Mythen des Lesens
Über eine Kulturtechnik in Zeiten gesellschaftlichen Wandels
Bielefeld 2024: transcript
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Mythen des Lesens
Die Beiträge des Bandes räumen mit vierzehn Mythen des Lesens auf, die in der öffentlichen Diskussion kursieren und von journalistischen Medien wiedergekäut werden. Diese reichen vom Mythos, dass früher mehr gelesen wurde, über die Annahme, dass Lesen eine einsame Tätigkeit sei, und die These, dass E-Books oberflächlicher gelesen würden, bis hin zur Vorstellung, dass Videostreaming das Lesen im Alltag ersetzt. Einigen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie das Fehlen von empirischer Evidenz zu den Mythen feststellen – es gebe aber auch kaum gegenteilige empirische Befunde. Lesen ist zwar eine Kulturtechnik, die scheinbar für Bildung relevant ist, doch es gibt ebenso verschiedene Formen des Lesens wie verschiedene Lektüren – von Romanen über Sachbücher und Zeitschriften wie mediendiskurs bis hin zu Wikipedia-Seiten.
So kann festgestellt werden, „dass die Lesefähigkeit sich durchaus auf bestimmte Bereiche der Intelligenzentwicklung auswirkt, aber andersherum die Lesefähigkeit nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf die Intelligenz einer Person zulässt“ (S. 88). Immerhin kann lesen sogar das Leben verlängern, wie eine Studie aus den USA gezeigt hat. Lesen senkt nicht nur das Stresslevel: „Menschen, die täglich in einem Buch lesen, [leben] durchschnittlich 23 Monate länger […] als Nichtlesende“ (S. 164). So „war die Sterberate der Gruppe der Lesenden um ca. 20 % niedriger als bei den nichtlesenden Teilnehmer*innen“ (S. 165). Unterschiede zwischen dem Lesen von E-Books und gedruckten Büchern lassen sich eher in verschiedenen Leseorten und ‑situationen sowie in der Auswahl der Lektüre finden als in der Leseintensität (vgl. S. 198).
Videostreaming und Lesen verbinden viele Gemeinsamkeiten – von der Kapitelstruktur von Büchern und Serien über fiktionale Erzählungen bis hin zu den Geschäftsmodellen von Verlagen und VoD-Plattformen. Auch ist sogenanntes Binge-Watching mit der sogenannten Lesewut zu vergleichen (vgl. S. 205 ff.). Statt von einer Verdrängung des Lesens muss man von einer „Ausdifferenzierung von Medien und Medienpraktiken im Kontext digitaler Technologien, internationaler Ökonomien und interkultureller Ästhetiken“ ausgehen (S. 218).
Insgesamt zeigen die Beiträge, dass es kompliziert ist: Lesen ist von vielen Faktoren abhängig – nicht nur von Leseformen und Lektürewahl, sondern auch von sozialen und kulturellen Kontexten in veränderten technisierten und digitalen Welten. Das macht der Band mehr als deutlich.
Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos
Dominik Achtermeier/Lukas Kosch (Hrsg.): Mythen des Lesens. Über eine Kulturtechnik in Zeiten gesellschaftlichen Wandels. Bielefeld 2024: transcript. 282 Seiten, 46,00 Euro (auch Open Access)
