Mythen und Melodram
Deutsche Geschichte im aktuellen Kinofilm
Aktuell läuft mit Hagen. Im Tal der Nibelungen ein Film in den deutschen Kinos an, der die Neuinterpretation einer uralten Legende versucht: der Nibelungensage. Als Nibelungenlied im 13. Jahrhundert niedergeschrieben, reicht die Handlung des Heldenepos bis in die Zeit der Völkerwanderung um 400 zurück. In jener Zeit zerfiel das weströmische Reich endgültig. Durch die Migration vor allem germanischer und romanischer Stämme entstanden neue Herrschaftsgebiete, u. a. das Königreich der Burgunder mit ihrem Zentrum Worms.
Für den Filmhistoriker Klaus Kreimeier „[gehört] das Nibelungen-Thema […] der Weltliteratur an, und dort hat es seinen Platz als bemerkenswert vollständiges Kompendium aller nur denkbaren Spielarten von Betrug, Verrat, Niedertracht, Verleumdung, Heimtücke, Meuchelmord und intrigantem Doppelspiel“ (Kreimeier 1992, S. 5).
Die Neuverfilmung der Sage steigt mit dem Tod von König Dankrat (Jörg Hartmann) ein, wodurch nun der junge unerfahrene König Gunter (Dominic Marcus Singer) das wenig gefestigte und von Feinden umgebene Reich führen muss. Treu an seiner Seite steht Waffenmeister Hagen von Tronje (Gijs Naber). Der kampferprobte Krieger sieht sich als Bewahrer des Reiches und versucht, die alte Ordnung des Königsstaates nach Dankrats Ermordung aufrechtzuerhalten. Als Siegfried von Xanten (Jannis Niewöhner) mit seiner Kampftruppe der Nibelungen in Worms auftaucht, sieht Hagen das Erbe der Burgunder bedroht. Siegfried, der Drachentöter, ist bis auf eine lindenblattgroße Stelle am Rücken unverwundbar. Mit ihren Saufgelagen und die höfische Etikette durchbrechenden Aktionen stören Siegfried und seine Mannen die Ordnung, so wie Hagen sie sieht, und bringen Chaos nach Worms. In der Schlacht halten sie sich an keine Ordnung, kämpfen ohne Regel – und siegen.
Angesichts der Bedrohung durch die von Osten einfallenden Hunnen gewinnt der smarte Siegfried mehr und mehr das Vertrauen des schwachen Königs Gunter. Und als Siegfried auch noch die Gunst von Kriemhild (Lilja van der Zwaag), der Schwester des Königs, zu erlangen scheint, sinnt Hagen, der Kriemhild von jeher liebt und anbetet, auf eine Möglichkeit, Siegfried loszuwerden.
Für den Filmhistoriker Klaus Kreimeier „[gehört] das Nibelungen-Thema […] der Weltliteratur an, und dort hat es seinen Platz als bemerkenswert vollständiges Kompendium aller nur denkbaren Spielarten von Betrug, Verrat, Niedertracht, Verleumdung, Heimtücke, Meuchelmord und intrigantem Doppelspiel“ (Kreimeier 1992, S. 5). Gleichwohl gingen Filmemacher mit diesem fulminanten Erzählstoff aus der deutschen Geschichte sehr vorsichtig um, da der Nibelungensage der Geruch rechtsradikaler und nationalistischer Deutschtümelei anhaftet.
Nibelungentreue – die Indienstnahme der Sage durch die Nationalsozialisten
Joseph Goebbels nannte die zweiteilige Erstverfilmung des Sagenstoffs Die Nibelungen durch den Regisseur Fritz Lang schon 1929 einen „Film der deutschen Treue“ (ebd., S. 5). Als die Nationalsozialisten wenig später an die Macht gelangten, bedienten sie sich ideologisch der Inhalte der Sagenerzählung, indem sie u. a. als eine zentrale Botschaft des mittelalterlichen Heldenepos das Motiv der Treue als eine sogenannnte „urdeutsche Tugend“ herausstellten. Die Nibelungentreue, die die Recken dem Burgunderreich und ihrem König bis in den Tod schworen, wurde im Sinne des NS-Führerkults zu einer der ideologischen Legitimationen für den persönlichen Eid auf Adolf Hitler, den die Naziverbrecher nunmehr jedem Soldaten und Offizier abverlangten.
