Resilienz in der digitalen Gesellschaft
Mediennutzung in Zeiten von Krisen, Kriegen und KI
Köln 2024: Herbert von Halem
Rezensent/-in:
Lothar Mikos
Resilienz in der digitalen Gesellschaft
Digitale Resilienz ist auch demokratische Resilienz, finden die Autoren, denn sie denken groß. Resilienz verstehen sie als die „Fähigkeit, sich trotz widriger Umstände zu erholen und weiterzuentwickeln“ (S. 28). Allerdings muss sie „in der digitalen Gesellschaft eine Neubewertung erfahren, weil es nicht nur um gesundheitliche Aspekte der Selbstfürsorge geht, sondern auch um die Resilienz von Organisationen, Branchen und unserer Gesellschaft insgesamt. Wenn wir über Digitale Resilienz sprechen, sprechen wir also im Kern immer auch über die Resilienz von Demokratie“ (S. 142 f.; H. i. O.).
Da einer ihrer Schwerpunkte der Journalismus ist, reden sie dann auch einem „resilienten Journalismus“ das Wort (S. 148), der „das Selbstverständnis professioneller Berichterstattung unter den Vorzeichen des digitalen Medienwandels“ einschließt (ebd.). Denn, so die Annahme, gerade in Krisenzeiten hat diese Art von Journalismus einen hohen Stellenwert. Und dass wir in Krisenzeiten leben, in einer „Polykrise, gemeint als zeitgleich stattfindende existenzielle Krisen, die sich in ihren Wirkungen verstärken“ (S. 14) scheint ausgemacht.
Dem Buch liegt eine repräsentative Studie zur digitalen Resilienz in der Mediennutzung zugrunde, die im Jahr 2021 durchgeführt wurde, also zur Zeit der sogenannten Corona-Pandemie. Kein Wunder also, dass für die Teilnehmenden Krisenzeiten herrschten. Zur Studie gehören auch Tiefeninterviews mit „über 50 Befragten“ (S. 133). Einige dieser Interviewten führten zudem eine Woche lang ein digitales Medientagebuch. Aus diesem qualitativen Studienteil wurden fünf Personen ausgewählt und knapp dargestellt, die nach Auffassung der Autoren exemplarisch für bestimmte Arten des digitalen Medienkonsums stehen: 1) der Überforderte, 2) die Getriebene, 3) die Skeptikerin, 4) der Vorsichtige und 5) die Optimistin. Allerdings bilden sie keine konsistenten Typen, die kurzen Darstellungen zeigen auch deren Ambivalenzen und Widersprüche auf.
Der Großteil des Buches besteht aus einer Bestandsaufnahme der digitalen Gesellschaft und dem Zustand des Journalismus in einer von Aufmerksamkeit, Klickzahlen, Skandalisierung und Personalisierung getriebenen Öffentlichkeit sowie in der Darstellung der Befragungsergebnisse von Nutzer*innen. Dabei geht es unter anderem um Themen wie Quantifizierung von sozialer Realität (vgl. S. 41), Alltagsflucht, Werteverfall, Kontrollverlust, Desinformation, Fake News, Shitstorms, Überforderung – um nur einige zu nennen. Viele Erkenntnisse sind nicht neu, wie zum Beispiel die Feststellung, dass die Menschen „an der Online-Kommunikation vor allem die Optionen sozialer Interaktion“ schätzen (S. 61).
Dem gesamten Buch liegt ein leicht kulturpessimistischer Ton zugrunde. Es wird eine Vielzahl von einzelnen Phänomenen geschildert, ohne sie in einen strukturellen – auch gesellschaftlichen – Zusammenhang zu stellen. Die strukturellen Rahmenbedingungen des professionellen Journalismus werden lediglich auf einer Seite erwähnt. Dabei waren und sind es gerade Journalist*innen, die vor allem soziale Medien wie X, vormals Twitter, genutzt haben – neben Politiker*innen. Kein Wort über die auch von Journalist*innen beförderte sogenannte „Smartphone-Demokratie“, wie es Adrienne Fichter bereits 2017 genannt hat.
Jenseits des kulturpessimistischen Grundtons hätte es zahlreiche Themen der Kritik an Digitalisierung und digitalem Journalismus gegeben, die aber leider keine Erwähnung finden. Das trifft auch auf die Kritik an Künstlicher Intelligenz (KI) zu. Während der Autor diese Zeilen schreibt, meldet Spiegel Online, dass ChatGPT eine Schachpartie gegen einen Atari 2600 von 1977 verloren hat – oder wie es der Ingenieur, der das Experiment durchgeführt hat, beschreibt: „ChatGPT wurde auf Anfängerniveau regelrecht vernichtet.“ In den Worten der Autoren hätte in diesem Fall die Atari-Spielekonsole digitale Resilienz bewiesen.
Prof. i. R. Dr. Lothar Mikos
Leif Kramp/Stephan Weichert: Resilienz in der digitalen Gesellschaft. Mediennutzung in Zeiten von Krisen, Kriegen und KI. Köln 2024: Herbert von Halem. 198 Seiten, 24,00 Euro
