Neuronale Wahrheitsfindung mit bildgebenden Verfahren
Menschliche Gehirne sind regelsuchende Maschinen, die vor allem die eigenen Annahmen über die Welt bestätigt sehen wollen. Hören wir eine Rede, so füllen wir bei jedem neuen Satz die grammatikalische Grundstruktur schon nach den ersten zwei Wörtern des Satzes auf – und überhören so 80 % aller grammatikalischen Fehler, da wir sie selbst im Kopf schon korrigieren, bevor wir sie gehört haben. Eine Perspektive ist, wie sich das Gehirn überhaupt Wissen aneignet in der Masse an Informationen, die wir täglich konsumieren. Und was macht das mit unserer Auffassungsgabe, ständig von Bilderfluten und Nachrichten konfrontiert zu werden? Und inwiefern stören Manipulationen und Täuschungen oder auch wahrheitsverzerrende Informationen diese Wissensaneignung?
Tag- und Nachtwissenschaft
François Jacob, Nobelpreisträger für Medizin, hat für die Art, in der sich Wissenschaft darstellt, die Metapher des Januskopfes gewählt. Er unterteilt sie in eine „Tag-“ und eine „Nachtwissenschaft“. Die Tagwissenschaft ist jener Teil, der die klar strukturierten Gesichtspunkte eines Sachverhalts betont, aber die benutzten Methoden, die Komplexität und Vielschichtigkeit der Themen und die Vorgehensweise selbst im Dunkeln lässt. Gemeint ist also der Teil wissenschaftlichen Arbeitens, der sowohl in wissenschaftlichen Publikationen als auch in der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens durch Bild- und Schriftmedien sichtbar wird. In dieser ans Tageslicht gezerrten Wissenschaft greift die Beweisführung wie ein gut geschmiertes Räderwerk ineinander, Resultate haben die Kraft der Gewissheit, ihre majestätische Ordnung lässt sich nur bewundern; stolz auf ihre Vergangenheit und ihre Zukunft schreitet sie im Licht des Fortschritts diesem sicher entgegen.
Eher eine Welt von Gedanken in Bewegung als eine Sammlung in Stein gemeißelter Fakten.
Auf der anderen Seite steht die komplexe Nachtwissenschaft mit ihrem blinden Irren, Zögern und Stolpern. Hier gerät auch mal ein Wissenschaftler ins Schwitzen, schreckt auf, an allem zweifelnd hinterfragt er sich, setzt immer wieder neu an und verzweifelt doch oft an komplizierten Methoden, nicht reproduzierbaren Experimenten und unsicheren Fragestellungen – von Kohärenz ist hier noch keine Spur zu sehen. Diese außerhalb des Scheinwerferlichts agierende Wissenschaft ist eine Art Werkstatt des Möglichen, hier arbeitet das Denken auf verschlungenen Wegen, die sich meist als Sackgassen erweisen. Oft dem Zufall ausgeliefert, irrt der Forschergeist durch ein Labyrinth, auf der Suche nach einem Zeichen, einem Wink, einem unvermuteten Zusammenhang. Findet eine Forschende in diesem zähen Ringen tatsächlich ein neues Gefüge, muss es sich einer großen Anzahl von Kontrollexperimenten oder Recherchen stellen. Erst wenn es diesen Kontrollen standhält, kann ein neues Forschungsergebnis in die Tagwissenschaft aufgenommen werden, sprich, es kann in einem Artikel öffentlich gemacht werden. In dieser Form sind die Gedanken geordnet, die Komplexität ist auf ein gemütliches Maß reduziert, die Geschichte wird einleuchtend und überzeugend verfasst. Was im Licht der Tagwissenschaft unterbelichtet bleibt, ist ein wichtiger Teil dessen, was wissenschaftliches Treiben ausmacht: Es ist eher eine Welt von Gedanken in Bewegung als eine Sammlung in Stein gemeißelter Fakten. Die Niederschrift in Form eines Artikels oder eines Lehrbuches bringt diese Gedanken zum Stillstand und lässt sie so erstarren, als wollte man ein Fußballspiel mit einer einzigen Momentaufnahme wiedergeben. Eine wohlgeordnete Parade von Begriffen und Experimenten tritt an die Stelle eines Durcheinanders ungeordneter Anstrengungen. Was auf diesem Wege verloren geht, sind die komplexe Unordnung und die Geschäftigkeit.
Das Gehirn – ein Dauerarbeiter
Auch bei bildgebenden Verfahren des Gehirns findet eine Komplexitätsreduktion statt – das macht ihren Reiz, aber auch ihre Verführung aus. Es lohnt, hier diesem Reduktionismus nachzugehen, den das Bedürfnis nach Kohärenz und das Bedürfnis, die Forschungen öffentlichkeitswirksam darzustellen, schafft. Unter bildgebenden Verfahren versteht man meist die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT). Die räumliche Auflösung beträgt hierbei etwa 0,5 mm, was in Anbetracht der Tatsache, dass bereits ein Kubikmillimeter Großhirnrinde mehr als 100.000 Nervenzellen enthält, nicht gerade umwerfend ist.
