Menschen haben immer weniger Sex
Sind Medien die Ursache?
In unterschiedlichen Ländern haben alle etwas weniger Sex, in Deutschland sind hauptsächlich die Singles betroffen: „Seit ein paar Jahren zeigt sich in einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Studien, dass Menschen weniger Sex haben als vor 15 oder 20 Jahren. Dies trifft auf Deutschland genauso zu wie auf die USA, Japan, Australien, Finnland und Großbritannien, also rund um den Globus. Die Abnahme zeigt sich sowohl bei Männern als auch bei Frauen über verschiedene Altersgruppen hinweg (Beutel/Burghardt et al. 2018). Etliche Menschen haben weniger Sex, und der Anteil derer, die überhaupt keinen Sex hatten, nimmt ebenfalls zu. Zum Beispiel berichten junge Erwachsene in den USA häufiger, dass sie seit dem 18. Lebensjahr keinen Sex hatten, als die Generationen vor ihnen. In unserer aktuellen Untersuchung in Österreich gab fast die Hälfte an, dass sie gerne mehr Sex hätte (45 %), nur etwa die Hälfte (51 %) war zufrieden“ (Burghardt 2024, S. 11).
Sexualverhalten von Singles
Singles hatten schon immer weniger Sex als Paare, und die sexuellen Aktivitäten haben in den letzten Jahren weiter abgenommen. Alle Altersgruppen haben weniger Sex, vor allem aber Menschen unter 30 Jahren. Auch Oralsex oder Analsex werden weniger praktiziert, es wird sogar weniger masturbiert, so Burghardt in ihrem Buch. Als eine Ursache dafür sieht sie die Abnahme zwischenmenschlicher Kontakte und Freundschaften. Diese seien aber wichtig für die Gesundheit und das psychische Wohlbefinden. Freundschaften geben uns ein Sicherheitsgefühl und helfen, Stress zu reduzieren. Wir fühlen uns psychisch gesünder und kommen besser über negative Gedanken hinweg. Wir sind dadurch insgesamt offener für Intimität.
„Viele Menschen, die in einer Beziehung leben, träumen vom freien, ungebundenen Leben als Single. Sie glauben, Singles würden, wann immer sie wollen, in fremden Betten aufwachen. Sie könnten sich freudig dem Nervenkitzel widmen, neue Körper zu erkunden, und so viel Sex haben, wie sie wollen; am besten noch, mit wem sie wollen. Diese Vorstellungen gehen an der Realität vorbei. Die Menschen, die keinen Partner haben, werden wissen, dass das nicht den Tatsachen entspricht. Im Schnitt haben Menschen, die in Partnerschaften leben, wesentlich häufiger Sex als Singles. Die Zahlen unterscheiden sich je nach Studie, aber oft zeigt sich, dass die Mehrheit der Singles (40 %) im Laufe eines Jahres überhaupt keinen Sex hat, während die meisten Menschen, die in einer Partnerschaft leben, einmal die Woche oder häufiger Sex haben. Natürlich haben auch unter den Singles einige täglich Sex, das sind aber lediglich 3 %“ (Burghardt 2024, S. 90).
Die Erwartungen an Sex sind extrem hoch. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass unterschiedlichste Arten von Beziehungen und sexuellen Aktivitäten medial attraktiv inszeniert werden.“
Hohe Erwartungen: Ernüchterung in der Realität
Die Erwartungen an Sex sind extrem hoch. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass unterschiedlichste Arten von Beziehungen und sexuellen Aktivitäten medial attraktiv inszeniert werden. Es gibt kaum einen Spielfilm oder eine Serie, ohne dass Beziehungen und Sexualität eine zentrale Rolle spielen. Dabei geht es um Betrug, um Fremdgehen bis zu Hass und Tötungen, aber auch um Liebesbeziehungen, die erst nach Stress und Gefahren ein glückliches Ende finden. Dadurch sind die Erwartungen der Zuschauer an persönliche Erfahrungen oft sehr ambivalent: Die Angst, enttäuscht zu werden, ist relativ groß.
