Opfer oder Held?

Eine interdisziplinäre Filmanalyse von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“

Laura Keller

Laura Keller studierte Kultur- und Bildungswissenschaften sowie Kinder- und Jugendmedien und arbeitet als freiberufliche Medienpädagogin.

Mediale Inszenierungen von Behinderung bewegen sich nicht nur im Kinderfilm zwischen Unsichtbarkeit, Helden- und Opferrollen. Doch für kindliche Zuschauerinnen und Zuschauer tragen fiktionale Charaktere zur Aneignung ihrer Lebenswelt maßgeblich bei. Die wissenschaftliche Disziplin der Disability Studies fordert deshalb zu einer authentischeren Inszenierung von Behinderung auf, die sich weder negativer Stereotype noch Beschönigungen bedient. Doch wie gerecht werden aktuelle Kinderfilme diesen Ansprüchen? Eine interdisziplinäre Filmanalyse des Kinderfilms Rico, Oskar und die Tieferschatten.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 3/2017 (Ausgabe 81), S. 16-19

Vollständiger Beitrag als:

Rico ist auf dem Weg zum Supermarkt. Muss er nach rechts oder links? Da geht es auch schon los, das laute Rauschen einer Bingotrommel. Das Bild wird überblendet mit den bunten Farben ebendieser. Straßenschilder und Häuser beginnen sich zu drehen, mit ihnen Ricos ganze Welt. Rico ist tiefbegabt. Seinen Kopf vergleicht er selbst mit einer sich wild drehenden Bingotrommel, aus der ab und zu seine Gedanken herausfallen.
Andreas Steinhöfel, auf dessen Romanvorlage der Kinderfilm Rico, Oskar und die Tieferschatten basiert, wählte bewusst den Begriff der Tiefbegabung – in Film und Buch vergleichbar mit einer Lernbehinderung –, um die Geschichte nicht der Stigmatisierung einer bestimmten Behinderung auszuliefern, sondern Rico als Charakter zu fokussieren. Denn die Darstellung von Menschen mit Behinderung ist in den Medien noch immer ein schwieriges Thema. Obwohl in Deutschland schätzungsweise 10% der Bevölkerung, darunter auch Kinder und Jugendliche, eine körperliche oder geistige Behinderung haben, werden sie in den Medien kaum repräsentiert, auf ihre Behinderung reduziert oder als Klischee inszeniert. Der Held, der seine Behinderung trotz aller Schwierigkeiten überwindet, oder das Opfer, das unselbstständig und hilfebedürftig Mitleid erzeugt. Beide Bilder sind dabei vom Ziel einer inklusiven und respektvollen Gesellschaft weit entfernt (vgl. Heiner 2003).

Für diejenigen, die in ihrem persönlichen oder beruflichen Umfeld keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben, ist das mediale Bild besonders entscheidend. Denn Medien, wie beispielsweise Spiel- oder Fernsehfilme, tragen zur Definition von Behinderung maßgeblich bei. Sie können Vorurteile schaffen oder Klischees verfestigen. Doch in Film, Fernsehen und Berichterstattung leiden Menschen häufig an ihren Behinderungen, sie haben ein schweres Schicksal oder sitzen nicht in Rollstühlen, sondern sind an diese gefesselt. Diese suggerierten Bilder sind somit weder positiv, objektiv noch selbstbestimmt (vgl. Leidmedien.de).


Behinderung im (Kinder-) Film

Menschen mit Behinderung werden meist überhaupt nur gezeigt, weil sie eine Behinderung haben. Sie dienen als Anlass für emotionale Handlungsstränge in Filmen oder Beiträgen, sind jedoch drastisch unterrepräsentiert, wenn es um Themen abseits von Behinderung geht (vgl. Radtke 2003). Der Spielfilm wird hierbei zu einer Art Selbstläufer, der sich einer Bilddatenbank kollektiven Bewusstseins bedient. Die Interpretation der Bilder wird den Zuschauerinnen und Zuschauern überlassen, die – dank jahrelanger einseitiger Darstellung von Menschen mit Behinderung in den Medien – schnell begreifen, auf welche Rollenklischees sie zum Sehverständnis zurückgreifen können. Porträtiert werden Figuren mit Behinderung zudem in den meisten Fällen von Menschen ohne Behinderung. In Hollywood kann man bereits die Beobachtung machen, dass Schauspielerinnen und Schauspieler ohne Behinderung für die Darstellung von Figuren mit Behinderung besonders häufig mit dem Oscar als Filmpreis ausgezeichnet werden, gerade so, als sei diese Leistung umso ehrwürdiger (vgl. Masters/Heiner 2003). Auch Medienschaffende haben selbst nur selten eine Behinderung und beschreiben nicht die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung, sondern lediglich ihre eigene Vorstellung davon.