Szene aus Die Nibelungen von Fritz Lang (Eurekaentertainment, 19.09.2012)
Emotionalisierung der Politik
Doch noch bedeutsamer als das „Drama der ‚deutschen Treue‘“ sei für die Nationalsozialisten, so Klaus Kreimeier, „die ästhetische Qualität des Films“ (ebd., S. 10) gewesen. Langs Film „[hat] auch die Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung innerlich erschüttert […]“ (zit. nach: ebd., S. 11), sagte Goebbels in einer seiner ersten Reden als Propagandaminister. Damit machte er Die Nibelungen zu einem Schlüsselfilm für die propagandistische Strategie einer konsequenten Emotionalisierung der Politik etwa durch deren Umbau „zu Theater- und Filmbildern“, die sich vornehmlich aus der deutschen Mythologie speisten. Die Nibelungen wurden „eine Art Sehschule“ (ebd., S. 12) für diese Strategie, Politik inhaltlich zu entkernen und zu bloßer emotionaler Erschütterung werden zu lassen. Während durch Terror und Gewalt Andersdenkende und aus der Sicht der Nazis „minderwertige“ Gruppen verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, diente diese „Ästhetisierung der Politik“ (Benjamin 1979, S. 44) dem Zweck, möglichst die Mehrheit der „volksdeutschen“ Bevölkerung für die NS-Bewegung durch inszenierte Massensuggestion zu begeistern.
Fritz Lang war gleich nach der Machtergreifung der NSDAP zunächst nach Frankreich und später in die USA emigriert, doch in Die Nibelungen und in anderen seiner Monumentalfilme fanden die Nazis Inspiration für ihre frühen Inszenierungen von Öffentlichkeit, z. B. von Reichsparteitagen oder Hitler-Auftritten: „[…] Sind in den NIBELUNGEN die Akteure – einzeln wie in der Masse – ein Appendix des Dekors, so fungieren die Menschenblöcke unter der Regie Speers und Leni Riefenstahls als architektonisches Element überdimensionierter Tableaus und Teil einer gigantomanen, indes streng strukturierten Raumperspektive“ (Kreimeier, S. 7). „Fritz Langs Licht-Architekturen in den NIBELUNGEN, die mit Scheinwerfern, Spiegeln und reflektierenden Bauteilen errichtet wurden“, so Kreimeier weiter, lieferten zudem wichtige Vorbilder für „die Effekte der Elektrizität“, die die frühen NS-Massenkundgebungen prägten, etwa Albert Speers „‚Lichtdome‘ in den Nachthimmel“ (ebd. S. 11) während Mussolinis Staatsbesuch in Berlin 1937.
Entpolitisierung des Nibelungen-Stoffs in den 1960er-Jahren
Die massive politische und ästhetische Indienstnahme durch die Nationalsozialisten hatte die Nibelungensaga und deren Verfilmung nachhaltig desavouiert, sodass erst 1966 und 1967 eine wiederum zweiteilige Neuverfilmung auf den Leinwänden westdeutscher Kinos zu sehen war. Um der erwartbaren Kritik zu entgehen, entpolitisierten Produzent Artur Brauner und Regisseur Harald Reinl den Stoff von vorneherein. Reinl inszenierte die Saga als Abenteuergeschichte und Liebesdrama. Doch die Figuren blieben statuarisch und hölzern: „Siegfried spielt mit den Muskeln, ein hydraulisch betriebener Drache pufft Feuer aus der Düsen-Nase, Damen in Glanzpapier-Gotik schneiden Gesichter, und Burgunds wortkarger Kriegerverein blickt ernst in die Runde“ (Der Spiegel 1966, S. 110), vermerkte der Kritiker im „Spiegel“ ironisch. Der Erfolg an der Kinokasse mit drei Millionen Besuchern (vgl. Prinzler 2016) fiel für die damalige Zeit eher mäßig aus. Filmhistoriker Kreimeier bezeichnet Reinls Nibelungen als „erbärmliches Remake“ (1992, S. 6).