Hohe Erwartungen werden medial nicht nur durch eine unrealistische Darstellungsweise von Sex und Beziehung geschürt; auch die schiere Bandbreite der medial vermittelten Spielarten der Sexualität oder auch das Angebot aller möglicher Pharmazeutika kann schnell zu einer Überforderung führen. Hinzu kommt, dass sich die Medien nicht auf den Durchschnittsmenschen mit normaler Attraktivität beziehen, sondern Schauspieler mit hoher Attraktivität engagieren. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die fiktional vermittelten Vorstellungen von Beziehungen bezüglich der optischen Attraktivität oder der Unterhaltsamkeit und Einfühlsamkeit der Menschen mit den Möglichkeiten des realen Lebens nicht übereinstimmen.
Die hohen Erwartungen an die sexuelle Befriedigung erhöhen das Risiko der Enttäuschung und des Scheiterns, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden: Man selbst kann dem anderen nicht genügen, oder man ist vom Partner enttäuscht.
Dating-Apps
Bei der Fokussierung auf Sexualität in den Medien, aber auch in der öffentlichen Diskussion wird oft vernachlässigt, dass positiv empfundener Sex in einer Partnerschaft nicht allein von der sexuellen Befriedigung abhängt, sondern gleichermaßen von zwischenmenschlichen Interaktionen: körperliche Attraktivität, beiderseitige Interessen, passende Gewohnheiten, Hobbys, aber auch Geruch, Haut und Stimme. Kann man die sexuelle Lust von persönlichen Gefühlen für einen Menschen komplett trennen?
Viele Menschen suchen nach gelingenden sexuellen Aktivitäten und Befriedigungen. Dafür stehen heute zahlreiche Dating-Apps zur Verfügung, die eine schnelle Kontaktaufnahme ermöglichen: Man kann darin genau seine Bedürfnisse formulieren und das erwünschte Gegenüber beschreiben, man kann auch klar sagen, was man nicht will. Aber trifft die Selbstdarstellung der Person auch tatsächlich zu und passen die Erwartungen zueinander?
Ein weiteres Problem: Während man im realen Leben schon mal Eigenschaften hinnimmt, die nicht optimal zu einem passen, kann man in Dating-Apps sofort nach der nächsten Person schauen und hoffen, dass die oder der besser passt. Dr. Wera Aretz, Wirtschaftspsychologie-Professorin an der Hochschule Fresenius in Köln, kommt in ihrer Untersuchung zu folgendem Ergebnis: „[V]iele Nutzer erklären, durch Online-Dating sei es schwieriger geworden, im ‚realen Leben‘ jemanden kennenzulernen – und das ist noch nicht alles: Zwölf bis 14 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer von Dating-Apps leiden einer neuen Untersuchung zufolge sogar unter Burnout-ähnlichen Symptomen – ‚Online-Dating-Burnout‘ lautet die Diagnose“ (BR24, 2024). Außerdem: Wenn ein Sexpartner jederzeit austauschbar ist und immer ein anderer zur Verfügung steht, wenn dieser ausfällt, verliert die Person möglicherweise an Bedeutung und wird zu einem Objekt, das man nutzen, aber auch austauschen kann.
Sex und Liebe
In der Diskussion wird oft ein Gefühl vergessen, das in der Lebenswirklichkeit eine enorm große Rolle spielt: „Liebe wird oft als das stärkste Gefühl beschrieben und ist dabei äußerst ambivalent. Manche Menschen treibt sie in Zustände des vollkommenen Glücks, andere katapultiert sie in die Depression. Sie verfügt über die Kraft, alle moralischen Hemmschwellen über Bord zu werfen. Ein großer Teil der Morde sind Beziehungstaten, bei denen Besitzansprüche, Eifersucht und Enttäuschung auf die Liebe zurückzuführen sind. – Aber auch das Gegenteil ist möglich: Die Liebe ist ein Gefühl mit biochemischer Grundlage und neurobiologischen Mustern, die es uns Menschen ermöglicht und vereinfacht, Bindungen einzugehen. Sie stärkt das Miteinander, erhöht evolutiv betrachtet den Paarungserfolg und die Chancen auf gesunden Nachwuchs. Das sichert einer Spezies das Überleben“ (Tertilt 2024).Evolutionär gesehen bringen sexuelle Anziehungskraft und Liebe vor allem Frauen und Männer zusammen. Der Trieb ist auf Fortpflanzung ausgerichtet; die Liebe motiviert, den Nachwuchs großzuziehen, bis dieser selbst überlebensfähig ist. Die gegenseitige sexuelle Attraktivität und die Reproduktion führen auch dazu, dass sich das Erbgut der Eltern optimal kombiniert. Auch wenn irgendwann die Verliebtheit nachlässt, ermöglicht die Liebesbeziehung oft noch Partnerschaft mit Vertrauen, Nähe und Geborgenheit. Das bestätigt auch Burghardt: „Zwei Systeme regulieren und treiben die menschliche Sexualität an: das Sexualsystem und das Bindungssystem. Das Sexualsystem signalisiert, ‚Du solltest mal wieder Sex haben.‘ Das Bindungssystem signalisiert, ‚Den habe ich lieb, dem möchte ich nahe sein.‘ Die Systeme agieren relativ unabhängig voneinander, das heißt, das eine kann aktiviert sein, während das andere untätig bleibt. Wie gut der Sex ist, entscheidet sich durch das Zusammenspiel beider Systeme“ (Burghardt 2024, S. 79).
