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Von der Notwendigkeit rassismuskritischer Perspektiven: die FSF-Jahrestagung 2024

Matthias Struch

Matthias Struch studierte Kunstgeschichte und Neuere Geschichte. Er ist Hauptamtlicher Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Sammlungsleiter im Deutschen Historischen Museum.

Die Film- und Fernsehgeschichte ist bis in ihre Anfänge zurück voll von rassistischen und anderen diffamierenden und diskriminierenden Darstellungen, voll von N- und Z-Wörtern, Zuschreibungen und klischierten Rollenbildern. Und wir stoßen in ganz unterschiedlichen Ausprägungen auf sie, vorgebracht mit verschiedenen Intentionen – inhaltlich, verbal oder in der Darstellung.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 26-35

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Zuckt heute ein in großen Teilen waches und nicht nur auf sprachlicher Ebene sensibles Publikum bei jedem N- und Z-Wort zusammen und erkennt problematische Darstellungen schon in ihren Ansätzen, stellt sich die Frage, wie es so viele Jahrzehnte eigentlich anders laufen konnte. Löste der offenkundige Rassismus in David Wark Griffiths monumentalem Historienfilm The Birth of a Nation (USA 1915) schon bei seiner Premiere wütende Proteste und Demonstrationen aus, wurden die rassistischen Stereotype und das romantisierende Bild der Sklaverei in Victor Flemings Gone with the Wind (Vom Winde verweht [USA 1939]) meist nur von afroamerikanischen Kritiker*innen und erst sehr spät von der weißen Mehrheitsgesellschaft „entdeckt“. Beide Filme galten lange als Meilensteine, als Klassiker der Filmgeschichte, heute ist jede öffentliche Aufführung ein Problem; gestreamt wird Vom Winde verweht derzeit nur mit einem entsprechenden Disclaimer.

 


Doch auch in zeitgenössischeren Produktionen irrlichtern Denkmuster und Stereotype herum oder treten massiv hervor wie beispielsweise 2021 in Die letzte Instanz, einem früheren WDR-Talkformat, in dem sich fünf der deutschen Mehrheitsgesellschaft angehörende Medienmenschen – Steffen Hallaschka, Jürgen Milski, Micky Beisenherz, Janine Kunze, Thomas Gottschalk – ohne Rassismuserfahrung über Rassismus und Diskriminierung unterhielten und sich auch das Z-Schnitzel nicht nehmen lassen wollten; für viele eine Art öffentlich-rechtlicher Offenbarungseid. Und folgt man der Einschätzung von Schauspieler und Produzent Tyron Ricketts, der dem deutschen Film immer noch eine rassistische Sichtweise auf die Welt attestiert, oder der Regisseurin Mo Asumang, die in den meisten deutschen Filmen nur Stereotype und einen nahezu durchgehenden Mangel an afrodeutschen Identifikationsfiguren erkennt (siehe das Interview mit Mo Asumang in mediendiskurs 110, S. 49–51), scheint auch die heutige Zeit nicht wirklich klüger (Ratmann 2020).
 

Rassismus und Jugendmedienschutz

Und wie sollen nun die Gesellschaft im Allgemeinen und der Kinder- und Jugendmedienschutz im Besonderen mit den rassistischen oder anderweitig diskriminierenden Darstellungen und Implikationen umgehen? Wie mit den N-Wörtern in den Klassikern des Film noir oder in den um ein anderes Bild der indigenen Bevölkerung Nordamerikas bemühten sogenannten Indianerfilmen der ostdeutschen DEFA? Wie sich mit den Filmen auseinandersetzen, die Rassismus, seine Methoden und Ausprägungen in Bildern und Worten darstellen, um ihn gleichzeitig zu analysieren und anzuprangern, die die menschenverachtenden und grausamen Dimensionen versuchen, aufzuzeigen? Was also machen mit Filmen wie Django Unchained (USA 2012) von Quentin Tarantino oder In the Heat of the Night (USA 1967) von Norman Jewison?

