Reenactment
Nur ein Mittel zur Darstellung im Dokumentarischen?
Definition und Ursprung im Live-Reenactment
Reenactments sind ein wichtiges Stilmittel, um solche Ereignisse möglichst detailgetreu zu rekonstruieren, von denen es nur wenig bis gar kein Bild- und/oder Tonmaterial gibt. Grundlage sind daher meist schriftliche Überlieferungen, die entweder mit professionellen Schauspielenden oder Laien szenisch nachgestellt werden. Führt man sich entsprechende Formate vor Augen1, wird klar, dass auf diesem Weg den Zuschauenden das Beobachten von eigentlich nicht beobachtbaren Geschehnissen ermöglicht werden soll (vgl. Wortmann 2012, S. 141). Am häufigsten finden Reenactments in Geschichtsdokumentationen Verwendung, doch wird auch im Bereich „True Crime“ vermehrt auf sie gesetzt, um Verbrechen, die im Verborgenen stattfanden, für die Zuschauenden darzustellen. Allgemein wird also im Reenactment das, wovon es keine Bilder gibt, filmisch konkretisiert und visuell greifbar gemacht (vgl. Hißnauer 2011, S. 250).
Das Prinzip des Reenactments ist keine Erfindung der Medien, sondern stammt aus der Geschichts- und Museumspädagogik. Hier handelt es sich um eine erlebnisorientierte Vermittlungspraxis (vgl. Kagel 2008, S. 9), die sich in Freilichtmuseen durchsetzen konnte, wo Besucher_innen vergangenes Leben gezeigt wird, oder in Reenactment-Großereignissen wie der alljährlich stattfindenden Rekonstruktion der Völkerschlacht bei Leipzig. Auch gibt es eine Bandbreite an Mittelalter-Reenactments in Form von Ritterturnieren und Märkten. Allen gemein ist: Im Mitmach- und Aufführungscharakter werden militärische und gesellschaftliche Ereignisse möglichst authentisch nachgespielt bzw. wird sich in der Inszenierung mindestens an solche angelehnt (vgl. Glaser/Garsoffky/Schwan 2010, S. 237), um im besten Fall Vergangenheit am eigenen Leib zu erleben. In diesem Zuge verwischen die Grenzen zwischen „selbst erfahrener“ und „nicht erfahrbarer“ Vergangenheit.
In Film und Fernsehen wird dieses geschichtspädagogische Konzept des Reenactments an die eigenen medialen Bedingungen angepasst. Hier sind es diejenigen Spielszenen, die zur „bewegten Bebilderung der historischen oder archäologischen Funde und (vermuteten) Sachverhalte dienen“ (Hochbruck 2012, S. 189). Aktuell stellt Reenactment also einen Sammelbegriff dar, der „in engem Zusammenhang mit einer Vielzahl von Inszenierungsstrategien [steht], jenen des Films und Fernsehens ebenso wie denen der Museen, der Archäologie oder auch der Künste“ (Weiß 2019, S. 49).
Formen des Reenactments in Film und Fernsehen
Es existiert eine große Bandbreite von Reenactments. Sie reicht „von sparsam eingesetzten stummen Szenen, die eine Geschichte flüssiger und gelenkiger machen sollen, über dialogfreie, aber als Sequenzen aufgebaute Spielszenen […] bis hin zu kompletten Inszenierungen“ (Wolf 2005, S. 32). Alle sind jedoch stets eingebunden in ein Ensemble des Dokumentarischen (vgl. Wagenknecht 2009, S. 198), u. a. bestehend aus Erklärungen (aus dem Off oder von einer moderierenden Person), Expert_innen-Aussagen, Archivmaterial und Zeitzeug_innen-Interviews.
Die zweiteilige Terra X-Dokumentation Der Dreißigjährige Krieg (ZDF 2018) führt einerseits die Grundformen des Reenactments, andererseits deren Einbindung in das dokumentarische Ensemble beispielhaft vor: Gleich zu Beginn holt eine allwissende und alles verbindende männliche Erzählstimme aus dem Off die Zuschauenden ab. Es wird erklärt, dass wichtige historische Dokumente zum Dreißigjährigen Krieg in der Staatsbibliothek Berlin verwahrt werden. Im Bild zu sehen ist eine Person (im weiteren Verlauf als Experte wiederkehrend), die in der Staatsbibliothek ein offensichtlich altes Buch in die Hände nimmt und darin blättert. Die Kamera zeigt dieses Blättern in Detailaufnahme (siehe Abb. 1).

