„Ohne ein Ethos der Aufmerksamkeit entwickeln sich Gesellschaften nicht weiter.“

Werner C. Barg im Gespräch mit Winfried Kluth

Dr. Winfried Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ehemaliger Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt in Dessau-Roßlau. Er leitet u.a. die Forschungsstelle Migrationsrecht und hat an einem Gutachten zur Medienkonvergenz mitgewirkt. Im Interview erläutert er die Bedeutung von Aufmerksamkeitsstrategien in Gesellschaft, Politik und Medien aus juristischer Perspektive.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 46-50

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Was interessiert Sie als Jurist an dem Thema „Aufmerksamkeit“?

Aufmerksamkeit hat sehr viel mit der Wahrnehmung einer Person durch die soziale Umgebung zu tun. Zu der sozialen Umgebung gehört einmal der Staat, der verpflichtet ist, die Rechte und Interessen der Bürger zu achten, also aufmerksam ihnen gegenüber zu sein. Er ist gleichzeitig auch verpflichtet, sie dort zu unterstützen, wo sie auf Unterstützung angewiesen sind. Auch das verlangt Aufmerksamkeit und zwar in Gestalt von sozialstaatlichem Handeln. Aufmerksamkeit hat aber auch etwas mit der horizontalen Ebene der Gesellschaft zu tun, also dem Verhältnis von Bürgern untereinander sowie der Medien zu den Bürgern. Auch hier haben wir etwas Wechselseitiges – einmal, wem gebührt Aufmerksamkeit, und zum anderen, wo ist Aufmerksamkeit verboten, wo geht es um den Schutz von Privatheit? Diese wichtige Facette spielt etwa bei der Presse eine Rolle, wenn es darum geht, worüber diese in welcher Weise berichtet. Das sind alles juristische Themen, weshalb sich auch der Rechtswissenschaftler und das Recht für diese Thematik interessieren.

Wie würden Sie Aufmerksamkeit aus Ihrer Perspektive definieren? Was genau wäre Ihr Forschungsgegenstand?

Wir haben eine doppelte Forschungsperspektive. Einmal der Schutz der Privatheit, der Privatsphäre, als Schutz vor einer ungewollten Aufmerksamkeit und umgekehrt, die soziale Komponente, wann hat man einen Anspruch, dass die eigenen Interessen, die Person angemessen wahrgenommen wird, also dieser Wechselbezug. Wenn wir das noch eine Stufe grundsätzlicher betrachten, dann geht es natürlich auch immer um den Aspekt der Menschenwürde, weil der Anspruch auf soziale Geltung im Gedanken der Menschenwürde verankert ist. Der Staat soll mich als Person, als Rechtssubjekt, als jemand, der einen sozialen Geltungsanspruch hat – wir sprechen hier auch von Ehre –, wahrnehmen und entsprechend mit mir umgehen.

Nun kann man in Publikationen und Programmen von Rechtspopulisten lesen, dass die Sozialstaatlichkeit nur für die in der Nation Ansässigen gültig sein soll. Wie schätzen Sie das juristisch ein?

Das ist sicherlich ein sehr grundlegendes Thema, inwieweit hier ein menschenrechtlicher Entwurf greift. Die Menschenwürde unterscheidet sich von dem nationalen Ansatz dadurch, dass wir sagen: Jedem Menschen stehen bestimmte Rechte zu. In der Logik der internationalen Menschenrechtspakte gibt es da auch noch einmal Unterschiede. Der grundlegende Achtungsanspruch, dass ich als Person respektiert werde, ist nicht von einer nationalen Zugehörigkeit abhängig. Umgekehrt wird bei der Frage, wie stark wir füreinander einstehen müssen, durchaus nach der Intensität der sozialen Bindung differenziert. John Rawls, der bekannteste moderne Philosoph der sozialen Gerechtigkeit, hat auch die Ansicht vertreten, dass diese starke Solidarität auf Nationen, also auf etablierte Gesellschaften und ihre Mitglieder beschränkt ist und dass es im internationalen Bereich allenfalls eine elementare Pflicht des Einstehens gibt. Das bedeutet zugleich, dass dort Unterschiede zulässig, vielleicht sogar geboten sind. Aber dort, wo es um fundamentale Ansprüche geht, also z.B., wo es um das Existenzminimum geht, ist auch gegenüber Fremden, vor allem gegenüber Flüchtlingen Solidarität geboten.