Und nun also Hagen. Im Tal der Nibelungen.
Die Nibelungen - Teil I: Siegfried (1966) (VikingerMidgards, 24.05.2011)
Alte Sage, neuer Blick
Das Regie-Duo Cyrill Boss und Philipp Stennert, das auch am Drehbuch mitschrieb, wagt mit Hagen. Im Tal der Nibelungen einen kühnen Neuansatz der Sagenerzählung. Sie erzählen die Geschehnisse im Reich der Burgunder aus der Sicht des vermeintlichen Bösewichts der Saga, des Siegfried-Mörders Hagen von Tronje. Siegfried, die ursprüngliche Heldenfigur, ist in der aktuellen Neuverfilmung des Stoffs ein jovialer Draufgänger, Frauenheld und Saufbold. Ein anarchischer Söldnertyp, der – wohl wissend um seine (vermeintliche) Unverwundbarkeit im Kampf – überaus selbstsicher, ja überheblich und übergriffig auftritt. Nachgerade das genaue Gegenteil zum zurückgenommenen, stillen Hagen, der von Boss/Stennert als ein loyaler, disziplinierter Soldat seines Königs charakterisiert wird.
Der Konflikt zwischen Hagen und Siegfried spitzt sich zu, als sich Kriemhild zu Siegfrieds Liebe bekennt. Im Gegensatz zu Reinls Verfilmung schaffen es Boss/Stennert mit ihrem Neuansatz, den melodramatischen Zentralkonflikt der Sage als Widerstreit zweier sehr gegensätzlicher Lebens- und Kampfprinzipien zu kennzeichnen und so den Sagenfiguren, die auch in Langs Erstverfilmung stereotyp blieben, filmisches Leben einzuhauchen. Die Motive ihres Handelns werden deutlich herausgearbeitet. Wie einst bei Reinl wird aber auch im aktuellen Remake des Remakes das Melodram letztlich zum Hintergrundszenario eines Fantasy- und Actionspektakels, das oft bis in einzelne Einstellungen hinein auf internationale Vorbilder wie Peter Jacksons Tolkien-Verfilmung Herr der Ringe rekurriert.
Offizieller Trailer Hagen – Im Tal der Nibelungen (Constantin Film, 23.08.2024)
Alte Nibelungen, „Neue Rechte“?
Bemerkenswert ist eine weitere Parallele zu den Nibelungen von 1966/1967: Sie kamen zu einer Zeit in die Kinos, als erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine rechtsradikale Partei, die NPD, erstarkte und in zahlreiche Landtage einzog (vgl. Dudek/Jaschke 1984, zit. nach: Mannes 2006). In einer gesellschaftlichen Lage, in der aktuell eine in Teilen als rechtsextrem eingestufte Partei Wahlerfolge feiert, kommt jetzt die neue Nibelungen-Verfilmung in die Kinos. Dieser Befund mag erneut ein Beleg dafür sein, was schon Siegfried Kracauer zu wissen glaubte: „Die Filme einer Nation reflektieren ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische Medien“ (Kracauer 1984, S. 11). Und: „Was die Filme reflektieren, sind weniger explizite Überzeugungen als psychologische Dispositionen – jene Tiefenschichten der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken“ (ebd., S. 12).
Ob das Kino wirklich so unmittelbar als ein Seismograf massenpsychologischer Stimmungen angesehen werden kann, ist umstritten. Aber zufällig dürfte die Parallele zu den Zeitumständen der Herausbringung beider Nibelungen-Kinoprojekte in der Bundesrepublik kaum sein. Vielleicht steckt ökonomisches Kalkül der Produzenten dahinter, mit ihren Nibelungen auch ein rechtskonservatives Publikum damals wie heute ansprechen zu wollen; vielleicht aber ist es auch der Versuch, die historisch belastete Nibelungensage, immerhin UNESCO-Weltdokumentenerbe, für die demokratische Mitte der Gesellschaft neu zu erschließen und zu erretten – bevor andere sie wieder für sich reklamieren könnten. Sollte dies – neben der Produktion eines publikumswirksamen Fantasyfilms – die Absicht der Filmemacher von Hagen. Im Tal der Nibelungen sein, so ist sie partiell gelungen. Gleichwohl bleiben auch zwiespältige Botschaften.