Im Kinderfilm spielt Behinderung sogar eine noch untergeordnetere Rolle und wird – weder in Forschung noch in Produktion – nahezu gar nicht thematisiert. Für Kinderfilme bestätigen sich die Rollen des Helden und des Opfers und lassen sich durch die Rolle des Bösewichts mit Behinderung ergänzen. Sichtbarkeit von Behinderung muss aber auch im Kinderfilm hergestellt werden, da Vielfältigkeit auch dort nicht ausgeblendet werden darf (vgl. Götz/Schlote 2010).
Doch auch, wenn in fiktionalen Produktionen weniger als 1% der Hauptfiguren eine Behinderung oder chronische Krankheit aufweist (vgl. Götz 2008), lassen sich bekannte Kinder- und Jugendfilme finden, in denen Behinderungen eine Rolle spielen. Kai aus der Filmreihe Vorstadtkrokodile (2009 – 2011) sitzt im Rollstuhl, Nemo ist ein körperbehinderter Clownfisch in Findet Nemo (2003), Michi findet in Auf Augenhöhe (2016) seinen kleinwüchsigen Vater und in Heidi (1952) sitzt die beste Freundin Klara im Rollstuhl.


Medienwelten gleich Kinderwelten?

Doch warum ist es überhaupt wichtig, dass Behinderung eine authentische Darstellung in Medienangeboten – wie Kinderfilmen – erfährt? Medien existieren heute nicht parallel zu den klassischen Sozialisationsinstanzen, sondern durchdringen diese. Im Prozess der Mediensozialisation eignen sich Kinder Medieninhalte im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse mit Bezug auf ihre eigene Identitätsentwicklung an (vgl. Süss 2004). Für Kinder ist es deshalb wichtig, dass die Medieninhalte in einen Kontext zur kindlichen Lebenswelt gesetzt werden können – die grundsätzliche Wahrnehmung von Filmen ist für Kinder eine andere als für Erwachsene. Sie variiert je nach Alter und Entwicklungsstand. Auch die Sehsozialisation, die visuelle Kompetenz, die Kinder benötigen, um sich die Bilder ihrer Umwelt anzueignen, befindet sich noch in der Entwicklung (vgl. Mikos 2010). Grundannahme ist, dass mit steigendem Alter auch die Medienkompetenz zunimmt: beginnend mit der Fähigkeit, Realität und Fiktion zu unterscheiden, Schnitte, Kamerafahrten und Montagen als visuelle Elemente zu erkennen und schließlich die Botschaft eines Films interpretieren zu können (vgl. Tatsch 2010).

Mit dem Konzept der Medien- und Sehsozialisation kann somit auch die Frage beantwortet werden, warum es überhaupt von Bedeutung ist, dass von Kindern genutzte Medien und Filme ein authentisches Bild von Behinderung vermitteln. Es ist das Bild von Behinderung im Kinderfilm, mit dem Kinder aufwachsen, und der Umgang mit Menschen mit Behinderung, der ihnen dort vorgelebt wird.


