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Psychische Gesundheit als Verhaltenserwartung und Konsumgut

Barbara Weinert im Gespräch mit Laura Wiesböck

Phasen von Traurigkeit und Trauer, Krisen, Selbstzweifel und emotionale Verletzungen gehören seit jeher zur menschlichen Existenz. Im digitalen Zeitalter scheinen diese Phänomene aber immer häufiger krankhaft gedeutet zu werden. Gerade Social-Media-Plattformen sind voll von psychiatrischen Begriffen und Diagnosen. Die Soziologin Dr. Laura Wiesböck beschäftigt sich in ihrem aktuellen Buch Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend mit der inflationären Verwendung von Begriffen wie „Trauma“, „triggern“ und „toxisch“. mediendiskurs sprach mit ihr über mögliche Hintergründe und Auswirkungen dieses Trends.

Online seit 07.05.2025: https://mediendiskurs.online/beitrag/psychische-gesundheit-als-verhaltenserwartung-und-konsumgut-beitrag-772/

 

 

Die Sensibilität gegenüber seelischen Erkrankungen ist seit ein paar Jahren in der Öffentlichkeit stark gewachsen. Dazu haben sicherlich auch medienwirksame Auftritte von Prominenten wie Sportler:innen und Schauspieler:innen beigetragen. Wie ist diese Entwicklung aus Ihrer Sicht zu bewerten?

Einerseits positiv. Studien zeigen, dass die stärkere Sichtbarkeit von psychischen Erkrankungen dazu führen kann, dass sich Betroffene eher Hilfe holen oder sich auch stärker angesprochen fühlen, als wenn sei allein medizinische Fachinformationen erhalten. Soziale Medien bieten die Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten und sich weniger allein zu fühlen. Das ist besonders für psychisch Erkrankte oft wichtig, die Hemmungen oder mangelnde Ressourcen haben, auf andere Menschen zuzugehen. Es ist also eine Entwicklung, die sich durchaus zuträglich auf psychisch belastete Menschen auswirken kann.

Aber eben nicht nur ...

Wie in allen gesellschaftlichen Bereichen lassen sich auch hier Ambivalenzen und gleichzeitig stattfindende Prozesse beobachten. Denken wir etwa an Paarbeziehungen, wo sich sowohl Retraditionalisierungsprozesse als auch Öffnungen von traditionellen Modellen zeigen. Der Fokus in meinem Buch liegt auf den kritischen Aspekten des Social-Media-Diskurses zu „Mental Health“ – insbesondere darauf, inwieweit im Namen der Enttabuisierung erhöhter Druck auf klinisch Betroffene ausgeübt wird, oder auch eine Bagatellisierung ihrer Leidenszustände, etwa durch das vorschnelle Verteilen von psychiatrischen Labels. Hierbei ist es wichtig, sich die Rolle von Social-Media-Plattformen anzusehen. Diese sind Business-Modelle von privaten Konzernen, etwa aus den USA und China, die bestimmte Strukturen und Logiken vorgeben.
 


Es ist also immer wieder wichtig, sich an die Anreize im digitalen Kapitalismus zu erinnern, die darin bestehen, mit Inhalten Aufmerksamkeit zu erzeugen, um die Views und die Follower:innenschaft zu erhöhen.“



Ästhetisierte Darstellungen und attraktive Körper generieren mehr Aufmerksamkeit, wie auch emotionsgeladener Content. Vor diesem kommerziellen Hintergrund sind digitale Darstellungen von psychischen Erkrankungen durchaus kritisch zu betrachten, da es angesichts dieser Logik zu deren Romantisierung, Glamourisierung oder Popularisierung kommen kann. Das gilt besonders für Influencer:innen mit einer hohen Reichweite, die ihre psychische Erkrankung als identitätsstiftendes Merkmal vermarkten und als erfolgreiche, attraktive Subjekte gelten, die Aufmerksamkeit und Kooperationen mit großen Marken haben. Sie können andere dahin gehend beeinflussen, also influencen, eine psychische Erkrankung für anstrebenswert zu halten – ob sie das selbst beabsichtigen oder nicht, spielt in der auf Nachahmung ausgelegten Beziehung keine Rolle. Es ist also immer wieder wichtig, sich an die Anreize im digitalen Kapitalismus zu erinnern, die darin bestehen, mit Inhalten Aufmerksamkeit zu erzeugen, um die Views und die Follower:innenschaft zu erhöhen.