Das MRT misst allerdings nicht direkt die neuronale Aktivität des Gehirns. Entscheidend für die Anwendung der Methode ist, dass sich der Sauerstoffpostbote des Blutes, das Hämoglobin, in seiner Beladung mit Sauerstoff ändert. Wenn ein Gehirnareal eine höhere neuronale Aktivität aufweist, wird es stärker mit sauerstoffreichem Blut versorgt – und genau dies wird detektiert. Die Bilder, die in Originalpublikationen und auf Wissenschaftsseiten von Zeitungen präsentiert werden, bilden also nicht direkt die neuronale Aktivität in einem Gehirngebiet ab, sondern den veränderten Blutfluss.
Erst ein Subtraktionsverfahren macht die Bilder dann zu den kontrastreichen Aufnahmen. Dargestellt werden also lediglich Gehirnareale, die im Vergleich zu einer Kontrollmessung aktiv waren. Ansonsten wären die Bilder wahre Farbenmeere, da das Gehirn ein Dauerarbeiter ist – in fast allen Gebieten und zu jeder Zeit. Wer beispielsweise untersuchen will, wie Verben im Gehirn verarbeitet werden, lässt die in engen Röhren liegenden Probanden sinnlose Silben sprechen und dann erst die richtigen Verben. Durch dieses Verfahren bestimmt in erster Linie die Art der Kontrollsituation, wie das endgültige Bild aussieht. Und über diese erfährt der wissbegierige Laie fast nie etwas.
Damit aber nicht genug, es werden noch mehr „Tricks“ angewandt, die aus einzelnen Erkenntnissen erst ein Bild machen, um jene Kohärenz (die man auch als „Wahrheit“ begreifen könnte) zu schaffen: Denn die eingezeichneten Farbflächen sind sogenannte Falschfarben, die nichts mit dem Gehirn zu tun haben. Sie sind die farbliche Darstellung statistischer Computerberechnungen mit einem willkürlich festgelegten Schwellenwert, unterhalb dessen die Gehirnaktivität nicht mehr farblich codiert wird. Kein Wunder, dass die Bilder so kontrastreich sind, das hat nichts mit dem Gehirn (im Gegenteil, das Gehirn hat gerade keine scharfen Aktivitätsgrenzen), sondern mit den statistischen Berechnungen um einen Schwellenwert herum zu tun. Und diesen Wert legt nicht die Natur, sondern der Experimentator fest. Ganz nebenbei sei bemerkt, dass nicht die Aktivität einer Gehirnregion in einer Situation gezeigt wird, sondern meist sind die gezeigten Bilder gemittelt über 20 oder mehr Wiederholungen. Sind die Bilder deshalb „Lügen“? Sicher ist, dass durch bildgebende Verfahren gewonnene Gehirndarstellungen mithilfe komplizierter Methoden aufgrund von theoretischen Annahmen und durch ein Subtraktionsverfahren ermittelt werden.
Wissenschaft hat ein zweites Gesicht mit all dem, was in der Wissenschaft unverstanden, schlecht verstanden, in jedem Fall aber nicht richtig verstanden wird.
Es lohnt sicher den Aufwand eingehender Untersuchungen, wie und ob kunstgeschichtliche Traditionen Eingang in die Bilddarstellung gefunden haben oder wie ästhetische Empfindungen die Bildsprache prägen. Auch ist es eine eigene Diskussion wert, ob und warum gerade die bildgebenden Verfahren in der öffentlichen Darbietung von neurowissenschaftlichen Ergebnissen so gerne und so erfolgreich angewandt werden. All dies entbindet aber niemanden von der Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen, dass in der Tat Messergebnisse aus einigermaßen gut kontrollierten Versuchen dargestellt sind. Und es gilt, dass Wissen eben immer mit Unwissen gepaart ist.
Wissenschaft hat ein zweites Gesicht mit all dem, was in der Wissenschaft unverstanden, schlecht verstanden, in jedem Fall aber nicht richtig verstanden wird. Bildgebende Verfahren sind ein gutes Beispiel für den Vorgang, wie in den Neurowissenschaften Kohärenz hergestellt wird: So wird nicht weiter untersucht, warum man für einen Versuchsdurchgang bei der fMRT so viele Wiederholungen braucht. Vielleicht, weil die Signalverarbeitung eines jeden noch so gleichen Reizes eben doch nicht immer exakt gleich verläuft – vielleicht braucht das Gehirn diese Genauigkeit gar nicht. Die Subtraktionsverfahren wiederum sind darauf angelegt, einzelne, in jedem Fall nur wenige Gehirnareale mit einer kognitiven Aufgabe in Verbindung zu bringen. Dies lässt die Arbeitsweise des Gehirns modularer erscheinen, als diese unter Umständen ist.