Die Filme einer Nation reflektieren ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische Medien“ (Kracauer 1984, S. 11).
Ein schaler Geschmack von Kriegsverharmlosung
Besonders die Darstellung der Entscheidungsschlacht gegen Ende des Films hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Hier werden in einer Montage Bilder des blutrünstigen Schlachtgetümmels mit Aufnahmen vom Siegesfest der Burgunder danach, von Tanz, Spaß, Party verschnitten. Kampfbewegungen und Tanzbewegungen gehen in der filmischen Bewegung fließend ineinander über – eine Idee, die formal gut funktioniert. Die Montage erzeugt Rasanz und Dramatik. Inhaltlich allerdings ist die Verbindung von unbeschwertem Tanz und brutalem Mord auf dem Schlachtfeld bestenfalls als eine verstörende Provokation, schlimmstenfalls als eine Verniedlichung und Verharmlosung des Krieges anzusehen. Oder dient die clipartig geschnittene Sequenz gar zur Wehrertüchtigung? Soll in den Zeiten der „Zeitenwende“, in der die Bundeswehr nach neuen Rekruten Ausschau hält, besonders dem jungen Kinopublikum das Kriegshandwerk wieder schmackhaft gemacht werden?
Die Ermittlung
Ganz anders reagierten Produzent Alexander van Dülmen und Regisseur RP Kahl auf aktuelle Zeitläufte als sie im Sommer Die Ermittlung ins Kino brachten. Ihre Produktion ist eine experimentelle Verfilmung des Theaterstücks Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen von Peter Weiss. Es wurde 1965 uraufgeführt. Damals war gerade der erste Auschwitzprozess in Frankfurt am Main mit viel Aufsehen beendet worden. Da brachte der Schriftsteller auf der Grundlage eigener Aufzeichnungen, von Protokollen und Zeitungsartikeln das juristische Verfahren schon auf die Bühne.
In geschliffener und präziser Sprache hatte Weiss, ein Meister der Beschreibungsliteratur, in seinem Stück besonders die Aussagen von KZ-Überlebenden im Prozess zu erschütternden Moritaten unmenschlicher Barbarei verdichtet. Die Zeugen berichten von den grausamen Taten sadistischer Aufseher und vom zügellosen Morden eiskalt und skrupellos agierender SS-Offiziere. Sie agierten jenseits und im Getriebe der fabrikmäßigen Ermordung von Millionen von Menschen, vornehmlich von Juden, in den Gaskammern des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
Die Aussagen der Zeugen, die Weiss in seinem Stück auftreten lässt, nehmen emotional stark mit. Sie hallen unter anderem deshalb lange nach, weil der Autor die verschiedenen Ebenen des Prozesses in kurzen Szenen geschickt mit- und gegeneinander verbindet: die Zeugenberichte, aber auch die empörenden Reaktionen der Angeklagten, die alle Beschuldigungen abstreiten, mit den moralisierenden Plädoyers der Staatsanwaltschaft, den scheinheiligen Repliken der Verteidigung und den mühsamen Ordnungsversuchen des Richters. So fügt sich für den Betrachter mosaikartig ein Gesamtbild zusammen, das die Befehlsketten und Mechanismen der Todesfabrik in Auschwitz sichtbar macht.
Weiss’ Auschwitz-Oratorium wurde daher für das Verständnis der Holocaustverbrechen und deren Aufarbeitung sehr bedeutsam. Es machte zudem klar, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, wenn sie ihre Opfer für „minderwertig“ und „unterlegen“halten und zugleich selbst jeden persönlichen moralischen Kompass verloren haben, ihn nie besaßen oder unter der Schutzbehauptung, nur Befehlen gefolgt zu sein, verleugnen.