Stichwort „Aufmerksamkeit und Medien“: Wie schätzen Sie diese Verbindung ein?

Auch hier stoßen wir auf eine Ambivalenz. Die Medien sind ein Forum der Aufmerksamkeit. Wer in den Medien erscheint, wer dort seine Positionen und Gedanken vermitteln kann, der bekommt dadurch Aufmerksamkeit, allen voran politische Parteien, aber auch Unternehmen, Künstler etc. Umgekehrt dringen die Medien in die Privatheit ein, durch investigativen Journalismus. Sie können so auch ungewollte Aufmerksamkeit erzeugen, gegenüber der man sich wehrt. Eine dritte Frage, die sich hier stellt, ist die, ob die Medien ihre Aufmerksamkeit angemessen verteilen. Sie sind eine Art von Scheinwerfer. Das, was die Medien als Leitthema aufgreifen, das steht im Fokus einer großen öffentlichen Aufmerksamkeit – und anderes bleibt im Schatten. Es stellt sich damit die Frage, ob die Medien ihrer Vielfaltsverpflichtung genügen, also nicht beliebig einzelne Themen ins Licht zu setzen und andere in den Schatten zu verschieben. Können wir sie da zu irgendetwas zwingen? Das Grundgesetz sagt da mehr oder weniger: Nein. Das, was der Journalismus für wichtig hält, muss er selbst entscheiden können. Der Staat kann es nicht, aber wir haben natürlich eine Erwartung, dass die Themenauswahl angemessen ist, dass insbesondere nicht bewusst bestimmte Themen ausgeklammert werden. Das ist ein Aspekt, bei dem wir uns gegenüber den Medien kritisch verhalten müssen, wenn wir so etwas bemerken.

Ist die soziale Gruppe, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht oder in gewisser Weise lenken kann, die mächtige und die anderen sind die Ohnmächtigen? Wie sehen Sie das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, bezogen auf Aufmerksamkeit?

Eins steht fest: Derjenige, der darüber entscheidet, was in den Medien vorne steht oder überhaupt vorkommt, übt Einfluss aus. Das kann von Vorteil sein, wenn man unbemerkt bleibt, aber für alle, die auf Aufmerksamkeit angewiesen sind, etwa in der Politik, aber auch in der Ökonomie, ist die Medienmacht erheblich. Wir benötigen in der Demokratie eine kritische Medienmacht, aber die dort Aktiven müssen sorgfältig und verantwortlich mit ihr umgehen. Wenn ich Vorwürfe mache, Missstände anprangere, so impliziert das auch eine zerstörerische Macht, wenn sich hinterher herausstellt, dass es nicht gerechtfertigt war. Deswegen erwarten wir, dass es im Journalismus ein Ethos gibt, Standards, dass geprüft wird, ob die Quellen verlässlich sind etc. Das ist etwas, was wir letztendlich den Medien anvertrauen, diese Entscheidung verantwortlich und gewissenhaft zu treffen.

Kann das nicht auch dazu führen, dass die Politik, die auch um die Aufmerksamkeitsstrategien der Medien weiß und auch darum weiß, dass immer die neueste und schnellste Nachricht gebracht werden muss, um möglichst viele Klicks zu bekommen, dass die Politik beginnt, mit den Medien zu spielen? Es gibt die These, bezogen auf das Medienverhalten von US-Präsident Donald Trump, dass er eigentlich nur so viel twittert und so viele Provokationen verbreitet, weil er von den eigentlichen Dingen, die er tut – er hat im ersten Jahr seiner Amtszeit 800 Vorschriften geändert, meistens zugunsten bestimmter Unternehmen und zuungunsten der Verbraucher und der Umwelt – ablenkt. Sehen Sie auch, dass da eine Differenzierung bei den Medien stattfinden sollte, sich nicht auf jede Provokation, die auch in unserer politischen Landschaft eine große Rolle spielt, zu stürzen, sondern ein bisschen sorgfältiger zu schauen, was dahinterstecken könnte?