Disability Studies hinterfragen wissenschaftliche und gesellschaftliche Normalität

Behinderung wird in Deutschland häufig als medizinisches Phänomen – vergleichbar mit dem Konzept der Krankheit – verstanden, das mit Einschränkung oder Ausgrenzung der gesellschaftlichen Teilhabe einhergeht. Die verhältnismäßig junge wissenschaftliche Disziplin der Disability Studies schreitet genau dort ein. Ihre Forschungsweise unterscheidet sich zu den bisherigen Arbeiten durch ihre geistes- und kulturwissenschaftliche Herangehensweise und Untersuchungen der sozialen, kulturellen und politischen Dimension von Behinderung. Etablierte Ansätze anderer Forschungsdisziplinen sind oftmals auf die Problemlösung fixiert und fassen Behinderung als zu kurierende gesellschaftliche Ausnahme auf, anstelle sie als vielfältige Erscheinungsweise zunächst einfach zu akzeptieren.

Die Disability Studies lösen das medizinisch-heilpädagogische Denken über Behinderung ab und fokussieren die Marginalisierung von Menschen mit Behinderung im Spannungsfeld von Behinderung und Nichtbehinderung. Denn genau hier offenbart sich die Differenz von behindert sein und behindert werden im Sinne sozialer Benachteiligung, Diskriminierung und fehlender Barrierefreiheit. Behinderung wird als soziale Konstruktion neu gedacht. Das Problem, das es zu beheben gilt, liegt dabei nicht mehr aufseiten der Menschen mit Behinderung, sondern aufseiten der Gesellschaft. Damit hinterfragen sie auch den gegenwärtigen Diskurs um Normalität als solche (vgl. Schneider/Waldschmidt 2012).


Ansprüche der Disability Studies an den Kinderfilm

Basierend auf der mangelhaften Darstellung von Behinderung in Medien und Film wird von den Disability Studies deshalb ein Bild von Behinderung gefordert, das sich weder negativer Stereotype noch Beschönigungen bedient. Eine authentische Darstellung beinhaltet, den Komplex der sozialen Ungerechtigkeit aufzugreifen und Aufklärungsarbeit zu leisten, ohne die Charaktere in einen Zwiespalt von Opfer- und Heldenrolle zu drängen. Rezipierende sind in der Pflicht, die Darstellung von Behinderung im Film häufiger zu hinterfragen. Ein wiederkehrendes Motiv im Film ist Leid, welches häufig gleichbedeutend mit dem Begriff der Behinderung verstanden wird. Es muss ein Weg gefunden werden, Leid weder zu ignorieren noch zu instrumentalisieren. Die Disability Studies fordern den vermehrten Einsatz von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung – nicht nur für Rollen mit Behinderung. Der bisherige Widerspruch von Filmen, in denen es nur um Behinderung geht, und Filmen, in denen gar keine Figuren mit Behinderung auftauchen, soll somit eliminiert werden. Die Analyse von Filmen mit Behinderung bietet die Möglichkeit, Disability Studies und Filmwissenschaften insofern zu verbinden, als dass ein veränderter Blickwinkel entsteht, der genutzt werden kann, um gesellschaftliche Missverhältnisse offenzulegen (vgl. Anders 2014).


Rico, Oskar und die Tieferschatten – eine interdisziplinäre Filmanalyse

Für die wissenschaftliche Analyse von Kinderfilmen im Sinne der Filmwissenschaften und der Disability Studies bedeutet dies, Leitfragen bezüglich der Darstellung von Behinderung zu entwickeln: Welche Behinderungen kommen vor? Inwiefern ist die Behinderung in die Handlung integriert? Wurden Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung eingesetzt? Wie wird die Behinderung visualisiert? Wie werden filmästhetische Mittel eingesetzt? Bei der Filmanalyse des eingangs vorgestellten Kinderfilms Rico, Oskar und die Tieferschatten zeigt sich, dass eine authentische Darstellung von Behinderung keinesfalls Dreh- und Angelpunkt der Erzählung sein muss.

Inhaltlich wächst Rico im Laufe des Films mehrfach über sich hinaus – nicht zwangsläufig als Kind mit Behinderung, sondern als 10-jähriger Junge. Er beginnt, zu widersprechen und Sticheleien bezüglich seiner Tiefbegabung nicht mehr hinzunehmen. Die Szenen, in denen seine Tiefbegabung für Rico eine Herausforderung darstellt, weisen filmästhetische Besonderheiten auf – visuelle und akustische Überblendungen von Rico und der Bingotrommel, viele Perspektivwechsel, erhöhte Schnittfrequenzen, veränderte Kamerabewegungen und Einstellungsgrößen –, sie sind dynamischer, emotionaler, aber auch erfahrbarer.