Sie schreiben in Ihrem Buch gerade mit Blick auf junge Menschen, dass es um die Gefahr der Vernetzung von klinischen und menschlichen Zuständen geht. Können Sie erklären, was genau Sie darunter verstehen?

In neoliberalen Gesellschaften sind Individuen aufgefordert, eigenverantwortlich, leistungsbereit, funktionsfähig und wettbewerbsorientiert zu agieren. Der Staat soll sich auf seine rechtsstaatlichen Funktionen beschränken und unternehmerische Interessen ermöglichen, Profit zu generieren. Diese Marktlogik schreibt sich in alle gesellschaftlichen Bereiche ein. Einerseits in die Gesundheitsindustrie, wo es auch darum geht, Märkte, Produkte und Dienstleistungen zu erweitern, und damit ein Interesse an einem vermehrten Diagnoseaufkommen besteht. Andererseits bei den Individuen selbst. Die Idee, dass man scheitern oder an einem Misslingen selbst schuld sein könnte, löst einen starken Druck aus. Diagnosen können dann eine Erleichterung bringen, da sie einen Raum ermöglichen, in dem man legitim ineffizient sein kann und überhöhte gesellschaftliche Leistungserwartungen nicht erfüllen muss, weil man eben krank ist – auch wenn die Idee einer Krankheit vielleicht gar nicht die ursächliche Erklärung für den Zustand ist und auch wenn der Zustand kein klinisches Problem ist, sondern ein unvermeidbarer und zutiefst menschlicher Aspekt des Lebens, wie es bei Traurigkeit, Trauer, oder Phasen der Orientierungslosigkeit der Fall ist.
 


Diagnosen können […] eine Erleichterung bringen, da sie einen Raum ermöglichen, in dem man legitim ineffizient sein kann und überhöhte gesellschaftlichen Leistungserwartungen nicht erfüllen muss, weil man eben krank ist.“



Sind die Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit nicht auch gesellschaftlich konstruierte Begriffe?

Richtig. Definitionen von „krank“ und „gesund“ sind keine objektiven Parameter. Sie sind sozial konstruiert, gesellschaftlich vermittelt und unterliegen spezifischen Wertorientierungen und wenn man so will „Moden“. Dabei stellt sich immer die Frage, welche Normalitätsentwürfe dahinterstehen. Wenn wir etwa an ADHS denken, dann ist eine Argumentationsweise für das gegenwärtige erhöhte Diagnoseaufkommen, dass die medizinische Diagnostik besser geworden ist. Allerdings liegt der Fokus nicht immer auf dem Kind und seinen Bedürfnissen, sondern oft auf den Erwartungen der Gesellschaft. Man könnte sich auch die Frage stellen, ob nicht ein jahrhundertealtes Schulsystem zu unruhigem Verhalten beiträgt, in dem Schüler:innen stundenlang stillsitzen und dem traditionellen Frontalunterricht folgen sollen, der nicht auf unterschiedliche Lerntypen eingeht. Oder plakativ ausgedrückt: Woher kommt die Idee, dass junge Menschen, die sich häufig einer unaufhörlichen digitalen Stimulation hingeben, Selbstbeherrschung und eine hohe Konzentrationsstärke aufweisen können sollen, und wenn nicht, mit einem krankhaften Blick betrachtet werden? Es ist also essenziell zu hinterfragen, welche Normalitätsentwürfe mit Diagnosen verteidigt werden.

Sie beschreiben die Herausforderungen der Pubertät sehr eingängig in ihrem Buch. Seit jeher bedeute diese Zeit der Entwicklung und des Umbruchs eine besonders herausfordernde Lebensphase. Wenn wir nun dazu tendieren, alle Widrigkeiten mit einem Label zu versehen, verlernen wir dann, die Herausforderungen und Ambivalenzen des Lebens auszuhalten?