Datenreduktion
Die größte mit den bildgebenden Verfahren einhergehende Versuchung ist wohl die, einem naiven Reduktionismus zu unterliegen, so als würden die Bilder die Realität abbilden und einen absoluten Wahrheitsgehalt haben. Wie könnte man dies schöner zeigen als an der Liebe. Semir Zeki, ein alternder Nestor in der Erforschung des visuellen Systems, untersuchte mithilfe der fMRT, wie Gehirne von verliebten Menschen auf Fotos von diesen geliebten Menschen reagieren. In der Tat konnte Zeki einige Gehirnareale ausmachen, die aktiver sind, wenn die Probanden ihren geliebten Partner auf Fotos sehen (im Vergleich zu einem Kommilitonen, wieder ist natürlich ein Subtraktionsverfahren nötig).
Semir Zeki spricht […] von „Liebesmodulen“, die durch die Gedanken an den geliebten Menschen, durch Fotos stimuliert, im Gehirn aktiviert werden.
Wie bei vielen vorherigen Studien zu ganz anderen Themen lagen die aktivierten Areale im limbischen System des Gehirns. Semir Zeki spricht unverblümt, aber doch blumig von „Liebesmodulen“, die durch die Gedanken an den geliebten Menschen, durch Fotos stimuliert, im Gehirn aktiviert werden. Hätte man als Vergleich nicht andere Bilder nehmen müssen, die ebenfalls emotional aufwühlend sind? Denn das limbische System, ein diffus definiertes ringförmiges Arealgebilde unter der Großhirnrinde, wird immer aktiviert, wenn Emotionen im Spiel sind. Vor allem aber spiegeln die beobachteten Erregungsmuster der verliebten Gehirne die Verarbeitung von Fotos geliebter Menschen – nicht aber das Verliebtsein selbst. Will der Forscher hier wirklich behaupten, dass der subjektive Zustand von Liebe oder Verliebtsein identisch ist mit einem einzigen neuronalen Aktivitätszustand? Ist die Verarbeitung von Sinnesreizen, die mit dem geliebten Menschen zusammenhängen, nicht etwas anderes als Liebe oder Verliebtsein?
Auf der Suche nach Kohärenz mit reduktionistischen Verfahren müssen die Limitierungen der Methoden und die Begrenztheit des naturwissenschaftlichen Blickwinkels im Auge behalten werden. Keine Methodik, kein Ergebnis, weder aus bildgebenden Verfahren noch in der Biochemie des Gehirns, ist zu komplex, als dass sie bzw. es nicht erklärt werden könnte. Komplex ist ein Sachverhalt immer nur vor einem bestimmten Hintergrund, sei es Unwissenheit oder weil man die Fachsprache und technischen Begriffe nicht kennt; weil es ungeheuer viele Variablen zu bedenken gilt, die Analyse aufwendig ist oder die logischen Schlussfolgerungen einen komplizierten Begründungsraum einnehmen.
Entsprechend kommt alles auf die richtige Datenreduktion an – und hier sind gute Metaphern ein möglicher und wichtiger Schlüssel. Metaphern werden aber in den Köpfen der Zuhörer verstanden und müssen ein sinnvolles Beziehungsgeflecht beim Betrachter hervorrufen. Sie müssen die Datenmenge auf ein erträgliches Maß reduzieren, die Ergebnisse müssen in einer ihnen angemessenen Kohärenz dargestellt werden, ohne dabei in einen naiven Reduktionismus zu verfallen.
Was bleibt, ist die Verteidigung der öffentlichen Vereinfacher gegen die tagscheuen Zauderer. Es stimmt, dass Wissen, das aus dem Forschungsalltag ans Licht gezerrt wird, paradoxerweise viel von seinem Glanz verliert und fremden Glanz annimmt. Es stimmt, dass komplexe wissenschaftliche Abläufe nicht auf halbseitigen Wissenschaftsseiten oder in fünfminütigen Features bei Wissenschaftsshows wiedergegeben werden können. Aber es stimmt auch, dass man es versuchen muss, so rätselhaft das Unterfangen auch sein mag, denn rätselhaft ist etwas immer nur vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund, und der kann sich durchaus ändern.
Damit nicht nur das Glaubensbekenntnis des interviewten Wissenschaftlers zum Tragen kommt, sondern auch die Komplexität und kritische Beleuchtung der Fakten, kann man folgenden Fragenkatalog abarbeiten:
- Woher wissen Sie, was Sie gerade berichtet haben? Ist das etwas, was aus Ihren Versuchen hervorgeht, oder ist es etwas, das Sie glauben?
- Wie haben Sie Ihre Daten erhoben?
- Wie zuverlässig sind die Messergebnisse?
- Wurden diese Daten in anderen Laboratorien reproduziert? Wenn ja, mit welcher Genauigkeit?
- Wie zuverlässig sind die benutzten Testsysteme?
- Welche Probleme könnten mit den Messergebnissen zusammenhängen? Wie übertragbar z.B. sind die Ergebnisse auf den Menschen?
- Stimmen Kollegen nicht mit Ihnen überein? Wenn ja, warum?