Rico, Oskar und die Tieferschatten ist eine Mischung aus Freundschafts-, Abenteuer- und Kriminalfilm für Kinder, der es schafft, Behinderung kindgerecht zu thematisieren, ohne zu stereotypisieren.“

Ricos Behinderung wird im Film nicht mit Leid gleichgesetzt, es wurden Erzählmuster gefunden, die die Inkorporation der Behinderungsthematik in die Handlung erlauben und zugleich neue Sichtweisen öffnen. Ignoriert wird sie dennoch nicht, denn es gibt auch Sequenzen, in denen Rico von Gleichaltrigen und Erwachsenen gehänselt wird. Die Stärken und Schwächen seiner Behinderung werden als Herausforderungen verstanden und nicht im Sinne einer Krankheit porträtiert. Lediglich in Bezug auf den Einsatz von Schauspielerinnen und Schauspielern mit Behinderung kann der Film die Ansprüche nicht erfüllen, da weder für Rollen mit noch ohne Behinderung Schauspielerinnen und Schauspieler mit Behinderung eingesetzt wurden. Hier wäre es wünschenswert gewesen, dass der Film diese Chance nutzt, um ein noch authentischeres Bild zu schaffen.

Rico, Oskar und die Tieferschatten ist eine Mischung aus Freundschafts-, Abenteuer- und Kriminalfilm für Kinder, der es schafft, Behinderung kindgerecht zu thematisieren, ohne zu stereotypisieren. Rico ist tiefbegabt, aber keinesfalls doof – er ist ein komplexer Charakter, den die selbstbewusste Annahme seiner vermeintlichen Defizite stärkt.
Interdisziplinäre Filmanalysen im Sinne der Disability Studies können somit genutzt werden, um Missstände im Bereich der Darstellung von Behinderung herauszuarbeiten und neue inhaltliche Möglichkeiten sowie filmästhetische Mittel zur authentischen Inszenierung aufzuzeigen.

Literatur:

Anders, P.-A.: Behinderung und psychische Krankheit im zeitgenössischen deutschen Spielfilm. Eine vergleichende Filmanalyse. Würzburg 2014

Götz, M.: Gender in children’s television worldwide. Results from a media analysis in 24 countries. In: Televizion, 21/2008/E, S. 4–9

Götz, M./Schlote, E.: Darstellung von Behinderung im Kinderfernsehen. Wie Kinder und Jugendliche Qualitätsprogramme beurteilen. In: Televizion, 23/2010/2, S. 51–54

Heiner, S.: Einleitung. In: S. Heiner/E. Gruber (Hrsg.): Bildstörungen. Kranke und Behinderte im Spielfilm. Frankfurt am Main 2003, S. 12–27

Leidmedien.de: Über Menschen mit Behinderung berichten. (letzter Zugriff: August 2017)

Masters, L./Heiner, S.: Behinderte bevorzugt? Der „Oscar“ und die „handicapable“. In: S. Heiner/E. Gruber (Hrsg.): Bildstörungen. Kranke und Behinderte im Spielfilm. Frankfurt am Main 2003, S. 153–157

Mikos, L.: Fernsehen und Film – Sehsozialisation. In: R. Vollbrecht/C. Wegener (Hrsg.): Handbuch Mediensozialisation. Wiesbaden 2010

Radtke, P.: Zum Bild behinderter Menschen in den Medien. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament, 8/2003, S. 7–12

Schneider, W./Waldschmidt, A.: Disability Studies. (Nicht-) Behinderung anders denken. In: S. Moebius (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 129–150

Süss, D.: Mediensozialisation von Heranwachsenden. Dimensionen – Konstanten – Wandel. Wiesbaden 2004

Tatsch, I.: Filmwahrnehmung und Filmerleben von Kindern. In: P. Josting/K. Maiwald (Hrsg.): Verfilmte Kinderliteratur. Gattungen, Produktion, Distribution, Rezeption und Modelle für den Deutschunterricht. München 2010, S. 143–153