Sich selbst zum Bild machen

Christina Heinen im Gespräch mit Michael Ullrich

Die Kommunikation über Bilder hat durch die sozialen Medien enorm an Bedeutung gewonnen. Dr. Wolfgang Ullrich, von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) und seither freiberuflich tätig, forscht zum Wandel der digitalen Bildkultur. tv diskurs sprach mit ihm über das Verhältnis von Selbstinszenierung und Authentizität und die Entwicklung einer globalen Bildsprache.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 62-64

Vollständiger Beitrag als:

 

Wie definieren Sie Authentizität?

Damit der Begriff überhaupt Sinn macht, muss man davon ausgehen, dass es so etwas wie eine wahre Identität gibt, ein spezifisches Selbst, den Wesenskern einer Person, dem mehr oder weniger entsprochen wird. Je mehr dies der Fall ist, desto besser ließe sich von Authentizität sprechen. Davon ausgehend, dass es eine feste Identität gibt, ist „authentisch“ alles, was ihr zur Darstellung und Geltung verhilft. „Nicht authentisch“ ist dann alles, was gewissermaßen quer zu dieser Identität liegt. Man kann aber genauso ein Menschenbild vertreten, in dem der Mensch nicht die eine feste Identität hat. Stattdessen besteht sein Handeln aus Rollenspielen, die in den jeweiligen Situationen verkörpert werden. Dieses Menschenbild ist kontextabhängig, plural, vielfältig, offen und flexibel. Der Mensch ist dann die immer veränderliche Summe all dessen, was er tut und was ihm widerfährt. Hier macht der Begriff des Authentischen keinen Sinn mehr; zwischen „authentisch“ und „nicht authentisch“ kann nicht mehr unterschieden werden.

Würden Sie sagen, der Begriff des Authentischen ist gar nicht mehr brauchbar?

Das ist meiner Meinung nach tatsächlich vom Menschenbild abhängig. In einer eher traditionellen Vorstellung gibt es so etwas wie das wahre Selbst, das gefunden und dem gefolgt werden muss. Das spielt etwa in der Ratgeberliteratur und der Esoterik eine große Rolle. In postmodernen Zusammenhängen wird hingegen nicht mehr davon ausgegangen, dass es das wahre Wesen, die reine Essenz von etwas, gibt. Es sind nun eher andere Kriterien, nach denen unterschieden wird: beispielsweise, ob etwas passend in einer Situation oder zu einem Anlass ist, ob es gemessen am Kontext originell ist oder nicht, ob es mutig ist oder provokant. Das sind dann relevante Kategorien, aber nicht die Frage, ob etwas authentisch in dem Sinne ist, dass es einer Identität entspricht.

Sie haben sich mit Selfies auseinandergesetzt. Der erste Satz in Ihrem Buch Selfies lautet: „Wer ein Selfie macht, macht sich selbst zum Bild.“ Was bedeutet das?

Zunächst einmal ist gemeint, dass der eigene Körper, das eigene Gesicht bewusst zu einer semantischen Fläche wird. Der eine will ein Selfie machen, das seine wahre Identität abbildet und mit dem die eigenen Gefühle wahrhaftig ausgedrückt werden. In dem Sinne wäre es auch authentisch. Andere wollen ein Selfie mit der Absicht machen, eine bestimmte Rolle, die sie gerade spielen, oder eine Situation, in der sie sich befinden, in Szene zu setzen. Und das soll dann möglichst perfekt und professionell, ja witzig sein. Da geht es also nicht um Authentizität, sondern eher um Professionalität.

Die gängige Kritik lautet, dass es narzisstisch sei, so viele Fotos von sich selbst zu machen und dann auch noch zu erwarten, dass andere das wahnsinnig interessiert. Andererseits wird auch gern kritisiert, dass die Fotos im Hinblick auf ein Publikum erstellt wurden und von daher nicht wirklich authentisch sein können. Wie stehen Sie zu Selfies?

Der Narzissmus-Vorwurf wird mir zu voreilig erhoben, gerade weil Selfies meist adressiert sind und als Mittel der Kommunikation verwendet werden. Sie haben gerade nicht nur die Funktion, dass der Mensch sich in seinem Bild spiegeln möchte, sich selbst gefallen und bewundern möchte. Das wäre Narzissmus. Es geht eher darum, mit anderen in Kontakt zu treten, gerade nicht die eigene Sonderrolle herauszuheben.
 

Die mythische Figur des Narziss war so überheblich, dass sie noch nicht einmal mit anderen geredet hat. Sie genüg te sich selbst. Ihre Devise war: Ich bin schön und alle anderen sind hässlich – warum soll ich mich dann unterhalten, wenn ich mich selbst betrachten kann?


Das ist meines Erachtens nicht der Sinn von Selfies. Ganz im Gegenteil! Es geht oft sogar darum, sich ein bisschen lächerlich zu machen, z.B. mit einem Duckface oder mit einem Filter – vielleicht, um eine Hemmschwelle bei anderen zu nehmen.