Trailer Die Ermittlung (LEONINE Studios, 14.03.2024)
60 Schauspieler, acht Kameras, eine Einstellung
In einer Zeit, in der von manchen politischen Kreisen die Verbrechen des NS-Regimes relativiert oder gar geleugnet werden, ist es wichtig, dass Regisseur Kahl mit seiner filmischen Neuinszenierung des Weiss-Stücks nun wieder einmal an das erinnert, was in der Todesfabrik Auschwitz tatsächlich geschehen ist.
Diese Darstellung gelingt deshalb so erschütternd gut, weil sich Kahl in seiner Inszenierung nach einer vierwöchigen Probenzeit ganz auf das Spiel seiner 60 hervorragenden Darsteller verlassen kann. Sie präsentieren die authentischen Aussagen der Prozessbeteiligten in der von Weiss verdichteten und geschliffenen Sprache eindringlich und ergreifend. Um das Primat des Wortes vor dem Bild in dieser Filmproduktion zu betonen, entwarfen Kahl/van Dülmen ein Studio-Dekor, das es den Schauspielern ermöglichte, wie auf der Bühne zu agieren.
An fünf Drehtagen wurden die elf, vom Bühnenautor als „Gesänge“ bezeichneten Teile des Stücks mit acht Kameras jeweils in einer Einstellung aufgenommen. Um die Konzentration des Zuschauers auf das gesprochene Wort weiter zu erhöhen, wurde das aufs Wesentlichste stilisierte Dekor eines Gerichtssaals in einem dunklen Studioraum aufgebaut, sodass es im Bühnenbild keine Ablenkung fürs Auge gibt. Diese Stilisierung wirkt: Kahls vierstündige Ermittlung nimmt den Zuschauer emotional enorm mit und führt ihm – wie selten zuvor im Kino – vor Augen, dass sich diese von Menschen gemachte Hölle in Auschwitz niemals und nirgends wiederholen darf.
Private Perspektive
Aus der Sicht einer jüdischen Familie wirft Regisseurin Julia von Heinz eine private Perspektive auf die Geschichte der NS-Judenverfolgung in Polen. Ihr Film Treasure. Familie ist ein fremdes Land (seit dem 12. September 2024 im Kino) blendet zurück in die Umbruchszeit in Osteuropa Anfang der 1990er-Jahre. Die New Yorker Journalistin Ruth (Lena Dunham) kann ihren Vater Edek (Stephen Fry) nur unter großen Mühen dazu bewegen, mit ihr nach Polen zu reisen und auf die Suche nach den Wurzeln ihrer jüdischen Familie zu gehen. Edek hat den Holocaust überlebt und jetzt nur wenig Lust, sich seinen Kindheitserinnerungen zu stellen. Widerwillig reist er mit Ruth in seine Heimatstadt Lodz, wo sie die Fabrik finden, die früher ihrer Familie gehörte, und das Wohnhaus besichtigen, in dem noch immer Nachfahren der polnischen Kollaborateure wohnen, die das Haus nach der Deportation der jüdischen Familie von den Nazis bekamen. Ohne mit der Wimper zu zucken, verkaufen sie Geschirr und Besteck, das ohnehin der Familie gehörte, zu einem horrenden Preis an Ruth. Sie möchte diese Dinge haben, um dadurch wenigstens eine kleine (materielle) Verbindung zur Geschichte der Familie herstellen zu können, die durch den Holocaust so brutal zerstört wurde. In der Gedenkstätte des Vernichtungslagers Auschwitz zeigt Edek Ruth die Baracke, in der ihn die Deutschen mit den anderen Häftlingen dahinvegetieren ließen.
Ein starker emotionaler Moment, den die Regisseurin in deutlichen Kontrast zu einer vorherigen Szene setzt, in der ein Hotelmanager Ruth und Edek die Fahrt nach Auschwitz ankündigt, als wäre die „Besichtigung des Vernichtungslagers“ nichts weiter als ein Touristenhotspot unter vielen. Nach dem Auschwitz-Besuch beginnt sich Edek langsam zu wandeln, öffnet sich seiner Tochter und vertraut ihr Familiengeheimnisse an, von denen sie nichts geahnt hat.
