Kolumne: Opium für Tillys Erben

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Einst waren Testimonials über alle Zweifel erhaben. Mit den Heerscharen von Influencer*innen gibt es nun Gerangel an der Front der Meinungsführerschaft. 

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 50-51

Vollständiger Beitrag als:

Im Schulfach Politik, ca. 6. Klasse, nahmen wir das Thema „Werbung“ durch. Eine Gestalt, mit der wir uns beschäftigten, wurde Meinungsführer genannt: Sie sollte unser Vertrauen genießen und es ausnutzen, um uns zum Kauf eines von ihr beglaubigten Produkts zu bewegen. In der Regel handelte es sich um aus anderen Zusammenhängen bekannte Personen, also um Prominente. Eigens für die Werbung erfundene Meinungsführerinnen wie die Ariel-Klementine oder die Palmolive-Tilly waren die große Ausnahme.
 

Palmolive-Werbung 1981 ([Un]Real, 09.08.2011)



Als Hausaufgabe sollten wir selbst eine Werbung mit Meinungsführer gestalten. Ich suchte mir in einer abgelaufenen Programmzeitschrift eine Reklame für einen hinreichend kleinen Gegenstand – einen Rasierer von Philips namens „Akku Traveller“ – und schnitt aus den Film- und Serienankündigungen lauter Fotos von Stars aus, die einzeln oder zu mehreren mit kleinen Gegenständen beschäftigt zu sein schienen, sich über etwas beugten oder hinter etwas herjagten. Ein DIN‑A3‑Blatt klebte ich mit ihnen voll und versah sie mit lustigen Sprechblasen zum Thema „Akku Traveller“. Auch meine Politiklehrerin konnte darüber lachen, allerdings kommentierte sie meine Collage mit dem Satz: „Ein Meinungsführer hätte gereicht.“

Worte, die Jahrzehnte später wundersam in mir nachhallen. Das Testimonial-Gewimmel kommt mir heute fast visionär vor. Begrifflich hat sich inzwischen einiges getan, die Meinungsführerin von damals wurde erst zur Werbebotschafterin, dann zur Influencerin. Auch heute gibt es noch Menschen, die Meinungsführer genannt werden, allerdings tummeln sie sich wieder da, wo sie mit ihrer Originalbezeichnung Opinion Leader einmal herkamen: in der politischen Sphäre. Andererseits war selbst westfälischen Schulbehörden schon in den 1980ern klar, dass das Thema „Werbung“ in das Fach Politik gehört. Das Thema „Träume mit 13“ gehörte hingegen in das Fach Religion – es glaube also niemand, das Prinzip der willkürlich behaupteten Zuständigkeiten sei eine Neuheit des digitalen Zeitalters.

Womit wir endlich zurück im Internet wären. Und apropos Influencer*innen: Sie sind, genau genommen, das heutige Äquivalent zu Tilly und Klementine. Dass gerade diese unwahrscheinliche Form der Meinungsführerschaft zur vorherrschenden wurde – zumindest bei den Digital Natives – ist von erbaulicher Ironie. Klementine und Tilly mussten sich 1986 und 1992 als alte Tanten – oder, wie Herbert Willems und York Kautt in ihrer Studie Theatralität der Werbung schreiben, „weisungsbefugte Schwiegermütter“ – aussortieren lassen, und Klementines kleines Comeback Mitte der 1990er-Jahre stand dann schon ganz im Zeichen der postmodernen Freude am Referenzen-Ringelpiez.
 

Ariel-Werbung 1980 (RETRO CLASSICS, 2021)



Heute haben Influencerinnen wenig Tantenhaftes oder Schwiegermütterliches an sich. Und sie sind nicht mehr Ausnahme, sondern Legion – das massenhaft Gestalt gewordene Versprechen:

„Du kannst Einfluss ausüben.“ Basisdemokratie geht viral. Oder tut so. Oder beides. Womit wir auch wieder bei der Politik wären. Und bei dem, was all ihre unverhofften Nachfahren eben doch mit Tilly und Co. gemeinsam haben: die zur Schau gestellte Weisungsbefugnis.