So wird etabliert, dass es sich tatsächlich um ein historisches Schriftstück handelt. Gleichzeitig dienen die Bilder zur inhaltlichen Verbindung mit den späteren Spielszenen, da diese auf den archivierten Berichten basieren werden und damit eine authentische Nachinszenierung darstellen sollen. In einer nächsten Sequenz wird sodann in Überblendung aus den Dokumenten in das Reenactment überführt. Ein erwähnter Schuhmacher wird als Protagonist bei seiner Arbeit gezeigt: Raum, Kleidung, Werkzeug, alles in Anlehnung an das frühe 17. Jahrhundert (siehe Abb. 2).

Der Protagonist jedoch spricht nicht, die Bilder werden vom Erzähler aus dem Off gerahmt. Sie dienen der Versetzung von Handlung und Zuschauenden in die Vergangenheit. Neben diesen stummen Szenen kommen im weiteren Verlauf auch dynamischere Schauspielszenen zum Einsatz, etwa bei der Inszenierung des Prager Fenstersturzes (siehe Abb. 3 und 4).


Zwischen den Reenactments werden stetig Bilder historischer Dokumente und Zeichnungen sowie Landschaftsaufnahmen und Expert_innen-Interviews gezeigt, die vor allem die Wissensvermittlung und Authentisierung garantieren sollen. Die Stimme aus dem Off ist dabei durchweg maßgebend. Sie erzählt die Geschichte(n) und erklärt die Zusammenhänge.
Funktionen des Reenactments in Film und Fernsehen
Reenactments dienen also in erster Linie der Visualisierung und Veranschaulichung, worauf audiovisuelle Medien wie das Fernsehen in ihrer Darstellungsform aus Bild und Ton angewiesen sind. Über die Veranschaulichung findet oftmals eine Komplexitätsreduktion statt, die zu einem scheinbar besseren Verständnis der vergangenen Ereignisse führt. Dies ist gerade dann maßgebend, wenn aus einer subjektiven Perspektive erzählt wird (vgl. Kügle 2024), wie im oben erläuterten Beispiel aus der Perspektive des einfachen Schuhmachers oder an anderer Stelle aus der des einfachen Fußsoldaten, der in die Schlacht zieht.
Letztlich sind Reenactments im Dokumentarischen aber vor allem das unterhaltende Element. Die Ereignisse werden durch das Nachspielen spannender, der gegebenenfalls trockene Geschichtsstoff wird emotionalisiert und bekommt ein menschliches Gesicht. All das führt im Idealfall zu einer stärkeren Empathie bei den Zuschauenden und hält diese bei der Sendung – und weckt gegebenenfalls ein weitergehendes Interesse am präsentierten Stoff.
Ein kritischer Blick
Diese erst einmal positiven Funktionen des Reenactments müssen jedoch gleichzeitig kritisch betrachtet werden. Denn einerseits werden Dokumentationen an sich sowie die gezeigten Ereignisse unterhaltsamer, spannender und emotionaler. Andererseits jedoch verschleiern sie, dass keine neutrale Bebilderung von Quellen oder Überlieferungen erfolgt, sondern in jeder Inszenierung immer eine subjektive Interpretation und damit implizite Deutung steckt. Es kommt stets darauf an, wer inszeniert, welche Redaktion dahintersteht und welche Perspektive eingenommen wird. Zuschauenden jedoch wird dies nicht offengelegt, sodass Interpretationen und Deutungen oft als Fakten, als ein „Genau so war es!“ verstanden werden (vgl. Groschwitz 2010, S. 150).
Wichtig ist, dass es sich bei Reenactments stets um fiktionale Spielszenen handelt, die innerhalb eines dokumentarischen Ensembles platziert sind. Würde man sie aus diesem Ensemble herausgelöst betrachten, würde man sie sicher als Fiktion, als Teile eines Spielfilms identifizieren. Reenactments werden nämlich innerhalb der jeweiligen Sendung nur dadurch beglaubigt, „dass sie mit filmischen Konventionen des Dokumentarischen […] verschränkt werden und somit filmintern dokumentarisch referenzialisiert sind“ (Wagenknecht 2009, S. 209). Authentizität erlangen die Nachinszenierungen also nicht aufgrund einer Nähe zu den tatsächlichen Ereignissen, sondern vor allem durch die innerfilmische Kontextualisierung, die schon von vielen anderen dokumentarischen Sendungen bekannt und daher in großem Maße konventionalisiert ist.
