Panorama 3/2021

„Erwachsene müssen Werte setzen!“

Christina Heinen im Gespräch mit Dimitria Bouzikou

Die Landesstellen Jugendschutz haben im April 2021 ein Positionspapier mit dem Titel (Cyber)Mobbing unter Kindern und Jugendlichen Alarm ohne Folgen?! veröffentlicht. Sie sprechen sich darin dafür aus, begrifflich klarer zu differenzieren und nicht jede Gewaltattacke im Netz als Mobbing zu titulieren. tv diskurs sprach mit einer der Verfasserinnen, der Fachreferentin für Gewaltprävention Dimitria Bouzikou, über die Dynamik von Mobbing und was man dagegen tun kann.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 52-53

Vollständiger Beitrag als:

 

Warum ist es wichtig, Cybermobbing nicht als reines Medienphänomen zu begreifen?

Mobbing beginnt in den meisten Fällen in der analogen Welt, die Kinder und Jugendlichen kennen sich, aus der Schule z.B. Im Netz wird es lediglich fortgesetzt. Die Ursachen für Mobbing liegen nicht in den sozialen Medien, sondern im sozialen Miteinander. Einmalige Angriffe in den sozialen Medien sind kein Cybermobbing, sondern eine Cyberattacke. Natürlich kann eine Cyberattacke aufgrund der Reichweite und Öffentlichkeit in kurzer Zeit trotzdem sehr schädigende Auswirkungen haben. Es ist aber wichtig, klar zwischen den einzelnen Onlinegewaltphänomenen wie Hate Speech, Cyberstalking, Cybergrooming, Cybermobbing zu unterscheiden, damit man den Schweregrad des Vorfalls einordnen und angemessene Interventionsmaßnahmen planen kann. Für Mobbing gibt es einige zentrale Kriterien, die weitestgehend ebenso für Cybermobbing gelten: Es findet über einen längeren Zeitraum statt, meist greifen einzelne oder mehrere Mitglieder einer Gruppe eine bestimmte Person systematisch an, würdigen sie herab, demütigen sie, verletzen sie. Das ist kein Streit, sondern ganz klar ein asymmetrisches Machtverhältnis. Es schädigt die von Mobbing Betroffenen massiv, verändert aber auch den Werterahmen der gesamten Gruppe und schadet somit allen, auch denjenigen, die mobben.

Was halten Sie von der Aussage: „An unserer Schule gibt es kein Mobbing“?

Statistisch gesehen gibt es in jeder Klasse eine*n Betroffene*n. Wenn Mobbing stattfindet, verschieben sich, wie eben beschrieben, die Werte innerhalb der Klasse. Die Lehrkräfte kriegen das häufig nicht mit, weil Mobbing sehr subtil und verdeckt ausgeübt wird. Meist sind es Übergriffe, die, einzeln betrachtet, harmlos wirken, aber die Häufung und Konstanz der Handlungen machen sie so dramatisch. Insofern sind sie für Lehrkräfte nicht direkt als Mobbing erkennbar. Diejenigen, die andere ausgrenzen, erniedrigen, wollen das natürlich so geheim wie möglich halten. Und die Betroffenen schweigen aus Scham, fühlen sich schuldig oder haben Angst vor Rache, wenn sie das Schweigen brechen. Zu sagen, dass es das nicht gibt, ist eine naive und gefährliche Haltung. Weil Mobbing komplex und diffus ist, sollten Lehrkräfte besonders sensibilisiert sein. Kinder und Jugendliche probieren sich im sozialen Kontakt miteinander aus, auch auf unangemessene Weise. Das ist wichtig für ihre Entwicklung. Da kann es Sinn machen, sich als Lehrkraft auch mal zurückzuhalten. Aber bei Mobbing muss eingegriffen werden. Wenn ich sage: Mobbing gibt es bei uns nicht, dann sehe ich es nicht, kann nicht frühzeitig reagieren. Um etwas präventiv und interventiv gegen Mobbing unternehmen zu können, muss ich die Merkmale von Mobbing kennen und wissen, wie die Dynamik systemisch funktioniert.
 


Wenn Erwachsene es versäumen, Werte zu setzen bzw. korrektiv auf Grenzverletzungen einzuwirken, stellen Kinder also ihr eigenes Wertesystem auf.


 

Sie sagten, dass sich durch Mobbing das Wertegefüge innerhalb der Klasse verschiebt. Was bedeutet das?

