Queering the Map

Ein digitales Archiv der flüchtigen Spuren

Tobias Schiller

Tobias Schiller ist in der Öffentlichkeitsarbeit und als freier Redakteur tätig. Gemeinsam mit Marlon Brand betreibt er das Newsletter-Magazin „Queerer Kanon?“ und hat sich in seiner Masterarbeit in Medienwissenschaft mit der Notwendigkeit einer queeren Archivologie beschäftigt.

Die digitale Counter-Mapping-Plattform „Queering the Map“ will es queeren Menschen ermöglichen, ihre Erfahrungen in anonymen Texten auf einer Onlinekarte zu archivieren. Ihre Archivalien sind flüchtige Spuren, die aufgrund von Repressionen und Verfolgung vielerorts nicht Teil institutioneller Archive sind. Allerdings erklären die Betreiber*innen einige der Einreichungen zu Fakten, um damit aktuell etwa im Nahostkonflikt Position zu beziehen.

Online seit 19.07.2024: https://mediendiskurs.online/beitrag/queering-the-map-beitrag-772

 

 

Im Prolog ihres 2021 erschienenen Memoirs Das Archiv der Träume stellt die queere US-amerikanische Schriftstellerin Carmen Maria Machado eine Reihe an Fragen, mit denen sich viele auseinandersetzen, die sich auf die Suche nach Spuren queeren Lebens und Schaffens in Archive begeben und dort auf Leerstellen treffen: „Was haben diese Löcher für eine Struktur? Wo verstecken sich die Textlücken? Wie bewegen wir uns in Richtung Vollständigkeit? Wie gehen wir richtig mit den falsch behandelten Menschen der Vergangenheit um, ohne handfeste Beweise für ihr Leiden zu haben?“ (Machado 2021, S. 16).

Queeres Leben und Wirken muss und musste aufgrund staatlicher und gesellschaftlicher Repressionen und Verfolgung oft im Verborgenen stattfinden. Zeugnisse dessen konnten oft nicht gesammelt und gespeichert werden, wenn sie nicht gar getilgt wurden. Dementsprechend sind die Archivalien queerer Archive oft nur als Spuren vorhanden, flüchtig und nur dem geschulten Blick offenbar.
 


Was haben diese Löcher für eine Struktur? Wo verstecken sich die Textlücken? Wie bewegen wir uns in Richtung Vollständigkeit? Wie gehen wir richtig mit den falsch behandelten Menschen der Vergangenheit um, ohne handfeste Beweise für ihr Leiden zu haben?“ (Machado 2021, S. 16).


 

Aktivistische Counter-Mapping-Plattform mit Archivfunktion

Eine indirekte Antwort auf Machados Fragen gibt die queer-aktivistische Counter-Mapping-Plattform „Queering the Map“ („QTM“). Das 2017 von Lucas LaRochelle gegründete Projekt hat sich die digitale Archivierung von „LGBTQ2IA+-Erfahrungen in Bezug auf den physischen Raum“ (eigene Übersetzung, QTM 2024) zur Aufgabe gemacht. Bei den hier genannten „Erfahrungen“ handelt es sich um die Archivalien der Plattform. Kurze Texte, die von den Nutzenden anonym mithilfe digitaler Pins an verschiedenen Orten innerhalb der Karte platziert werden. Dabei lassen sich Pins auch an schwer bis gar nicht zugänglichen Orten – etwa im Meer oder in Gebirgen – positionieren. Seit Gründung der Plattform wurden über 500.000 Pins eingereicht (Oung 2023).