Die Architektur von Social-Media-Plattformen bietet kaum Platz für Differenzierungen, Nuancen oder Grautöne. Es geht eher um Eindeutigkeitsherstellung und Bewertung. Was Sie ansprechen, ist sehr wichtig. Vor rund 20 Jahren war oft Weltschmerz ein vorherrschendes Gefühl in der Pubertät und integraler Bestandteil dieser Entwicklungsphase, nämlich an dem Zustand der Welt zu leiden. Die Frage ist, ob es das heute als Grundgefühl überhaupt noch gibt oder mittlerweile in den klinischen Bereich verschoben wurde. Aber auch, welche gesellschaftlichen Räume es für Lebenskrisen, Traurigkeit, Trauer oder Frustration gibt, ohne dass es als persönliches Scheitern gilt, weil man es nicht geschafft hat, sich selbst glücklich zu machen. Wenn es etwa um Beziehungstrennungen geht, wird im US-amerikanischen Kontext gern gesagt: „I made a poor choice.“ Das heißt, ich habe mich für diese Person falsch entschieden. Man könnte auch sagen, es hat sich anders entwickelt, oder wir haben uns besser kennengelernt und es passt doch nicht, wir haben unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft. Die starke Gewichtung der Eigenverantwortung, darauf, die Dinge richtig zu machen, die vorherrschende Ideologie der Machbarkeit, und die Idee, dass man Kontrolle über den eigenen beruflichen und privaten Status hat, ist gesellschaftlich betrachtet ein großer Belastungsfaktor. Diagnosen können dann Räume eröffnen, in dem man legitimerweise traurig oder ineffizient sein kann, ohne selbst dafür verantwortlich gemacht zu werden.  
 


Die starke Gewichtung der Eigenverantwortung […] ist gesellschaftlich betrachtet ein großer Belastungsfaktor.“



Das klingt nach einer Art von Ausflucht.

Es kann als eine zeitgenössische Entlastungsstrategie bezeichnet werden. Insofern als eine Entlastung von überhöhten gesellschaftlichen Verantwortungszuschreibungen stattfindet. In Bezug auf ADHS würde das – plakativ gesprochen – bedeuten, dass man nicht faul oder undiszipliniert ist, sondern krank. Oder in Bezug auf Depression, dass man eine Patientin ist – und nicht selbst darin versagt hat, sich glücklich zu machen. Die gesellschaftlichen Bedingungen für das vermehrte Aufkommen von Diagnosen zu betrachten, ist allgemein sehr wichtig. Studien haben gezeigt, dass Kinder, die jünger eingeschult worden sind, in großen Klassen oder mit vielen Schüler:innen aus Familien mit Migrationsbiografien, ein erheblich höheres Risiko haben, mit ADHS diagnostiziert zu werden. Dabei ist davon auszugehen, dass jene Kinder eher aufgrund ihres altersbedingten Entwicklungsrückstands unter solch erschwerten Unterrichtsbedingungen auffallen und ihr kindlicheres Verhalten als ADHS fehlinterpretiert wird. Das – und viele weitere Studien in diesem Bereich – deutet darauf hin, dass Umweltfaktoren oft unzureichend berücksichtigt werden. Es geht mehr um individuelles Symptommanagement als um strukturelle Prävention. Die gesellschaftlichen Faktoren stärker in den Fokus zu nehmen, wäre zentral, entspricht aber nicht der kapitalistischen Verwertungslogik, bei der tatsächlich viele Akteur:innen ein Interesse daran haben, den Themenkomplex psychische Gesundheit ökonomisch zu verwerten.

Sie haben ADHS angesprochen, ein anderes Thema sind Depressionen, bei denen man aktuell das Gefühl hat, gerade bei jungen Mädchen und Frauen ist das fast zu einer „Modediagnose“ geworden.

Online leidvolle Emotionen darzustellen, ist für Jugendliche nichts Neues. Das gab es beispielsweise auch schon vor 20 Jahren in der Emo-Kultur. Neu ist, dass derartige Gefühlsbekundungen überwiegend in klinischen Kategorien sichtbar sind und inszeniert werden, was es schwieriger macht, ein Selbstverständnis dieses Zustands außerhalb des medizinischen Kontexts zu entwickeln. Das kann letztlich auch zu einer unbeabsichtigten Verharmlosung schwerer Krankheiten führen – und damit zu einer Desensibilisierung gegenüber klinischen Belastungslagen. Die Folge kann eine verminderte Würdigung der Anstrengungen aller Beteiligten und Mitwirkenden sein.