Lehrkräfte sollten ein transparentes Regelwerk und Werte setzen bzw. mit den Schüler*innen zusammen erarbeiten. Wenn sie das nicht tun, machen die Schüler*innen unter sich aus, was in Ordnung ist und was nicht. Diejenigen, die mobben, haben meist sehr gute Rechtfertigungsstrategien für ihr Handeln, um ihr Gewissen zu beruhigen: Die oder der hat es verdient, macht so viele schlimme Sachen, hat schlecht über mich geredet, ist so komisch. Je länger das Mobbing anhält, desto normaler wirken die Mobbinghandlungen auf die gesamte Gruppe, wie eine Art Desensibilisierung gegen antisoziales Verhalten. Sinnvollerweise wird Mobbing als Gewaltphänomen explizit mit allen besprochen und im Präventionskonzept einer Schule aufgegriffen. Lehrkräfte beziehen dabei klar Stellung gegen Mobbing und vermitteln Kindern und Jugendlichen Wissen über die Dynamik und Auswirkungen von Mobbing. Das macht es Schüler*innen leichter, Erwachsene anzusprechen und von möglichen Mobbinghandlungen zu berichten. Wenn Erwachsene es versäumen, Werte zu setzen bzw. korrektiv auf Grenzverletzungen einzuwirken, stellen Kinder also ihr eigenes Wertesystem auf. Indirekt wirkt die Passivität Erwachsener verstärkend auf die mobbenden Kinder.

Kann man Mobbing überhaupt stoppen?

Kinder und Jugendliche schaffen es nicht, Mobbing allein zu beenden, weil sie körperlich oder psychisch unterlegen sind. Meistens wenden sie sich auch nicht eindeutig an Erwachsene, sie schämen sich und haben das Gefühl, dass sie selbst schuld sind, ihr Selbstwertgefühl ist angegriffen. Oftmals drohen die Mobbenden den Kindern mit weiteren Angriffen, falls sie über die Vorfälle mit jemandem sprechen. Mobbing entwickelt eine extrem undurchsichtige Dynamik, deswegen kann es auch so lange anhalten. Es entsteht in Zwangskontexten wie der Schule, da kann ich nicht weg, ich muss einfach immer wieder hin. Die Mobbingintervention gehört in Erwachsenenhände.

Wie kann man Mobbing stoppen?

Ich halte viel vom No Blame Approach. Diese Interventionsmaßnahme setzt voraus, dass die Lehrkraft das Mobbing mitbekommt, das Gespräch mit dem betroffenen Kind sucht, und dass das ausgegrenzte Kind und dessen Eltern einverstanden sind mit folgendem Vorgehen: Es wird eine Unterstützungsgruppe gebildet, der sozial starke Kinder und auch die Hauptverantwortlichen für die Mobbingtaten angehören sollen. Das von Mobbing betroffene Kind ist nicht in dieser Gruppe. Ohne Schuldzuweisung bittet die Lehrkraft diese Unterstützungsgruppe dann um Hilfe, etwas für das betroffene Kind zu tun, damit es ihm besser geht. Das kann z.B. sein, es nicht mehr zu ärgern, nachmittags mal einzuladen, es auf dem Pausenhof anzusprechen und in Gespräche einzubinden – oder auch einfach, es in Ruhe zu lassen. Die Vorschläge kommen von den Kindern selbst. Der Vorteil des No Blame Approach ist, dass das Mobbing sofort gestoppt und das Schweigen endlich gebrochen wird. Nach einer gewissen Zeit spricht die Lehrkraft wieder mit dem betroffenen Kind und schaut, ob das Mobbing aufgehört hat. Der No Blame Approach ist eine erfolgreiche Methode. Sie wirkt, ohne dass Schuldige in den Vordergrund gerückt werden. Vor allem erfährt im besten Fall das betroffene Kind sofortige Entlastung. Zudem haben mobbende Kinder oder Jugendliche so eine Chance, ihr destruktives Verhalten sofort zu beenden. Und die sozial starken Kinder, die nicht am Mobbing beteiligt sind und den größten Anteil einer Gruppe ausmachen, werden durch diese Methode aktiviert und bestärkt, dem betroffenen Kind beizustehen und es zu unterstützen. So wird systemisch auf allen Ebenen gearbeitet.

Weitere Informationen unter ajs.nrw

 

Dimitria Bouzikou arbeitet als Supervisorin und Gewaltpräventionstrainerin mit Kindern, Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).