Die Einträge selbst variieren inhaltlich zwischen persönlichen Erfahrungen, etwa der Angst vor dem Coming-out, dem ersten Sex oder der geschlechtsangleichenden OP. Aber auch Solidaritätsbotschaften und geschichtliche Erläuterungen queer-historischer Orte und queer-politischer Entscheidungen finden sich darunter. Diese inhaltliche Offenheit der Archivalien ist explizit erwünscht, wie aus dem Begleittext der Karte hervorgeht: „If it counts to you, then it counts for Queering the Map“ (QTM 2024). Vor ihrer Veröffentlichung prüft ein Team aus freiwilligen Moderator*innen, ob die Texte den plattforminternen Anforderungen entsprechen (Anonymität, keine Hatespeech, kein Spam).

Das der Plattform zugrundeliegende digitale Kartenmaterial stammt vom Online-Kartendienst Google Maps. Die Farben und das Design des Google-Dienstes wurden jedoch im Sinne des Counter-Mappings verfremdet. Große Teile der Karte sind in Rosatönen gehalten, vor denen die schwarzen Pins einen starken Kontrast bilden. Zudem ist der von Google gewohnte Funktionsumfang stark reduziert: Die Geolocation-Funktion ist deaktiviert, allgemeiner Ausgangspunkt der Karte ist die kanadische Stadt Montreal, in der das Projekt entstanden ist und auf deren indigene Wurzeln explizit Bezug genommen wird.

Der Zugriff auf die Satelliten- und Street-View-Ansichten sowie die Anzeige von Orten der Verkehrs- wie touristischen Infrastruktur sind ebenso abgeschaltet wie die Suchfunktion. Ohne Letztere lassen sich weder spezifische Orte noch individuelle Pins suchen. Nutzer*innen müssen sich mit Maus- oder Handgesten durch die Karte bewegen und können lediglich herein- und herauszoomen. An einigen Stellen – in westlichen Großstädten wie New York etwa – ist die Karte so dicht mit Pins besiedelt, dass es schwierig ist, sich darin zurechtzufinden. Das Verlieren der Orientierung ist indes Teil der angestrebten Nutzer*innenerfahrung und damit ausdrücklich erwünscht (vgl. LaRochelle 2021, S. 135).
 


If it counts to you, then it counts for Queering the Map“ (QTM 2024).


 


Ephemere Archivalien als Be-/Nachweise queerer Erfahrung

Das Projekt scheint die gängigen Organisations- und Ordnungsstrukturen institutionalisierter Archive zu unterlaufen und geriert sich selbst als queeres Counter-Archiv. Das mag kaum verwundern, entzieht sich das Queere doch will- und wissentlich dem (patriarchal-heteronormativen) Zugriff. Und den damit einhergehenden (Geschlechter-)Binaritäten und singulären Definitionen, die zu eben jenen Lücken und Leerstellen führen, nach denen Machado wie eingangs zitiert fragte. Vom Bestreben „ein einziges Korpus zu einem System oder einer Synchronie zusammenzufügen, in dem alle Elemente die Einheit einer idealen Konfiguration bilden“ (Derrida 1997, S .13), wie es Jacques Derrida als grundlegende Dimensionen des Archivs formuliert, kann im Fall von „Queering the Map“ daher nicht die Rede sein. Denn eine solche archivtheoretische Konsignation ginge mit eben jener Kategorisierung einher, der sich das Projekt bewusst verweigert.

Die Archivalien der Plattform sind darüber hinaus nicht nur anonym, sondern auch von unsicherer temporärer Beständigkeit. Nutzende können jederzeit via E-Mail um die Löschung ihrer Pins bitten; ein „einziges Korpus“ im Sinne Derridas scheitert also schon an der flüchtigen Natur seiner einzelnen Teile. Diese gewollte Flüchtigkeit der Archivalien trägt der Tatsache Rechnung, dass queeres Leben an vielen der markierten Orte sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart aufgrund verschiedenster Repressionen nur im Verborgenen möglich ist.

