Mind the Gap*s
Ein intergenerationelles Projekt bei DOXS RUHR
An „Mind the Gap*s“ beteiligten sich acht Menschen im Alter von 18 bis 68 Jahren, die alle beruflich auf unterschiedliche Weise dem Dokumentarfilm verbunden sind: Susanne Kim als Filmemacherin, Holger Tepe als Kinobetreiber, die Studentinnen Anastasia Glaser und Jihad Azahrai, der Kultur- und Medienarbeiter Stefan Schröer, Laura Mangala und Jamie Karasch vom Festivalprojekt kino.for you und ich als Journalistin, die den Kinder- und Jugendfilm zum Schwerpunkt hat.
Unsere Aufgabe war es, das Programm für einen Festivalabend zu kuratieren, also „Filme auszuwählen, die aus [unseren] Perspektiven heraus für Debatten im Kino besonders wertvoll erscheinen“ (doxs-ruhr.de). Wir alle waren bereits mehrmals bei DOXS RUHR zu Gast gewesen und wussten, dass bei den Filmveranstaltungen großer Wert auf das Gespräch mit dem Publikum gelegt wird. In einer Veranstaltung werden daher in der Regel nur drei kurze Filme präsentiert, um genügend Zeit zum Austausch zu lassen. Wir wussten also, dass wir von den vielen spannenden Produktionen aus den vergangenen zwei Jahren nur zwei oder drei würden auswählen können. Keine leichte Aufgabe.
Die Auswahlsichtung
Bereits im Mai dieses Jahres trafen wir uns zu einer ersten Sichtung im endstation.kino in Bochum. Bei der Vorstellungsrunde stellte sich heraus, dass Festivalleiterin Gudrun Sommer mit Blick auf die Alterszusammensetzung der Gruppe mindestens eine Vertreterin bzw. einen Vertreter der zurückliegenden Jahrzehnte eingeladen hatte.
Wir alle waren gespannt auf den Auswahlprozess und die Diskussionen, denn erfahrungsgemäß bestehen bei Jung und Alt oft recht unterschiedliche Weltsichten und Zukunftsvorstellungen. Bei solchen Auseinandersetzungen mangelt es schon mal an gegenseitigem Verständnis. Insofern waren wir neugierig, ob dies in unserer konkreten Zusammenarbeit zu einem Problem werden würde.
Zunächst einigten wir uns auf das Sichtungsprozedere. Wir schauten je nach Länge drei oder zwei Filme hintereinander und kamen dann zu einem Gedankenaustausch zusammen. Nach mehreren solcher Sichtungsblöcke wurde eine längere Gesprächsrunde eingelegt, und am Abend, also am Ende der Sichtung, gab es eine erste Entscheidungsdiskussion, in der wir auch schon über unsere Favoriten abstimmten.
Die Filme
Die Filme, die wir sichteten, sind weniger für Kinder, sondern eher für Jugendliche gedacht. Sie griffen verschiedene brennende Fragen unserer Zeit auf und unterschieden sich auch in ihrer Erzählweise und Machart. Als experimenteller Film gehörte die österreichische Produktion Allen Gipfeln über ist zum Sichtungsprogramm, die auch für den Grand Prix Ruhr nominiert war. Im Zeitraffer zeigt die Regisseurin und transmediale Künstlerin Lisa Kortschak wimmelbildartig das Geschehen auf einer beschaulichen Bergwiese, als diese von einer Wandergruppe heimgesucht wird.
Es ging um Flucht und Vertreibung, um Klimawandel und Klimaaktivismus, um Schwangerschaftsabbrüche, um Krankheit und Tod und erstaunlich oft um familiäre Konflikte. So setzt sich Filmemacherin Yara Khalil in ihrem Film Kine Em? | Wir und ich im Gespräch mit ihrem Vater und anhand von privaten Filmaufnahmen mit ihrer kurdischen Herkunft auseinander. Ella Rocca begibt sich in dem Film Sarebbe statu (Wäre gewesen) auf eine fiktive Wurzelsuche. Selbst aufgewachsen in der Schweiz, sucht Ella Rocca das Haus ihrer Großeltern in Italien auf. Dort befindet sich eine Wohnung, die nicht zu Ende gebaut wurde und in der Ella ein Zimmer bewohnt hätte. Doch Ella ist aus Italien weggezogen. Mit eindrucksvollen, körperlich inszenierten Bildern reflektiert Ella Rocca die eigenen italienischen Wurzeln, das Queersein und Sehnsüchte sowie Verluste.