Wann und wo sich gestandene Influencer selbst politisch äußern, soll hier trotzdem nicht weiter interessieren. Denn ihre Art, Expertise zu bekunden („Schaut her und findet mich toll!“), ist längst zur gängigen Attitüde in den sozialen Medien geworden. Alle kommunizieren so, als stünde ihnen eine ergebene Fangemeinde zu. Und geht es nicht um gelingendes Leben, sondern um Kontroverseres, schmelzen die Unterschiede zum Mansplaining der Boomer-Generation schnell dahin; sie liegen überhaupt, wenn, dann eher im Stil als im Selbstverständnis. Und verloren gegangen ist die Gutmütigkeit, die Klementine und Tilly ausstrahlten.

Allerdings haben die beiden ja auch nicht über Politik geredet, und vor allem mussten sie sich nicht mit Widerspruch herumschlagen. Niemand hakte nach, was „porentief rein“ in Bezug auf Wäsche eigentlich heißen sollte. Und wenn eine tollpatschige Frau sich an einen Tisch setzte, mit den Fingern in ein seltsamerweise bereitstehendes Schälchen mit Geschirrspülmittel geriet und dann von Tilly belehrt wurde, dass es um den Beweis ging, welch Wohltat Palmolive für die Haut war, reagierte sie zumindest für die Dauer des Werbespots weder mit: „Verarschen kann ich mich selbst“ noch mit Troll-Verhalten.

Tillys Nachfahren auf Twitter und Facebook hingegen müssen um ihre Deutungshoheit kämpfen. Sie dürfen dabei nicht einmal wirklich innehalten, sonst würde ihnen auffallen, wie viele es von ihnen gibt und wie verschwindend gering ihre Überzeugungskraft im Vergleich zu der ihrer Ahnin ist. Da, wo sie unterwegs sind, ist der Ton rau, das Echo ohrenbetäubend, die Zündschnur allzeit zu kurz. Influencer ist die Theorie, Info-Krieger ist die Praxis.

Womit wir beim Krieg wären. Beim Krieg nebenan, in der Ukraine, dem schon in den klassischen Medien fast jegliche journalistische Besonnenheit zum Opfer fällt. Erst recht natürlich da, wo wir uns informieren: in den sozialen Netzwerken.

Bleiben wir, weil es so anstrengend ist, für den Moment beim einigermaßen demokratischen Spektrum. Denn auch diesseits von Telegram drehen alle hohl. Die einen sehen ein Gut gegen Böse wie in einer Streamingserie aus Mittelerde, die anderen wie im Kalten Krieg, die dritten werfen mit Gandhi-Zitaten.

Und auch, wenn sie einander nicht ausstehen können (oder zumindest so tun), teilen sie geschwisterlich ein Laster: Sie nutzen das Grauen, um Dinge zu sagen oder gar zu denken, die sie sich aus guten Gründen lange verkniffen haben. „Aufrüstung!“, schnarrt es von konservativ bis linksliberal, „Schwere Waffen, hurra!“, „Russland ist unser Todfeind!“ Aus einer dogmatisch linken Ecke tönt es: „NATO-Verschwörung!“, „Faschistisches Regime!“, „Marionette der USA!“ Und eine besonders sendungsbewusste Clique mahnt immer wieder: „Waffenstillstand jetzt!“, „Er hat Atombomben!“ oder „Verhandlungstisch!“, als wäre noch niemand draußen in der Politik auf solche Gedanken gekommen.

Wir (Schluss mit dem distanzierten Getue: als gehörte ich nicht auch dazu) halten uns für weisungsbefugt und sind doch bloß ein dysfunktionaler Ameisenhaufen. Jede Ameise postet ihr Testimonial vor sich hin. Umso erstaunlicher, dass der Haufen, wenn nichts Geringeres als eine Zeitenwende beschworen wird, trotzdem zu gerade einmal drei unterscheidbaren Fraktionen verklumpt: Militaristinnen, Ostblock-Nostalgiker und die mit den offenen Briefen. Wenn wir Meinungsführer sind, dann wohl Meinungs-Engführer.

Ich glaube allerdings fest daran: Sobald eine von uns laut genug ruft: „Hey Bubble, hat wer von diesem Cocktail namens Opium for the Schwarm gehört?“, wird aus einer brennenden Cloud heraus Tillys Stimme erschallen: „Sie baden gerade Ihre Hände drin.“ Und Klementine, neben ihr schwebend, wird ergänzen: „Ihr stürzt euch sogar porentief rein.“