Attraktiver Sex in den Medien
In der Werbung wird der Wunsch nach Produkten oft dadurch gesteigert, dass man sie in Verbindung mit attraktiven Frauen zeigt, wobei die sexuell stimulierenden Körperteile optisch in den Vordergrund gerückt werden. Wer keine Beziehung hat, dem stehen Prostitution und Pornografie zur Verfügung, die in Deutschland mittlerweile erlaubt sind. Zwar unterliegen beide strengen Jugendschutzbestimmungen und dürfen eigentlich nur für Erwachsene nutzbar sein, über Pornografie sind aber fast jedem (vor allem männlichen) Jugendlichen ab circa 13 oder 14 Jahren so ziemlich alle sexuellen Praktiken bekannt. Allerdings: Welche Konsequenzen so weitgehende Kenntnisse, die meist bereits vor eigenen sexuellen Erfahrungen vorhanden sind, für die Entwicklung einer eigenen Sexualität in einer eigenen Beziehung zur Folge haben, ist bisher wissenschaftlich nicht untersucht worden, jedenfalls nicht empirisch an Minderjährigen. Es gibt zwar zahlreiche Wirkungsvermutungen, das sind aber Schreibtischtheorien.
Belastbare Untersuchungen zu der Frage, wie Pornografie auf Jugendliche wirkt, wurden bisher nicht durchgeführt, obwohl das viele anmahnen. Der Grund für das Fehlen empirischer Untersuchungen liegt in der Forschungsethik: Man will Kinder und Jugendliche nicht zu Forschungszwecken mit Pornografie konfrontieren.“
Innerhalb der Kirchen hat man lange Zeit befürchtet, sexuell stimulierende Bilder oder Filme würden aufgrund ihrer hohen Stimulanz zu einer Verfrühung erster sexueller Erfahrungen führen. In einem Fachausschuss, den der Deutsche Bundestag zur Reform des Sexualstrafrechts 1970 befragte, ob und inwieweit man Pornografie in Deutschland zulassen könne, wurde eine andere Befürchtung formuliert: Jugendliche könnten die sexuelle Stimulanz und die sexuelle Lust von der Verantwortung in einer Beziehung trennen und dadurch auch in ihrem realen Leben ausschließlich nach sexueller Stimulanz ohne Verantwortung in der Beziehung suchen. Die Position wurde und wird teilweise auch noch im Jugendschutz vertreten.
Belastbare Untersuchungen zu der Frage, wie Pornografie auf Jugendliche wirkt, wurden bisher nicht durchgeführt, obwohl das viele anmahnen. Der Grund für das Fehlen empirischer Untersuchungen liegt in der Forschungsethik: Man will Kinder und Jugendliche nicht zu Forschungszwecken mit Pornografie konfrontieren. Heute könnte man sich theoretisch auf Jugendliche beschränken, die bereits Erfahrungen mit Pornografie haben und denen man sie deshalb nicht vorführen muss. Rudolf Stark, Professor für Psychotherapie und Systemneurowissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, hatte entsprechende Forschung vor, stieß aber auf Ablehnung: „[A]us Sicht der Ethikkommission könnten Jugendliche allein durch diese Frage auf die Idee kommen, Pornografie zu konsumieren. Ich habe es irgendwann aufgegeben, dazu Studien durchführen zu wollen. Jeder sagt, wir müssen darüber viel mehr wissen. Aber gleichzeitig gibt es viele praktische Probleme. Man kann unter anderem schnell mit Eltern in Konflikte geraten. Das ist also ein vermintes Gebiet“ (Gottberg 2024).