Der Schweizer Animationsfilm Samochód, który wrócił znad morza (The Car that came back from the Sea) von Jadwiga Kowalska führt zurück nach Polen ins Jahr 1981, als die polnische Regierung im Dezember das Kriegsrecht verhängte. Im Sommer davor fahren sechs Freunde, angetrieben von dem Wunsch nach Freiheit und der Lust auf Abenteuer, mit ihrem Auto an die Ostsee. Unterwegs erleben sie, wie marode ihr Land ist. Sie kommen vorbei an demonstrierenden Menschenmassen, an Panzern und Polizeiaufgeboten. Am Ende stellt sich die Frage, ob ihre Reise an der Küste enden oder ob sie sich den vielen Menschen anschließen sollten, die das Land bereits verlassen haben.
Um das schon mal vorwegzunehmen: Dieser Film begeisterte alle Jurymitglieder durch seine Machart, wurde aber letztendlich nicht für das Programm ausgewählt. Abgesehen davon, dass wir bei der Vielzahl von interessanten Produktionen sowieso Schwierigkeiten hatten, Filme „wegzustreichen“, spielte hier fast das einzige Mal die Generationsfrage eine Rolle. Uns älteren Jurymitgliedern war der geschichtliche Hintergrund natürlich vertraut, während die Jüngeren mit Solidarność und der damaligen Situation in Polen wenig anfangen konnten und sich mehr historischen Kontext im Film gewünscht hätten.
TrailerSamochód, który wrócił znad morza | The Car that came back from the Sea | (LIAFanimation, 18.09.2024)
Eine erste Auswahl
Bereits nach der Mittagspause gab es eine ausführliche Diskussion über die bereits gesichteten Filme. Das Gespräch verlief ausgesprochen konstruktiv, respektvoll und einander zugewandt. Große generationelle Unterschiede hinsichtlich der Argumentation gab es erstaunlicher-, aber auch erfreulicherweise nicht. Ich habe unsere kuratorische Arbeit als sehr anregend empfunden. Einen kleinen Unterschied gab es in der Kommunikation: Während die Jüngeren beim Gendern eher die Sternchenpause mitsprachen, benutzten wir Älteren mehr die männliche und weibliche Form.
Endgültige Entscheidungen
Bei der abendlichen Schlussdiskussion ging es nicht nur darum, welche Filme wir favorisierten, sondern wie wir sie in Bezug zueinander setzen könnten. Denn unsere Aufgabe war ja, ein Programm zusammenzustellen, das einer gewissen Dramaturgie folgt. Zuerst stimmten wir ab, welche Filme wir auf jeden Fall gern präsentieren würden. Dabei kamen wir auf sieben Produktionen. Diese Auswahl auf drei zu reduzieren und dabei ein rundes Kinoerlebnis vor Augen zu haben, war wohl das schwierigste Unternehmen. Trotzdem blieb die Atmosphäre konstruktiv und ruhig.
Allein bei dem Dokumentarfilm was brennt von Jana Bauch über die Besetzung von Lützerath durch Klimaaktivist*innen und der späteren Räumung gab es eine etwas hitzigere Debatte. Ich hatte schon im Vorfeld angemerkt, dass mir in Kameraführung und Bildsprache eine kritische Distanz fehle. Allerdings stand die Frage im Raum, ob dieser Film nicht gerade Jugendliche interessieren würde, für die wir das Programm ja hauptsächlich kuratierten. Doch wer sind die Jugendlichen und kann man sie alle über einen Kamm scheren? Das war der Punkt, an dem sich die Diskussion unter den Jüngeren in der Gruppe entfachte. Spannende und für mich sehr erhellende Argumente kamen dabei zum Vorschein, u. a. dass der Protest der Klimaaktivist*innen eher ein weißer Protest sei, während Jugendliche mit Migrationshintergrund sich eher für die rassistischen Anschläge in Hanau interessieren würden.