Auf der einen Seite kommuniziert man psychische Erkrankungen auf den Social-Media-Plattformen in einer bisher nicht gekannten Häufigkeit. Auf der anderen Seite scheint es heute gerade in Bezug auf den weiblichen Körper nicht mehr nur um Schönheit und körperliche Gesundheit zu gehen, sondern auch um Mental Health.

Besonders bei dem Begriff „Mental Health“ und den damit verbundenen Konzepten wie „Selfcare“ ist es deutlich erkennbar, dass wir uns in einem US-amerikanischen Gesundheitsdiskurs befinden, der über digitale Kanäle globalisiert und verbreitet wird – und damit auch die dahinterstehenden Ideen vom Menschsein und der individuellen Verantwortung für Leistungsfähigkeit. Psychische Gesundheit als Verhaltenserwartung und Konsumgut. Das sind die Ideen, die auch im europäischen Kontext befördert werden. Etwa wenn Krankenkassen eine Kampagne dafür machen, dass es für die psychische Gesundheit von Jugendlichen gut ist, wenn man Tagebuch schreibt oder meditiert. Das ist doch eine relativ neue Entwicklung.
 


Besonders bei dem Begriff ‚Mental Health‘ und den damit verbundenen Konzepten wie ‚Selfcare‘, ist es deutlich erkennbar, dass wir uns in einem US-amerikanischen Gesundheitsdiskurs befinden, der über digitale Kanäle globalisiert und verbreitet wird.“



Werden psychische Krisen mitunter auch erst im Diskurs darüber geschaffen?

Es zeigt sich die Beförderung eines krankhaften Blicks, der durch die aufmerksamkeitsökonomische Logik von Social Media befördert wird. Das heißt, je mehr sich Menschen von Postings mit Symptomlisten angesprochen fühlen, die überwiegend von fachlich nicht qualifizierten Laien erstellt werden, desto mehr Klicks, Relevanz und Aufmerksamkeit. Gleichzeitig gilt: Je mehr Content man in diesem Bereich konsumiert, desto mehr bekommt man davon auch angezeigt. Das erzeugt eine Art Sog, der Menschen dazu bringen kann, sich für psychisch krank zu halten, was im wissenschaftlichen Diskurs bezeichnet wird als soziale Ansteckung oder auch durch das Internet ausgelöstes Münchhausen-Syndrom.

Wo sehen Sie die zentralen Ansatzpunkte einer Regulierung in diesem Feld?

Ich fände es wichtig, stärker in Richtung Konsument:innenschutz zu denken. Social-Media-Plattformen erfüllen zwei grundsätzliche Kriterien: Zum einen sind sie dafür konzipiert, ein Abhängigkeitsverhalten zu schaffen. Wie kann man Personen so lange wie möglich auf den Plattformen halten, um ihre Daten zu monetarisieren? Zum anderen hat ein hoher Konsum nachweislich negative Effekte auf die User:innen, von Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu Schlafproblemen. Diese zwei Kriterien sind auch bei anderen Suchtmitteln, wie Zigaretten oder Spielautomaten erfüllt und unterliegen dem Suchtmittelgesetz und damit einer Regulierung. Das wäre aus meiner Perspektive ein erster Schritt. Auch in diesem Kontext wird oft an die individuelle Verantwortung appelliert, weniger Zeit in den Netzwerken zu verbringen, Stichwort „Digital Detox“. Aus meiner Perspektive hat dieser individuelle Verhaltensfokus gerade bei Produkten oder Dienstleistungen, die darauf ausgelegt sind, Suchtverhalten zu erzeugen, einen zynischen Charakter.
 


 

Laura Wiesböck:

Digitale Diagnosen. Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend

Wien: Zsolnay. 176 Seiten, 22,00 Euro.

Dr. Laura Wiesböck ist Soziologin und leitet die Gruppe »Digitalisierung und soziale Transformation« am Institut für Höhere Studien Wien. Neben wissenschaftlichen Artikeln beteiligt sie sich regelmäßig am öffentlichen Diskurs (SZ, Die Zeit, Der Standard). Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet (u. a. mit dem Käthe-Leichter- und dem Theodor-Körner-Preis). 2018 erschien „In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen“.

Barbara Weinert leitet das Referat „Medienarbeit“ an der Universität Passau. Sie war langjähriges Mitglied der „mediendiskurs“-Redaktion und schreibt heute als freie Autorin für das Magazin.