Die Kunst der Ablenkung war immer schon ein wichtiges Instrument der Politik. Früher hat man gesagt, wenn es in der Innenpolitik nicht gut läuft, fängt man einen Krieg an und lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Weise ab. Auch in der Politik in Demokratien, etwa in der sogenannten alten Bundesrepublik, wussten Politiker wie Konrad Adenauer genau, wie man Aufmerksamkeit lenken kann. Das Neue, das etwa am Beispiel Trump und anderer Politiker, die sich sozialer Medien bedienen, zu beobachten ist, ist die höhere Frequenz und die Direktheit, eigene Botschaften zu verbreiten. Es mutet ja so an, als ob man nun direkt in das Gehirn oder in das Denken dieser Personen eindringen kann und damit sind auch Ablenkungseffekte verbunden, die es vielleicht früher nicht so gegeben hat. Ich denke aber, dass die allgemeine Strategie eine alte ist, die jetzt aufgrund von neuen Kontexten eine höhere Aufmerksamkeit gewonnen hat. Das Zweite, das Sie angesprochen haben, das sehe ich persönlich ebenfalls kritisch: Dass langsame Medium der gedruckten Tageszeitung hatte nicht die hohe Versuchung, zu schauen, was die Konkurrenten machen. Die Zeitungen waren halt gedruckt und dann hatte man seine Schlagzeile und seine Topthemen. Heute muss eine Onlineseite innerhalb von Sekunden oder Minuten auf die Themen der anderen reagieren. Und dafür gibt es ökonomische Gründe, weil die Menschen nach diesen Themen suchen und Werbung dadurch teurer wird, dass man diese Klicks hat. Das ist eine verfälschende Entwicklung, weil der Journalist in seiner Freiheit durch diese ökonomischen Zwänge beeinträchtigt wird. Das ist eine neue Programmierung von Entscheidungen, die ich durchaus kritisch sehe und die wir vorher nicht in gleicher Weise hatten. Auch früher mussten Produkte überlegen: Welche Themen bringe ich, um gelesen zu werden. Die „Bild-Zeitung“ ist das klassische Beispiel dafür, dass eine scharfe und spektakuläre Überschrift Käufer lockt.

Das hat sich sehr verändert. Die Medienunternehmen setzen sich im Prinzip selbst noch zusätzlich unter Druck, indem sie Liveticker aufsetzen, bei denen im Sekundentakt Meldungen verbreitet werden. Damit setzt man sich auch in Abhängigkeit zu denjenigen, die die Meldung geben – und die natürlich auch ihre ganz eigenen Interessen damit vertreten können. Gerade bei den Jamaika-Verhandlungen konnte man gut sehen, wie die einzelnen politischen Parteien, die dort beteiligt waren, immer wieder einzelne Informationsbrocken an ihre Klientel herausgaben, um zu zeigen, was man schon verhandelt und geschafft hatte, bis sich am Ende herausstellte, dass noch gar nichts entschieden war. Da sind die Medien der Politik ziemlich auf den Leim gegangen.

Das Verhältnis zwischen Politik und Medien oder auch zwischen Unternehmen und Medien ist immer ein wechselseitiges, weil der Journalist von Neuigkeiten und auch von Skandalen lebt. Zudem gibt es heute eine größere Zahl von Politikern, die das Skandalöse, etwa bestimmte überzogene Aussagen, ganz gezielt nutzen, um in den Medien sichtbar zu werden. Eine interessante Frage ist, ob ihnen das langfristig nützt, ob das Vertrauen schafft und Wählerstimmen generiert oder ob das Gegenteil der Fall ist. Das müsste man dann über größere zeitliche Zusammenhänge prüfen. Da ist die Frage: Was kann man tun? Juristisch ist aufgrund der gut begründeten Presse- und Rundfunkfreiheit der Gesetzgeber nicht in der Lage, Einhalt zu gebieten, sondern das ist Sache der Berufsträger selbst, der Journalisten, der Medienhäuser, sich dort einen Code of Conduct zu verordnen. Wir wissen selbst aus der eigenen Lebenserfahrung, dass Distanz manchmal auch Qualität schafft. Dass die direkte, spontane Reaktion häufig nicht die beste ist – insofern ist dieser Zwang zur sekundenschnellen Reaktion für die Qualität des ganzen Unternehmens sicherlich nicht förderlich.