Das Kommunikative scheint zu überwiegen und auch, dass man sich selbst sehr bereitwillig in Kategorien einsortiert: Urlaub am Strand, frisch verliebt oder verlobt etc. Das zeugt eher davon, sich einordnen zu wollen, statt die Andersartigkeit zu betonen.

Genau …

Selfies sind ein globales Phänomen. Gibt es in anderen Teilen der Welt überhaupt so viele Bedenken und Kritik daran?

Soweit ich das wahrnehme, ist die Kritik eine typisch westeuropäische Angelegenheit. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, dass hier noch sehr stark die Vorstellung verbreitet ist, es gebe so etwas wie einen Wesenskern, der durch oberflächliche Bilder verdeckt bzw. verfehlt werde. In den asiatischen Kulturen dominiert von vornherein ein anderes Menschenbild. Die Vorstellung, ein Selfie könnte oberflächlich sein, spielt dort keine Rolle. Man verwendet dort viel selbstverständlicher und hemmungsloser solche Formen der Kommunikation.

Interessant ist auch, dass es eine globalisierte Bildsprache gibt. Die Filter und Apps sind ja nicht lokal begrenzt.

Genau. Da kommt es sicher auch zu Annäherungen zwischen den Kulturen. Für mich ist ein schönes Beispiel der Erfolg von Emojis. Sie sind so etwas wie Paradigmen von Kommunikation, die sich durchschlagen auf die Mimik, die man mit dem eigenen Gesicht macht, wenn man sich selbst zum Bild macht. Da entsteht eine Art globales Idiom.

Die Mimik von Emojis wird nachgeahmt, obwohl sie gar nicht natürlichen Gesichtsausdrücken ähnlich ist?

Ein Auge auf, ein Auge zu und die Zunge streckt man heraus – das gab es vorher nicht als eingeführten Gesichtsausdruck. Inzwischen ist das, beeinflusst von Emojis, ein gängiger Ausdruck auf Selfies.

Gesichtsausdrücke hängen auch mit bestimmten Affekten zusammen. Sie haben untersucht, wie auf Instagram Affekte – insbesondere Trauer – gestaltet werden.

Auch Affekte werden auf diese Weise sehr stark zum Gegenstand von Kommunikation. Diejenigen, die solche Trauerbilder sehen, merken, dass jemand in einer ganz bestimmten Situation ist, und reagieren dann auch auf eine ganz bestimmte Art und Weise: mit Affekten, konkreten Handlungen, einem Kommentar oder mit Emojis. In der Moderne war die Trauer eher ein privates Gefühl.
 

In anderen Kulturen gibt es so etwas wie Klageweiber und öffentliche Rituale, um diesem Affekt Ausdruck zu verleihen und ihn dann auch kollektiv zu erleben. Damit wird denjenigen, die unmittelbar betroffen sind, eine Art Unterstützung und Solidarität erwiesen.


So etwas Ähnliches entwickelt sich aktuell, zumindest bei Leuten, die viele Follower und die Fähigkeit haben, ihre Trauer zu kommunizieren: Indem sie ihre Trauer teilen, können ihnen ihre Follower ein Stück weit Last abnehmen. Die Trauernden sind mit ihren Gefühlen dann nicht mehr allein.

Darüber hinaus ist das Kommunizieren der eigenen Trauer bei einigen Influencern auch verbunden mit der Werbung für bestimmte Produkte. Wie bewerten Sie diesen kommerziellen Aspekt der Gestaltung dieses Affekts?

Durch die Produkte erfahren die Affekte eine Konfektionierung, was es eventuell leichter macht, damit umzugehen. Die Verdinglichung kann vielleicht auch eine Hilfe sein, überwältigende Gefühle zu portionieren, zu verarbeiten oder sich in Distanz zu bringen. Das würde ich also nicht nur kritisch sehen.

Kann man denn allgemein sagen, wie sich die Kommunikation verändert, wenn sie stark über Bilder erfolgt und damit über konfektionierte Ausdrucksformen?

Es lässt sich vermuten, dass das eine Art von Sicherheitsgefühl stiftet, weil man mit ähnlichen Zeichen agiert.

Wirken soziale Medien anders auf das Schönheitsideal, als es Massenmedien tun?

Soziale Medien bieten die Chance für pluralere Schönheitsideale. Die ganze Body-Positivity-Bewegung würde sich wesentlich schwerer tun ohne die sozialen Medien. Massenmedien definieren sich sehr stark über Quantität, sie neigen daher zu Verallgemeinerung. In den sozialen Medien gibt es viel mehr Sender, damit wird auch vieles sichtbar und kommt zur Geltung, das bisher in der Masse untergegangen ist.

 

 

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Dr. Wolfgang Ullrich war bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) und forscht derzeit freiberuflich zum Wandel der digitalen Bildkultur.