Jugendliche: Erst das richtige Gegenüber finden
Auch in Bezug auf die Jugendlichen zeigt sich eine interessante Diskrepanz: Während Pornografiekonsum bei den ab 13-Jährigen fast zur Normalität gehört, spiegelt sich dieses Interesse an Sex in der Realität nicht wider. Das durchschnittliche Alter des ersten Geschlechtsverkehrs steigt seit einiger Zeit wieder, so das Ergebnis der Studie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): „Hierzu erklärt Prof. Dr. med. Heidrun Thaiss, Leiterin der BZgA: ‚Annahmen, wonach immer mehr junge Menschen immer früher sexuell aktiv werden, bestätigen sich nicht. Im Gegenteil: Im Alter zwischen 14 und 16 Jahren geben deutlich weniger Mädchen und Jungen an, sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben als noch vor zehn Jahren.‘ Während sexuelle Aktivitäten unter den 14-Jährigen insgesamt mit durchschnittlich vier Prozent noch die Ausnahme sind, hat im Alter von 17 Jahren mehr als die Hälfte Geschlechtsverkehr-Erfahrung. Junge Frauen deutscher Herkunft haben im Alter von 17 Jahren im Durchschnitt zu knapp 70 Prozent das ‚erste Mal‘ erlebt. Bei den gleichaltrigen Frauen mit ausländischen Wurzeln sind es 37 Prozent. Unter den 17-jährigen Jungen sind es 64 beziehungsweise 59 Prozent. Gefragt nach den Gründen, warum sie noch nicht sexuell aktiv sind, geben Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren zu 55 Prozent vor allem das Fehlen des oder der Richtigen und/oder zu 41 Prozent ein zu junges Alter an. Mit 48 Prozent halten sich aktuell vor allem deutlich mehr Mädchen für zu jung für das ‚erste Mal‘ als 2014 mit 35 Prozent“ (BZgA 2020).
Pornografiekonsum reduziert die Stimulanz
Einiges spricht dafür, dass häufiges Konsumieren von Pornografie zu einer quantitativen Reduzierung des Belohnungsgefühls durch das Gehirn führt. Die Berliner Wissenschaftler Simone Kühn und Jürgen Gallinatkamen in der Studie Structural Correlates and Functional Connectivity Associated With Pornography Consumption: The Brain on Porn, die an der Charité in Berlin mithilfe des MRT durchgeführt wurde, zu folgendem Ergebnis: „Die Auswertung der Ergebnisse zeigte einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Stunden, die die Probanden in der Woche mit pornografischem Material verbringen, und der Größe der grauen Substanz im gesamten Gehirn. Im Ergebnis zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Pornographiekonsum und der Größe des Striatums, einer Hirnregion, die zum Belohnungssystem des Gehirns gehört. Das heißt: Je mehr sich die Probanden mit Pornografie beschäftigten, desto kleiner war das Volumen ihres Striatums. ‚Das könnte bedeuten, dass der regelmäßige Konsum von Pornografie das Belohnungssystem gewissermaßen ausleiert‘, sagt Simone Kühn, Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin im Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung“ (Kühn/Gallinat 2014).