Für den Kinder- und Jugendmedienschutz sind Rassismus, Diskriminierung, Diffamierung in medialen Darstellungen ein grundsätzliches Problem. Ihre Relevanz hat sich zwar durchaus in Prüfordnungen und Richtlinien niedergeschlagen, dennoch scheint es fast überfällig, dass sich die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) in einer Jahrestagung damit intensiver befasst.

Der Prüfer*innenstamm der FSF ist hinsichtlich bestimmter Aspekte sicherlich divers aufgestellt – Alter, Geschlecht, soziale Herkunft –, unter anderen Gesichtspunkten wie religiöser und kultureller Vielfalt lässt sich Nachholbedarf feststellen. Es gibt unter den Prüferinnen und Prüfern nur wenige mit Migrationshintergrund; Afrodeutsche oder Sinti:zze und Rom:nja sucht man in den Ausschüssen vergeblich. Das ist ein Problem. Rassistische und anderweitig diskriminierende Inhalte zu erkennen und damit einhergehende Wirkungsvermutungen anzustellen und zu verargumentieren, gehört zum Arbeitsauftrag und ‑alltag der FSF, was auch hinsichtlich aller anderen Indikatoren für beeinträchtigende Wirkungen gilt. Dass es hier zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen kann, ist dem Diskurs an sich geschuldet. Doch es gibt Unterschiede in der Wirkungsvermutung, die mit Wirklichkeitserfahrung zu tun haben. Ist Menschen, deren Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen gegen null gehen, eine angemessene Einschätzung und Bewertung möglich?

 


Perspektivwechsel

Einen ersten größeren Input zum Thema holte sich die FSF auf der Jahrestagung bei Lisa Rüther und Gülgün Teyhani vom Anti-Rassismus Informations-Centrum in Duisburg (ARIC-NRW e. V.). ARIC berät von Diskriminierung und Rassismus Betroffene und unterstützt Menschen und Initiativen in ihrer Arbeit gegen Diskriminierung und Rassismus mit dem Ziel, „Maßnahmen und Regelungen zur Gleichstellung gegen rassistische Diskriminierung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft zu etablieren“ (aric-nrw. de).

Der instruktive Input erfolgte in Teilen partizipativ: Die Zuhörenden sollten – quasi als „Diskriminierungsbarometer“– den rassistischen und diskriminierenden Gehalt/Inhalt verschiedener Situationen und Aussagen bewerten, was voraussetzt, sie als solche wahrzunehmen. Eine wesentliche Grundlage im Verständnis von Rassismus und Diskriminierung ist für ARIC neben wissenschaftlichen Theorien die Perspektive von Betroffenen. Nicht zuletzt daraus resultiert auch ein weit gefasster, aber logischer Begriff von Diskriminierung, der von Herkunft und Nationalität über Sprache und Aufenthaltsstatus, Hautfarbe und äußerliche Erscheinung, Gender und geschlechtliche Identität, körperliche und geistige Fähigkeiten bis zu sexueller Orientierung, sozialer Herkunft, Familienstand oder Lebensalter auf verschiedene tatsächliche oder zugeschriebene Merkmale zielt, aufgrund derer Menschen oder Menschengruppen ungleich behandelt werden. Diskriminierung findet auf verschiedenen Ebenen statt: individuell, institutionell, strukturell und diskursiv.

Auf der Kategorisierung aufbauend und der Wahrnehmung des:der anderen als andere:r führt der Weg über Stereotypisierung, Vorurteilsbildung und Verhaltensorientierung hin zu Diskriminierung in verschiedenen Varianten und Wirkungsräumen. Als wesentliche Grundlagen für die Ausbildung und Etablierung von Diskriminierung, aber auch als deren Folgen sind – fast im Marx’schen Sinne – gesellschaftliche oder soziale Machtverhältnisse und Ungleichheiten anzusehen, die gleichzeitig in Wechselwirkung stehen und damit die Systeme und Strukturen, die sie ermöglichen, funktionsfähig halten.