Trailer Treasure. Familie ist ein fremdes Land (Alamode Film, 10.07.2024)
Regisseurin von Heinz erzählt diese Geschichte einer persönlichen Annäherung von Vater und Tochter vor dem Hintergrund des größten Menschheitsverbrechens der Welt mit großer Wärme und Sensibilität in ausdrucksstarken, manchmal dokumentarisch anmutenden Bildern. Das Grau der Städte oder der heruntergekommene Charme ehemaliger Funktionärshotels, in denen Ruth und Edek übernachten – die Bilder von Kamerafrau Daniela Knapp spüren der „bonjour tristesse“-Atmosphäre des zerfallenen „real existierenden Sozialismus“ eindrücklich nach. Auch spart von Heinz in der Adaption des autobiografischem Romans Zu viele Männer (2001) von Lily Brett weder mit Kritik an polnischen Helfershelfern der Nazis und Nutznießern der NS-Judenverfolgung noch an einer kritischen Beschreibung einer Verelendung der Erinnerungskultur im realsozialistischen System. Gleichwohl kommt die Geschichte keineswegs schwer und bleiern daher. Besonders das mit trockenem britischem Humor getränkte Spiel Stephen Frys verschafft der Erzählung eine gewisse Leichtigkeit.
Zwei zu Eins
Gar nicht tragikomisch, sondern richtig komisch und leicht erzählt, verarbeitet die Komödie Zwei zu Eins in der Regie von Natja Brunckhorst eine andere Episode aus der Wendezeit: Es ist der Sommer 1990 in Halberstadt. Volker (Ronald Zehrfeld) kommt aus dem Westen zurück. Sein Glück hat er da nicht gefunden und seine Freundin Maren (Sandra Hüller) ist nun mit seinem besten Freund Robert (Max Riemelt) zusammen. Alle sind arbeitslos. Die „Treuhand“ hat ihren volkseigenen Betrieb stillgelegt. Von den „blühenden Landschaften“, die der damalige Bundeskanzler Kohl gerade versprochen hatte, ist bei ihnen noch nichts angekommen. Gleichwohl genießen sie den schönen Sommer. Campingplatz-Urlaubsfeeling. Mit der Hilfe des Wachmanns Markowski (Peter Kurth) kommen die Freunde dahinter, dass in einem nahegelegenen stillgelegten Bergwerkstollen ungeahnte Mengen von Ostgeld lagern. Die Drei verlieren keine Zeit, so viel Geld wie möglich aus dem Stollen zu holen. Sie verteilen es und die halbe Belegschaft ihrer Firma ist damit beschäftigt, das Geld zu tauschen. Damit der massenhafte Geldumtausch nicht zu sehr auffällt, beginnen Maren & Co. von den westdeutschen Vertretern, die reichlich unterwegs sind, um den Ostdeutschen alle möglichen und unnötigen Westwaren anzudrehen, so viele Haushaltsgeräte, Fernseher, Autos etc. abzukaufen, um sie dann schnell weiterzuverkaufen. Das Geldwäschegeschäft läuft super, bis plötzlich Fünfhunderter-Ostmark-Scheine in den Umlauf kommen, eine Geldsorte, die der DDR-Staat zwar hat drucken, aber nicht herausgeben lassen. Die Bundesbank wird aufmerksam, der Coup droht aufzufliegen.
Brunckhorsts amüsante Wendekomödie basiert partiell auf einer authentischen Geschichte und erzählt von Ostdeutschen, die ob der depravierenden Umbruchsituation in der DDR nach dem Mauerfall nicht verzweifeln. Vielmehr begreifen sie die veränderten Zeitläufte als Chance, sich selbst zu ermächtigen, kreativ und trickreich einen Neustart zu wagen, um ihre Lebenssituation zu wenden. Wohl auch deshalb wurde Brunckhorsts Film ein Sommerhit und stand wochenlang auf Platz 1 der deutschen Arthouse-Charts.