Und: „Außerdem war die Belohnungsaktivität des Gehirns bei Probanden, die häufiger und regelmäßiger Pornografie konsumieren, beim Anblick sexuell stimulierender Bilder deutlich geringer als bei Probanden mit seltenem und unregelmäßigem Pornografiekonsum. ‚Deswegen nehmen wir an, dass Probanden mit hohem Konsum immer stärkere Anreize benötigen, um das gleiche Belohnungsniveau zu erreichen‘, so Simone Kühn. Dies legen auch die funktionellen Verbindungen des Striatums zu anderen Hirnregionen nahe, denn bei höherem Pornografiekonsum war die Kommunikation zwischen der Belohnungsregion und dem präfrontalen Kortex schwächer. Der präfrontale Kortex trägt gemeinsam mit dem Striatum zur Motivation bei und scheint dabei das Streben nach Belohnung zu steuern“ (ebd.). Wenn sich diese Reduzierung der sexuellen Reize auch auf Sexualpartner überträgt, ist es wahrscheinlich, dass auch hier eine Reduzierung der Stimulanz stattfindet und das Bedürfnis nach sexueller Aktion reduziert wird.
Über die Pornografie kann man sich praktisch jede Stimulanz, jede Spielart und jede Form von Attraktivität einfach kaufen und unabhängig von der eigenen Attraktivität und der persönlichen Ausstrahlung genießen – allerdings nur visuell. Man muss auch keine Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer nehmen. Die Lustbefriedigung mit realen Menschen ist viel aufwendiger und beinhaltet das Risiko, zurückgewiesen und gedemütigt zu werden. Wer das ein paar Mal erfahren hat, wird möglicherweise Hemmungen haben, es ein nächstes Mal zu versuchen.
Die Digitalisierung unserer Beziehungen
Burghardt sieht in der Digitalisierung der Kommunikation den wichtigsn Grund dafür, dass sich unser reales Sozial- und Sexualleben reduziert. Das Smartphone und andere digitale Medien, die wir immer mehr nutzen, unterstützen uns nicht darin, uns mit anderen verbunden zu fühlen. Die Kommunikation über das Smartphone, besonders bei Textnachrichten, ist eine „vermittelte Kommunikation“: Sie wird durch eine Technik übertragen. Da fehlen viele Informationen und Wahrnehmungen: Wir hören die Stimme nicht, wir sehen und riechen die Person nicht richtig, wir erkennen keine Mimik und Gestik. Bei einer realen Begegnung können wir besser verstehen, was in der anderen Person vor sich geht. Dadurch fühlen wir uns viel stärker miteinander verbunden.
Und:Je mehr wir über das Handy kommunizieren, desto weniger können wir uns auf Menschen konzentrieren: „Die ‚altmodische‘ direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht kann sich auf die hoch spezialisierten menschlichen Fähigkeiten der Emotionserkennung, der Theory of Mind, und der Empathie verlassen. Der Mensch kann sein Gegenüber zuverlässig einschätzen, wir kommunizieren pausenlos unsere Stimmung, unsere Emotionen und Befindlichkeiten in unserer Köperhaltung, in unserer Mimik, Gestik und Tonlage. Unser Gegenüber nimmt diese Signale auf und versteht natürlich nicht alles, aber viel von dem, was uns bewegt. Diese Signale sind eine unermessliche Quelle an Zusatzinformation, die wir unseren Worten hinzufügen“ (Burghardt 2024, S. 104).
Das Smartphone und andere digitale Medien, die wir immer mehr nutzen, unterstützen uns nicht darin, uns mit anderen verbunden zu fühlen.“
Mit den Handys ist jeder in seinen Parallelwelten unterwegs, und auch, wenn man zwischendurch miteinander spricht, lebt man nicht unbedingt in der gleichen Realität. Man ist leicht ablenkbar und konzentriert sich weniger auf das Gegenüber. Hinzu kommt, dass normale spontane Gespräche nicht immer den gleichen Spannungsbogen aufweisen wie das, was die sozialen Netzwerke bieten. Während ein normales Gespräch spontan entsteht und deshalb oft nicht wirklich überlegt ist, können sich die Produzenten von Posts viel intensiver darüber Gedanken machen, welche langweiligen Stellen herausgeschnitten werden, um den Inhalt zu optimieren und spannender zu gestalten. Und dadurch verlieren die kleinen Fragmente, die in der realen Unterhaltung für eine funktionierende Partnerschaft enorm wichtig sind, an Bedeutung.