Rassismus wiederum geht noch weiter und ist in seinen Auswirkungen totalitärer. Als ideologisches Konstrukt stellt er Gruppen von Menschen über andere und deren gleichwertige Existenzberechtigung infrage. Er legitimiert Machtverhältnisse, was zur Folge hat, dass gesellschaftliche „Teilhabe oder die Ausübung von Menschenrechten und Grundfreiheiten […] verhindert, limitiert oder verweigert werden“ (ARIC-Arbeitsdefinition zu Rassismus). Die Totalität bezieht sich dabei sowohl auf die Grundlagen als auch auf die Wirkungen von Rassismus. Letztere reichen von der vorurteils- und stereotypenverhafteten Wahrnehmung des anderen über Alltagsrassismus, der sich in Sprache und Handeln ausdrückt, und die strukturelle und institutionelle Verankerung in Gesetzen, Regeln oder Abläufen bis zu verbaler und physischer Gewalt.
 


Rassistische und anderweitig diskriminierende Inhalte zu erkennen und damit einher­gehende Wirkungsvermutungen anzustellen und zu verargu­mentieren, gehört zum Arbeits­auftrag und ­‑alltag der FSF.“


 

Rassismus ist entwicklungsbeeinträchtigend

Vor diesem Hintergrund beschreiben Rüther und Teyhani die Auswirkungen wiederkehrender Diskriminierungserfahrungen für Betroffene und plädieren für eine deutlich stärkere Sensibilisierung bei der Wahrnehmung entsprechender Inhalte und eine dementsprechende Berücksichtigung im Rahmen der Prüfpraxis. Der Zusammenhang zwischen der medialen Darstellung und der Entwicklungsbeeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen ist für sie offenkundig und betrifft vor allem die sozialethische Desorientierung durch die Ausbildung von Vorurteilen und Stereotypen, eine verzerrte Wahrnehmung der Realität oder die Beeinflussung von Verhaltensweisen. Darüber hinaus sehen sie aber auch Auswirkungen auf die psychische Gesundheit durch mögliche Retraumatisierungen oder die Ausbildung oder Verstetigung von Ohnmachts- und Minderwertigkeitsgefühlen.

Mit diesen Erkenntnissen aus dem ARIC-Input ging es für die Anwesenden in das bei FSF-Jahrestagungen bewährte Format der Diskussion von Medienbeispielen, in denen rassistische Darstellungen, Stereotype und Zuschreibungen offenkundig präsentiert oder aber diskursiv problematisiert wurden.
 

Die Diskussion steht ganz am Anfang

Die Diskussionen führten zu einer Vielzahl von Bewertungen und daraus resultierenden Voten, die von Tagesprogramm bis Spätabendprogramm reichten, teilweise unter Schnittauflagen oder mit Vorschlägen für Disclaimer und Triggerwarnungen bei lediglich geschmacklosen oder unangemessenen Inhalten. Die Ergebnisse kommentierten die beiden Referentinnen mit einer klaren Positionierung, die noch einmal zum Schutz der von Rassismus und Diskriminierung Betroffenen und zu einer wesentlich stärkeren Sensibilisierung aufforderte. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Wirkungen gebe es keine Legitimation für die Darstellung oder Ausstrahlung der betreffenden Medieninhalte. Ob diese rigorose Position in irgendeiner Form und auch dauerhaft Eingang in den Kosmos des Kinder- und Jugendmedienschutzes findet, bleibt abzuwarten. Die Diskussion und Kommentierungen zu einzelnen Aspekten zeigen aber auch, dass der Weg der Bewusstseinswerdung möglicherweise noch ein längerer sein könnte. Es gibt also einiges zu tun – bei den Filmen und Formaten, aber auch für die FSF und ihre Prüferinnen und Prüfer.

 

Literatur:

Ratmann, M.: Ist der deutsche Film rassistisch? In: fluter, 18.05.2020. Abrufbar unter: www.fluter.de (letzter Zugriff: 19.09.2024)
 

Weiterführender Link:

Anti-Rassismus Informations-Centrum (ARIC-NRW): www.aric-nrw.de