Trailer Zwei zu Eins (X Verleih AG, 30.04.2024)
September 5
Dieser Erfolg ist auch einem weiteren, sehr gelungenen historischen Spielfilm zu wünschen, der von einem düsteren Kapitel der deutschen Geschichte erzählt, nämlich dem Überfall palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft während der Olympischen Spiele 1972 in München, allerdings in der Form eines spannenden Polit- und Medienthrillers: September 5, in der Regie von Tim Fehlbaum, wirft eine völlig neue Perspektive auf das damalige Geschehen, bei dem nach einer Reihe völlig verfehlter Polizeiaktionen die Geiselbefreiung auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck scheiterte. Alle neun israelischen Geiseln, ein Polizist und fünf der acht Terroristen kamen uns Leben.
Fehlbaum erzählt dieses Geschehen aus der Sicht eines TV-Teams, das für den US-amerikanischen Sportsender ABC arbeitet. Ihre Sendezentrale liegt ganz nah beim Olympischen Dorf. Das Team hat damit die besten Voraussetzungen, live im Fernsehen über den terroristischen Anschlag auf Olympia und die Geiselnahme zu berichten. Daher setzt Teamchef Roone Arledge (Peter Sarsgaard) bei den Sendebossen in den USA durch, dass nicht die News-Abteilung in New York die Berichterstattung über das Olympia-Attentat übernimmt, sondern die ABC-Sportreporter vor Ort zusammen mit dem erfahrenen Moderator Jim McKay. Arledge setzt zudem durch, dass sein München-Team für die Berichterstattung auch noch mehr Satelliten-Übertragungszeit erhält. Die Sendeleitung überträgt Arledge dem jungen Geoffrey Mason. Er wurde für Fehlbaum und Drehbuchautor Moritz Binder bei ihren Recherchen zu einem der wichtigsten Zeitzeugen. Seine Figur, gespielt von John Magaro, präsentiert im Film daher eine der zentralen Erzählperspektiven. Fehlbaum/Binder hatten nämlich im Drehbuch die künstlerische Entscheidung getroffen, die Kamera in den 21 Stunden der Geiselnahme fast ausschließlich im ABC-Übertragungsstudio verharren zu lassen.
Trailer September 5 (Constantin Film, 02.08.2024)
Diese Hermetik des Erzählens verschafft dem Film eine hohe Spannung. Alle Irrungen und Wirrungen, die im Team auch aufgrund von Fehlinformationen in anderen Medien entstehen, fängt der Film mal in langsamen Montagen mit ruhigen Kameraeinstellungen, mal mit hektischen Bewegungen der Kamera ein. Auch medienethische Fragen stellt sich das Team. Welche Bilder der brutalen Geiselnahme darf man live senden, welche nicht? Ergänzt wird die Erzählung über 21 Stunden Live-Terror-Berichterstattung aus dem ABC-Studio heraus durch Originaltonaufnahmen des Reporters Peter Jennings, der aus dem Olympiadorf berichtet, sowie durch die Originalaufnahmen, die ABC am 5. September 1972 ausstrahlte. Hätte der US-Sender seine Archive nicht geöffnet und das Originalmaterial der Produktion nicht zur Verfügung gestellt, wäre dieser eindrucksvolle Film wohl nie zustande gekommen. Doch es gelang. Die deutsche Produktion erlebte eine fulminante Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Venedig und kommt am 5. Januar 2025 in die Kinos – So zeichnet sich ab: Auch im nächsten Jahr wird deutsche Geschichte im Film wohl ein Dauerbrenner im Kino bleiben.
Quellen:
Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 1979, S. 44
Der Spiegel: Leichen unter Eichen. In: Der Spiegel, Nr. 52, 12/1966/18, S. 110. Abrufbar unter: www.spiegel.de (letzter Zugriff: 10.10.2024)
Dudek, P./Jaschke, H.-G.: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Opladen 1984, zitiert nach: Mannes, S.: Die NPD in den 1960er-Jahren. Geschichte und Ideologie. In: zukunft-braucht-erinnerung.de, 27.03.2006. Aufrufbar unter: www.zukunft-braucht-erinnerung.de (letzter Zugriff: 10.10.2024)
Kracauer, S.: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt a. M. 1984, S. 11
Kreimeier, K.: DIE NIBELUNGEN – Eklektisch und monumental, artifiziell und modern. In: Freunde der Deutschen Kinemathek e.V.: Alles, alles über Deutschland. Heft 78, 3/1992, S. 5