Vorschlag: Handyetikette
Burghardt sieht vor allem in der Fokussierung auf das Smartphone den Grund für die Reduzierung zwischenmenschlicher Beziehung: Die digitale Kommunikation dominiert die persönliche Interaktion Sie schlägt eine neue Kultur der Integration der Smartphonenutzung in unsere Lebenswelt vor, mit dem Ziel, die persönlichen Kontakte in den Vordergrund zu rücken. Wir sollten als Gesellschaft eine Art Handyetikette entwickeln, eine allgemein bekannte und akzeptierte Vorstellung darüber, wie man am besten mit dem Handy umgehen kann und welche Rolle es im Umgang mit anderen Menschen spielen sollte. Zum Beispiel sollte man den Gesprächspartner vorwarnen, bevor man das Handy während einer Unterhaltung nutzt. Oder die Unterhaltung selbst muss dadurch interessanter werden, dass ich das Handy heraushole, um etwa eine Frage beantworten zu können, deren Lösung keinem der Beteiligten einfällt. Oder man vereinbart einen bestimmten Zeitraum, in dem das Handy genutzt werden darf, oder erklärt kurz, wofür das Handy jetzt gerade genutzt werden muss. (Doğan 2024)
Auch Facebook, Instagram, oder TikTok binden vor allem Jugendliche an sich und reduzieren deren persönliche Kommunikation: „Eine Reihe von Studien zeigen, dass Menschen, die mehr soziale Medien nutzen, einsamer sind als Menschen, die weniger soziale Medien nutzen. Wer häufig und intensiv soziale Medien nutzt, hat ein höheres Risiko, sich einsam und isoliert zu fühlen. Man könnte deshalb auf die Idee kommen, dass man ganz auf soziale Medien verzichten sollte. ‚Einige wissenschaftliche Studien haben das in die Tat umgesetzt und Versuchspersonen gebeten, für mehrere Wochen auf Facebook und Co. zu verzichten. Überraschenderweise führte der völlige Verzicht von sozialen Medien zu mehr Einsamkeit und einer geringeren Lebenszufriedenheit‘“ (Burghardt 2024, S. 113). Es geht also nicht um Verzicht, sondern um den kontrollierten Umgang mit den digitalen Medien.
Literatur:
Beutel, M. E./Burghardt, J./Tibubos, A. N./Klein, E. M./Schmutzer, G./Brähler, E.: Declining Sexual Activity and Desire in Men – Findings From Representative German Surveys, 2005 and 2016. In: The Journal of Sexual Medicine, 5/2018/15, S. 750-756. Abrufbar unter: ScienceDirect (letzter Zugriff: 26.11.2024)
Burghardt, J.: Alles kann, nichts läuft. Warum wir immer weniger Sex haben. Stuttgart 2024
Weiterführende Infos:
BR24: Millionen Menschen leiden an „Online-Dating-Burnout“. In: BR24, 27.02.2024. Abrufbar unter: www.br.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)
BZgA: Erste Ergebnisse der neuen Befragungswelle BZgA-Studie „Jugendsexualität“. In: BZgA, 03.12.2020. Abrufbar unter: www.bzga.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)
Doğan, A.: Juliane Burghardt zum Wandel der Sexualität. „Die Menschen haben immer weniger Sex“. In: The Pioneer – Der achte Tag, 28.04.2024. Abrufbar unter: www.thepioneer.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)
Gottberg, J. von: Sexuelle Angebote im Netz und ihre Wirkungen. Pornosucht und neue Ansätze der Therapie. Joachim von Gottberg im Gespräch mit Rudolf Stark. In: mediendiskurs.online, 24.01.2024. Abrufbar unter: mediendiskurs.online (letzter Zugriff: 26.11.2024)
Kühn, S./Gallinat, J.: Wer viele Pornos schaut, hat ein kleineres Belohnungssystem. In: Max-Planck-Istitut für Bildungsforschung, 02.06.2014. Abrufbar unter www.mpib-berlin.mpg.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)
SWR1 Leute: Juliane Burghardt | Psychologin | Deshalb herrscht bei vielen Flaute im Bett. In: SWR1 Leute, 25.03.2024. Abrufbar unter: www.ardmediathek.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)
Tertilt, M.: Hirnforschung. Das weiß die Wissenschaft über Liebe. In: Quarks, 22.09.2024. Abrufbar unter: www.quarks.de (letzter Zugriff: 26.11.2024)