Kommen wir noch einmal zurück zu der juristischen Betrachtung von Aufmerksamkeit: Im Grundgesetz gibt es keinen Hinweis zur Aufmerksamkeit. Ich glaube, im europäischen Recht ist das ein bisschen anders.

So ist es. Der Vertrag über die Europäische Union formuliert in Bezug auf das Demokratieprinzip, dass alle Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch auf gleiche Aufmerksamkeit der Organe der Europäischen Union haben. Wenn wir das im Grundgesetz suchen, finden wir zwar nicht diese Formulierung, es gibt aber die Menschenwürde als Art. 1 Abs. 1, wo der soziale Geltungsanspruch verankert ist; und es gibt das Republikprinzip. Republik ist nicht nur die Entscheidung gegen die Monarchie, sondern das Republikprinzip ist auch so zu verstehen, dass der Gedanke der Herrschaft für das Volk, also die Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen, den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, hier thematisiert wird. Insofern gibt es versteckt eine Verpflichtung aller staatlichen Organe, gegenüber einer Person und deren Bedürfnissen die erforderliche Aufmerksamkeit walten zu lassen. Bei der Menschenwürde ist das deshalb wichtig, wenn es darum geht zu unterstützen und zu respektieren. Das sind immer diese beiden Facetten dieses Gedankens, die in einer Wechselbezüglichkeit stehen.

Sie haben den Begriff „Ethos der Aufmerksamkeit“ benutzt, können Sie das noch etwas erläutern?

Ja, beim Ethos geht es um eine Grundhaltung. Nicht um auf den Einzelfall bezogene strikte Spielregeln, sondern eine Haltung: Wie begegne ich anderen Menschen und bestimmten Themen? Wir haben viele Berufe, der Arztberuf, aber auch der des ehrbaren Kaufmanns, wo wir historisch die Entfaltung eines solchen Berufsethos haben: Der Arzt hilft und dient der Gesundheit, er setzt sein Fachwissen uneigennützig ein. Beim ehrbaren Kaufmann ist es so, dass das Vertrauen in die Vertrauenswürdigkeit des anderen Voraussetzung für Geschäfte ist, weil bei Geschäften immer ein Risiko eingegangen wird. Das ist aber auch ein Modell, das wir auf die Gesellschaft insgesamt übertragen können. Unsere Gesellschaft ist hochgradig arbeitsteilig, im Privaten wie auch in der Wirtschaft. Diese Arbeitsteiligkeit setzt Vertrauen voraus. Eine Gesellschaft, wie wir es in der Bankenkrise gesehen haben, in der das Vertrauen wegfällt, funktioniert nicht mehr, weil man keine Geschäfte mehr macht, weil man sich kein Geld mehr leiht – und deshalb ist das Vertrauen eine Grundbedingung für erfolgreiches, gesellschaftliches, friedliches und produktives Zusammenleben. Da spielt das Ethos der Aufmerksamkeit eine Rolle, indem ich sage: Ich respektiere den anderen, vertraue ihm, ich halte mich an bestimmte Spielregeln, ich bin verlässlich. Das ist auch insgesamt für die Entwicklung von Gesellschaften wichtig. Es gibt interessante Untersuchungen zu afrikanischen Gesellschaften, die sich nicht entwickeln. Ein Hauptgrund besteht darin, dass es in diesen Gesellschaften nicht dieses Vertrauen und letztendlich keine Achtung und Aufmerksamkeit gegenüber den anderen Gruppen gibt. Insofern ist auch das Thema „Ethos“ für eine Gesellschaft sehr grundlegend und bedeutsam.

Dr. Winfried Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und ehemaliger Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt in Dessau-Roßlau.

Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.