Mitte der 1990er-Jahre prägte der kubanoamerikanische Theoretiker José Esteban Muñoz im Rahmen seines viel zitierten Aufsatzes Ephemera as Evidence den Begriff der „Ephemera“ für eben jene flüchtigen Zeugnisse queeren Lebens und queerer Erfahrung, die „QTM“ auf seiner Karte versammelt (vgl. Muñoz1996, S. 6). Muñoz’ Konzept fand im queeren Archivdiskurs großen Anklang und wird bis heute vielfach aufgegriffen, erweitert und angewendet.

Dabei ist der Ephemera-Begriff als solcher keine Erfindung von Muñoz. Bereits zuvor wurden innerhalb der Archivwissenschaften damit Dinge bezeichnet, „die für einen einmaligen oder kurzen Gebrauch bestimmt sind. Zumeist geht es um ‚Alltagsdrucksachen‘ wie z. B. Briefe, Werbung, Eintrittskarten, Aktien, Lesezeichen und Orangenpapiere“ (Estler-Ziegler 2019).

Muñoz sah in seinem Konzept eine Möglichkeit, Queerness sicht- und nachweisbar zu machen. Ein „queering the evidence“, wie er es formulierte. Die begriffliche Nähe zu „Queering the Map“ ist kein Zufall, bezieht sich dessen Gründer*in LaRochelle doch ausdrücklich auf Muñoz, ohne dies jedoch genauer zu erläutern (vgl. LaRochelle 2021, S. 138). Um Queerness nachzuweisen, müssen, folgt man Muñoz, also die Spuren gelesen werden können, welche sie hinterlässt; das Abwesende, das sich in und hinter ihrer Anwesenheit verbirgt.

Die Archivalien von „QTM“ können daher als ein Versuch gelten, den Löchern in institutionellen Archiven eine Struktur zu geben, um auf Machado zu rekurrieren. Sie können als gesammelte Spuren betrachtet werden, auf welche die Nutzenden beim Navigieren zufällig stoßen und die gleichsam immer im Verschwinden begriffen sind. So werden gelöschte Einträge nicht dokumentiert oder vermerkt, zufällig gefundene Pins lassen sich nur wiederfinden, wenn genau erinnert werden kann, an welchem Punkt auf der Karte sie sich befinden.
 


Diese gewollte Flüchtigkeit der Archivalien trägt der Tatsache Rechnung, dass queeres Leben an vielen der markierten Orte sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart aufgrund verschiedenster Repressionen nur im Verborgenen möglich ist.“


 

Wenn flüchtige Spuren zu authentischen Beweisen (v)erklärt werden

Ob es sich bei jedem Pin wirklich um ein Zeugnis queeren Lebens handelt, ist ungewiss. Die Anonymität der Einreichenden sowie die Vielfalt der eingereichten Texte machen eine Prüfung unmöglich. Zudem ist auch das Team der Moderator*innen, das über die Aufnahme eines Pins in die Karte entscheidet, anonym. Dementsprechend sind etwa die Gründe – sieht man mal von den bereits erwähnten Verstößen gegen die Spam-, Anonymitäts- und Hatespeech-Richtlinien ab – warum eine Einreichung nicht aufgenommen wird, nicht transparent nachvollziehbar. Aufgrund der zugesicherten Anonymität verläuft die Kommunikation zwischen den Einreichenden und dem Moderationsteam unidirektional, über die (Nicht-)Veröffentlichung von Pins wird nicht informiert.

Inwiefern die Authentizität einzelner Beiträge relevant ist, muss schlussendlich jede*r Nutzer*in für sich selbst entscheiden. Folgt man Muñoz, handelt es sich bei Archiven ohnehin um eine Fiktion (vgl. Muñoz 2019, S. 121). Dem folgend lassen sich die Einträge als Teile eines größeren Narrativs lesen, dessen übergeordnetes Ziel im Begleittext der Plattform formuliert wird: „über Unterschiede und Grenzen hinweg Gemeinsamkeiten zu schaffen und die Art und Weise aufzuzeigen, in der wir eng miteinander verbunden sind“ (eigene Übersetzung, QTM 2024).

