Mittelalter und Populärkultur
Rezeption – Aneignung – Beachtung
Bielefeld 2024: transcript
Rezensent/-in:
Uwe Breitenborn
Game of Thrones, Hobbits, Vikings, Ragnarök oder die Artus-Sage. Das Mittelalter, dem wir in der Populärkultur begegnen, ist selten wissenschaftlich und geschichtlich exakt beschrieben, aber es ist eine attraktive Projektionsfläche für alle Spielarten von Reflexionen zur Gegenwart. Basierend auf einer Ringvorlesung an der Universität Siegen analysiert der interdisziplinäre Sammelband Mittelalter und Populärkultur die vielfältigen Transformationen des Mittelalters in populärkulturellen Medien.
Im Zentrum steht die These, dass es sich bei dem heute rezipierten Mittelalter um ein kulturell konstruiertes, ästhetisiertes und emotional aufgeladenes „neomediävales“ Imaginäres handelt, das mehr über gegenwärtige kulturelle Normen und Ideologien verrät als über die historische Realität. Mittelalterlichkeit beschreibt „die ästhetischen Verfahren der Aneignung und Adaption des Mittelalters durch populärkulturelle Medien, Diskurse und Praktiken“ und „bedient sich Stereotypen, Archetypen und ikonischer Bilder vom Mittelalter, die in der Populärkultur […] bekannt sind: der ritterliche Zweikampf, die höfische Dame auf der Zinne einer hoch gelegenen Burg, das Schlachtengetümmel kämpfender Krieger in Rüstung, der Kampf eines Ritters mit dem Drachen usw.“ (S. 13). Diese populären Darstellungen orientieren sich vor allem an affektiven Erwartungen des Publikums und erzeugen eine mittelalterliche Atmosphäre, die auf historische Faktizität kaum angewiesen ist. Oft handelt es sich um ästhetische Arrangements, die auch mit gegenwärtigen Diskursen z. B. über Identität, Geschlecht, Klasse oder Ethnizität verschränkt sind. Vieles dreht sich um Authentizität.
Der Band beleuchtet zudem kritisch die politische Instrumentalisierung des Mittelalters, die von nationalistischen Rekonstruktionen bis hin zur legitimierenden Referenz für rigide und zumeist reaktionäre Gesellschaftsmodelle reicht.
Die Beiträge analysieren gegenwärtige und historische Aspekte der Populärkultur – von Texten, Filmen und Serien über Spiele und Produktwerbung bis hin zu Musik – und untersuchen Formen, Wirkungen und Strategien (neo‑)mediävaler Rezeption und Inszenierung. Dabei kommen vielfältige methodische Ansätze zum Einsatz (z. B. aus Literatur- und Game Studies). Hans Rudolf Velten, Professor für deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters, sowie die Wissenschaftlerin Theresa Specht versammeln in dem Band deutsch- und englischsprachige Beiträge (inkl. Einführung und Begriffsdifferenzierung), die sich sehr speziellen Facetten der Mittelalterrezeption widmen. Die stichpunktartige Auflistung der Themen zeigt das Spektrum, das die geneigte Leserschaft zu erwarten hat: die Rolle historischer Reklame-Sammelbilder für die Popularisierung des Mittelalters (Angela Schwarz), das Mittelalter im modernen Brettspiel (Robert Schöller), kollektives Wissen über das Mittelalter auf der Spielplattform Steam (Helen Young), mittelalterliche Welten in analogen Rollenspielen (Anja Müller), Konstantinopel als Hauptstadt des mittelalterlichen Byzanz im Heavy Metal (Antje Bosselmann-Ruickbie), Wirklichkeitskonstruktion durch Populären Realismus in Tolkiens Mittelerde-Geschichten (Niels Werber) oder die neomediävale Buchästhetik in der Fantasyliteratur (Theresa Specht). Und natürlich darf auch die Artus-Sage nicht fehlen, die mehrfach betrachtet wird, wie beispielsweise intersektionale Perspektiven auf den Artus-Stoff in Kinder- und Jugendmedien (Lea Braun), der Sehnsuchtsort Avalon (Andrea Schindler), der hybride Mythos im Film oder völkische Aspekte der Artus-Sagen-Rezeption (beides Silvan Wagner).
Die Lektüre der wissenschaftlichen Beiträge erfordert zwar gewisse Vorkenntnisse, bleibt jedoch gut anschlussfähig. In Zeiten, in denen Popkultur zunehmend zur Deutungsinstanz für Geschichte und Identität wird, liefert das Buch durchaus ein Korrektiv. Es macht deutlich, dass „mittelalterliche Authentizität“ oft nicht auf historischer Wahrheit basiert, sondern diskursiv erzeugt wird – etwa über Serien, Computerspiele oder Fantasyromane. Eine kritische Reflexion über die Rolle populärer Mittelalterbilder ist daher auch für aktuelle Diskussionen relevant.
Dr. Uwe Breitenborn
Hans Rudolf Velten, Theresa Specht (Hrsg.): Mittelalter und Populärkultur. Rezeption – Aneignung – Beachtung. Reihe Populäres Mittelalter, Bd. 5. Bielefeld 2024: transcript. 352 Seiten, 55,00 Euro