Letztendlich entschieden wir uns für den Dokumentarfilm No Crying at the Dinner Table der vietnamesisch-kanadischen Regisseurin Carol Nguyen. In ihrem in dunklen Farben gedrehten Film lässt sie ihre Eltern sowie ihre Schwester Michelle am Tisch Platz nehmen. Gemeinsam hören sie sich die Interviews an, die die Filmemacherin mit ihnen geführt hat. In den Interviews geht es um die Tabuisierung von Gefühlen. So erzählt Carols Mutter, warum sie ihre eigene Mutter zum ersten Mal geküsst hat, als diese im hohen Alter schwer krank war, oder Michelle reflektiert, wie sehr sie sich als Kind nach ihren Eltern gesehnt hat, die immer nur gearbeitet haben. Am Schluss können sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen, weinen und lachen miteinander. No Crying at the Dinner Table ist ein sehr intimer, emotional mitreißender Film, der ähnlich einem Kammerspiel aufgebaut ist. Er stellte einen wunderbaren, berührenden Einstieg in den Filmabend dar und erhielt am Ende des Festivals den Grand Prix Ruhr.
No Crying at the Dinner Table | Kein Weinen am Esstisch (Univers Court, 02.03.2022)
Der zweite Beitrag in unserem Programm weitete den Blick auf Familienkonflikte und öffnete die Perspektive auf räumlicher wie sozialer Ebene. Denn in A Move von Elahe Esmaili kehrt die Filmemacherin in ihre Heimatstadt Maschhad im Iran zurück, um ihren Eltern beim Umzug zu helfen. Im Gegensatz zu den Frauen in ihrer Familie hat sie den Hijab abgelegt. Immer mit der Kamera dabei, zeigt sie die Reaktionen ihrer Verwandten, vor allem, als sie bei ihrem Onkel Hossein zu einem großen Familientreffen eingeladen ist. Laut Aussage der Regisseurin gab es für die Dreharbeiten keine Absprachen, die Familie wurde also der Authentizität zuliebe mit ihrer Entscheidung überrascht. Allerdings hofft Elahe Esmaili, die für Kinder- und Frauenrechte eintritt, mit ihrem mutigen Film vielleicht ein Umdenken in ihrer Familie erreicht zu haben.
Trailer A Move (visionsdureel, 19.03.2024)
Den Abschluss unseres Programms bildete der Animationsfilm des polnischen Regisseurs Szymon Ruczyński mit dem Titel W lesie są ludzie (There Are People in the Forest). Von der Vogelperspektive aus lässt er auf einen Wald an der polnischen EU-Außengrenze zu Belarus blicken, wo flüchtende Menschen von Soldaten beider Seiten hin- und hergeschickt werden, im Wald campieren und immer wieder an Stacheldrahtzäune stoßen. Mit einfachen Mitteln, im Stil von Kinderzeichnungen und ohne Dialoge, bringt Szymon Ruczyński hier eine der großen Tragödien unserer Zeit auf die Leinwand.
W lesie są ludzie | There Are People in the Forest (KrakowFilmFestival, 11.04.2024)
Der Filmabend
Unser Programm, präsentiert und moderiert von den jüngeren Projektmitgliedern, wurde begeistert aufgenommen – von einem Publikum, das übrigens ähnlich intergenerationell zusammengesetzt war wie unsere Auswahlgruppe.
Für mich war dieses Projekt spannend, anregend, und es hat viel Spaß gemacht. Vielleicht sollten wir den Generationenkonflikt generell etwas unaufgeregter betrachten und Menschen unterschiedlichen Alters einfach öfter Gelegenheiten bieten, miteinander ins Gespräch zu kommen …
DOXS RUHR wurde vor zwölf Jahren als regionales Spin-off des Duisburger doxs!-Festivals unter der Leitung von Gudrun Sommer gegründet. Initiator und Träger ist der Verein Freund*innen der Realität e.V. Seit 2022 findet DOXS RUHR unabhängig von der Duisburger Kinder- und Jugendsektion an verschiedenen Standorten im Ruhrgebiet statt.
Quellen:
DOXS RUHR: Lasst uns reden. Debatten & Generationen bei DOXS RUHR. Pressemitteilung vom 14.10.2024. Abrufbar unter: www.doxs-ruhr.de
doxs-ruhr.de: Wir sehen das anders: Mind the Gap*s. In: doxs-ruhr.de/kino-for-you. Abrufbar unter: www.doxs-ruhr.de/kino-for-you