Schwierig wird es jedoch, wenn einzelne Einträge in der Karte zu Fakten erklärt und als Argumentationsbasis in politischen Diskursen herhalten müssen. So geschehen auf dem begleitenden Instagram-Profil der Plattform. Dort werden seit Ende Oktober letzten Jahres fast ausnahmslos Pins aus dem Staatsgebiet Israels und den palästinensischen Gebieten gefeaturt, um im Nahostkonflikt Partei zu ergreifen (vgl. instagram.com/queeringthemap). In einigen der veröffentlichten Pins geht es dann auch überhaupt nicht mehr um queere Erfahrungen, sondern um Schilderungen von (vermeintlich) durch Israel unterdrückten palästinensischen Stimmen.

Als queere Plattform sehen sich die Betreiber*innen klar aufseiten der palästinensischen Zivilbevölkerung, ohne dies jedoch genauer zu explizieren oder etwa auf die Rolle einzelner Akteur*innen wie der Hamas einzugehen. Die einzelnen Beiträge werden als queere palästinensische Stimmen präsentiert, ohne dass sich belegen lässt, ob dies wirklich der Fall ist. Aufgrund der geschilderten Anonymität der Einreichenden ist es unmöglich zu bestimmen, an welchem Ort und von welcher Person ein Pin eingereicht wurde. Diese Tatsache wird in den Instagram-Posts jedoch außen vor gelassen.

Schlussendlich schimmert hier der Wunsch nach Deutungshoheit einer singulären Erzählung durch, die sowohl die Komplexität des Konflikts verkennt als auch das so vollmundig im Projektbegleittext verkündete Selbstverständnis der Plattformbetreiber*innen konterkariert. Darin wird unter anderem der Wunsch geäußert, eine „Schnittstelle für die kollaborative Aufzeichnung der Kartografie queeren Lebens […] [bereitzustellen], um unsere Geschichten und sich entfaltenden Realitäten zu bewahren, die weiterhin entkräftet, angefochten und ausgelöscht werden“ (eigene Übersetzung, QTM 2024). „Geschichten“ und „Realitäten“ stehen hier im Plural, nicht im Singular.

Wenn die Vielfalt der Pins in „Queering the Map“ und die Ausführungen von José Esteban Muñoz eines aufgezeigt haben, dann dass singulären Fiktionen nicht zu trauen ist und sich flüchtige Beweise nicht zu klar belegbaren Fakten transformieren lassen.
 

Literatur:

Derrida. J.: Dem Archiv verschrieben: Eine Freudsche Impression. Berlin 1997

Estler-Ziegler, T.: EPHEMERA – Was soll denn das sein? In: Archivspiegel, 18.11.2019. Abrufbar unter: www.archivspiegel.de (letzter Zugriff: 18.07.2024)

instagram.com: @queeringthemap. Abrufbar unter: www.instagram.com (letzter Zugriff: 18.07.2024)

LaRochelle, L.: Queering the Map: On designing digital queer space. In: R. Ramos, S. Mowlabocus (Hrsg.): Queer Sites in Global Contexts: Technologies, Spaces, and Otherness. Abingdon & New York 2021, S. 133-147

Machado, C. M.: Das Archiv der Träume. Stuttgart 2021

Muñoz, J. E.: Ephemera as Evidence: Introductory Notes to Queer Acts. In: Women & Performance: a journal of feminist theory, 2/1996/8, S. 5-16

Muñoz, J. E.: Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity (10th Anniversary Edition). New York 2019

Oung, K.: Just Made a Queer Memory? Drop a Pin. In: The New York Times, 25.05.2023. Abrufbar unter: www.nytimes.com (letzter Zugriff: 18.07.2024)

Queering the Map (QTM): Queering the Map. A Community-Generated Counter-Mapping Platform. Abrufbar unter: www.queeringthemap.com (letzter Zugriff: 18.07.2024)