste Wirklichkeit ist dann die entscheidende.

Und dennoch: In den letzten Jahren hat sich, bedingt durch die Pro-Brexit-Propaganda, die Wahl Donald Trumps und die Verbreitung von Fake News und Verschwörungsmythen in Zeiten der Pandemie, die Gewissheit durchgesetzt, dass die Phase der Netzutopien endgültig vorbei ist. Die Datenskandale von Facebook, die Orchestrierung des Völkermordes an den Rohingya auch mithilfe dieses sozialen Netzwerkes, die Hassexplosionen auf Twitter und zuletzt in den Katakomben der Telegram-Kanäle, die obszöne Kannibalisierung des Werbemarktes zulasten der Qualitätsmedien – all dies hat die Rufe nach Regulierung lauter werden lassen, zu Recht. Die letzten Wochen und Monate haben die längst verflogene Digitaleuphorie der 1990er-Jahre nicht zurückgebracht, gewiss nicht. Sie im Angesicht der blutenden, verzweifelten Menschen und der zerborstenen Häuser auch nur für einen Moment zu beschwören, wäre verspielter Zynismus und bloße Gedankenflucht, um nicht allzu genau hinschauen zu müssen. Deutlich wurde und wird im Angesicht der Katastrophe dieses Krieges aber, dass sich das Instrument der Vernetzung durchaus zur Humanisierung und Demokratisierung der Verhältnisse einsetzen lässt. Aber dafür braucht es Voraussetzungen. Dafür braucht es die unbedingte Entschiedenheit, den kollektiven Fokus und vielleicht Menschen, die bereit sind, alles zu riskieren. Und es braucht, nötiger denn je, die normative Selbstvergewisserung der offenen Gesellschaft, die erkennen und begreifen muss, was in der Ukraine gerade zerbombt wird und in existenzielle Gefahr gerät. Es ist auch der eigene Wertekosmos, das eigene Lebensmodell und das Miteinander in Vielfalt und Freiheit.
 

Anmerkung:

Dieser Text basiert auf Vorträgen des Autors und einem Essay für die „Neue Zürcher Zeitung“.