Bildung und digitale Medien in der Kita

Eine Grounded Theory zu Haltungen und Praxis pädagogischer Fachkräfte

Jasmin Zimmer

Paderborn 2024: Brill | Schöningh
Rezensent/-in: Bernward Hoffmann

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 82

Vollständiger Beitrag als:

Bildung und digitale Medien in der Kita

Dem Buch liegt eine Dissertation an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft zugrunde, die mit dem Promotionspreis der Sektion „Pädagogik“ der Görres-Gesellschaft ausgezeichnet wurde. Bislang gibt es kaum einen Konsens zur frühkindlichen Medienbildung, sondern eher eine Polarisierung zwischen Integration und Ablehnung digitaler Medien für die Kita. Diese Polarisierung möchte die Autorin aufbrechen mit der Forschungsfrage, was Fachkräfte dazu bewegt, in ihrer Arbeit mit den Kindern (digitale) Medien einsetzen zu wollen oder dieses abzulehnen. Vorgehensweise und zugleich Ziel der umfassenden Arbeit ist eine „gegenstandsverankerte“ Theorie für weitere Forschungsarbeiten (Grounded Theory). Zimmer beschreibt selbst kritisch das Dilemma zwischen (behaupteter) Vorgehensweise und Abfolge der Darstellung im Buch. Das Konzept einer Grounded Theory verbietet eigentlich eine vorherige Grundierung durch einen Forschungsüberblick und Ausgangshypothesen; diese und die Theorie entwickeln sich in ständiger Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Aber den Mut, die Arbeit mit den Fallbeispielen zu beginnen, hatte die Autorin dann wohl doch nicht. Sie folgt in der schriftlichen Darstellung dem klassischen Aufbau: Klärung der relevanten Grundbegriffe, Überblick zu vorliegenden Theorien und Forschungsarbeiten, Formulierung der Forschungsfragen, Darstellung der Forschungsmethoden und Auswertung der empirischen Mix-Methods-Zugriffe.

Die ersten drei Kapitel im Umfang von 120 Seiten liefern einen kritischen Überblick über pädagogische Ansätze, die Jasmin Zimmer für relevant hält (darunter auch Rudolf Steiner), und docken schließlich nachvollziehbar am Bildungsverständnis des Pädagogen Volker Ladenthin an. Besonderheiten frühkindlicher Pädagogik werden herausgearbeitet und auf medienbezogene Pädagogik zugespitzt. Der Medienbegriff bleibt sehr offen. Die Begriffe und Konzepte der Medienmündigkeit (Bleckmann) und Medienbildung (Jörissen/Marotzki) werden den Kompetenzmodellen nachvollziehbar begründet vorgezogen. Einer empirisch begründeten Einsicht entspricht das Fazit aus den theoretischen Einlassungen, dass PädagogInnen letztlich für jeden Einzelfall eine Entscheidung für oder gegen den Einsatz digitaler Medien treffen und dies begründen müssen (vgl. S. 121).

Der empirische Teil umfasst die Anlage und Auswertung einer quantitativen (allerdings nicht einheitlichen) Befragung von 424 Fachkräften und die Auswertung von qualitativen Interviews mit elf ausgewählten Fachkräften. Die Autorin fokussiert auf das Bildungsverständnis, die Mediensozialisation und die Medienhaltung der PädagogInnen und zeigt Zusammenhänge zu deren Bewertung des Einsatzes von (digitalen) Medien. Es liegt (eher) nicht (mehr) an Mängeln bei den pädagogischen Fachkräften, etwa an Medienwissen, -kompetenz, privater Ausstattung und eigener Erfahrung, wie bisherige Forschungen nahegelegt haben. Selbsteinschätzung der Medienkompetenz und private Mediennutzung haben sich weitgehend dem allgemeinen Durchschnitt angepasst. Und die Rahmenbedingungen (Vorhandensein von Geräten, Konzepten, Haltung des Trägers und der Einrichtungsleitungen) sind Einflussfaktoren, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Haltungen der Pädagogen zum Medieneinsatz.

Die Verfasserin hat nicht nur mit den Überblicken, sondern vor allem mit den empirischen Zugriffen und deren exakter Auswertung viel Aufwand betrieben. Die Auswertung der quantitativen Befragungsdaten ist sehr komplex und eher für Statistikexperten nachvollziehbar. Beim Lesen kann man sich nicht des Verdachtes erwehren, dass hier mathematisch errechnete Korrelationen menschliche Interpretationsleistungen verdecken; diese beginnen ja schon bei der Formulierung der Fragestellungen. Die Darstellung der Interview-Fallbeispiele ist (trotz der akribischen Transkriptionen mit allen „Ähs“) sehr interessant zu lesen und nachvollziehbar ausgewertet.

Die Ergebnisse dienen der Begründung einer Theorie: Im multidimensionalen Gefüge von intervenierenden und rahmenden Bedingungen scheinen das individuelle Bildungsverständnis der Fachkräfte und die Bewertung eigener medienbiografischer Erfahrungen wesentliche Ursachen für ihre jeweilige Haltung zur Verwendung von (digitalen) Medien zu sein.

Prof. i. R. Dr. Bernward Hoffmann

[Anm. d. R.: Die Onlineversion dieser Rezension ist etwas ausführlicher als die Printausgabe und PDF-Datei.]