Natürlich erkennen Zuschauende in den Reenactments die grundsätzliche Fiktionalität der Spielszenen, dennoch besteht die Gefahr, dass sie die „Gemachtheit“ der Nachinszenierung zugunsten der dokumentarischen Grundwahrnehmung verleugnen (vgl. Otto 2012, S. 233). Das Problem ist die Differenzauflösung von subjektiver Interpretation und nicht fiktionalen Informationen, wodurch die gesellschaftliche Wahrnehmung von historischen Vergangenheiten immer stärker auf Fiktionalem fußt (vgl. Wolf 2005, S. 32; Wagenknecht 2009, S. 209). Und da schließt sich der Kreis, denn nötig ist nicht (mehr) eine Referenz zur realhistorischen Zeit, sondern vielmehr die zu den kollektiven Annahmen, wie es damals gewesen sein muss. Diese Annahmen wiederum speisen sich vor allem aus medialen Darstellungen: „Populäre Bildwelten aus Gemälden, Stichen, Photographien und Filmen sind so oft reproduziert worden“, so Hochbruck (2013, S. 109), „ihre angenommenen repräsentationalen Qualitäten werden als Realität über-identifiziert.“
Kleines Fazit
Erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es überhaupt filmisches Material. Aber auch Ereignisse von davor sind für das Dokumentarische interessant, noch dazu finden viele wichtige oder vermeintlich interessante Ereignisse hinter verschlossenen Türen und im Verborgenen statt. Mit dem Reenactment wurde ein scheinbar idealer Weg der Visualisierung gefunden, der jedoch durchaus kritisch zu betrachten bleibt.
Anmerkung:
1 Vgl. z. B. https://www.zdf.de/geschichte und https://www.ardmediathek.de/geschichte
Literatur:
Glaser, M./Garsoffky, B./Schwan, S.: Re-enactments in archäologischen Fernsehdokumentationen und ihr Einfluss auf den Rezeptionsprozess. In: K. Arnold/W. Hömberg/S. Kinnebrock (Hrsg.): Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung. Berlin 2010, S. 235–250
Groschwitz, H.: Authentizität, Unterhaltung, Sicherheit. Zum Umgang mit Geschichte in Living History und Reenactment. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2010. München 2010, S. 141–155
Hißnauer, C.: Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen. Konstanz 2011
Hochbruck, W.: Reenactments als Freilufttheater und Gedenkort. In: J. Roselt/U. Otto (Hrsg.): Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012, S. 189–211
Hochbruck, W.: Geschichtstheater. Formen der „Living History“. Eine Typologie. Bielefeld 2013
Kagel, N.: Geschichte leben und erleben. Von der Interpretation historischer Alltagskultur in deutschen Freilichtmuseen. In: H. Duisberg (Hrsg.): Living History in Freilichtmuseen. Neue Wege der Geschichtsvermittlung. Rosengarten 2008, S. 9–22
Kügle, M.: Reenactment. In: Lexikon der Filmbegriffe. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Kiel 2024. Abrufbar unter: https://filmlexikon.uni-kiel.de (letzter Zugriff: 22.04.2025).
Otto, U.: Re:Enactment. Geschichtstheater in Zeiten der Geschichtslosigkeit. In: J. Roselt/U. Otto (Hrsg.): Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012, S. 229–254
Wagenknecht, A.: Filminterne Beglaubigungen und Kontextualisierungen von Re-Enactments im dokumentarischen Fernsehen. In: H. Segeberg (Hrsg.): Referenzen. Zur Theorie und Geschichte des Realen in den Medien. Marburg 2009, S. 198–210
Weiß, M.: Living History. Zeitreisen(de) im Reality-TV. Marburg 2019
Wolf, F.: Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen. Eine Fortschreibung der Studie „Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen“. Düsseldorf 2005
Wortmann, V.: Reenactment als dokumentarisches Narrativ. Hybride Darstellungsverfahren im Dokumentarfilm der 30er und 40er Jahre. In: J. Roselt/U. Otto (Hrsg.): Theater als Zeitmaschine. Zur performativen Praxis des Reenactments. Theater und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2012, S. 139–153