Skandalfilme

Cineastische Aufreger gestern und heute

Stefan Volk

2021:
Rezensent/-in: Marcus Stiglegger

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 4/2022 (Ausgabe 102), S. 87-88

Vollständiger Beitrag als:

Skandalfilme

Der Marburger Schüren Verlag – einer der wenigen verbliebenen Fachverlage für Filmliteratur – gibt Stefan Volks Buch Skandalfilme. Cineastische Aufreger gestern und heute in einer erweiterten zweiten Auflage neu heraus. Das Phänomen des Skandalfilms ist ein beliebtes Kind der populistischen Filmpublizistik. Hier geht es noch darum, dass Kino wirklich „gefährlich“ ist, um Zensur (pro und kontra), um ethische und moralische Werte, um das Kino als bedenkliche emotionale Maschine. Die Zeitschrift „Cinema“ hat folglich in den 1980er-Jahren mehrere reich bebilderte Bände zum Skandalfilm herausgebracht, beim Kölner Taschen Verlag würde man einen solchen Band eigentlich erwarten. So betrachtet erscheint ein Buch mit dem Titel Skandalfilme zunächst antiquiert, denn dass Film wirklich zum „Aufreger“ wurde, ist länger her (von kleinen feuilletonistischen Strohfeuern einmal abgesehen) – das wird im neuen Nachwort auch diskutiert. Überhaupt sind es vor allem andere Elemente, die heute beanstandet werden: Waren es früher Nacktheit, später Gewaltdarstellungen, sind es heute vor allem weltanschauliche Bedenken, die Filme zum Skandal werden lassen. Und wie zuvor sind diese Bedenken stark von der jeweiligen Perspektive geprägt, wie die Diskussion um antisemitische Tendenzen in dem türkischen Actionfilm Kurtlar Vadisi: Irak (Tal der Wölfe – Irak [2006]) von Serdar Akar beweist.

Der Filmjournalist Stefan Volk untersucht in seinem immerhin über 360 Seiten starken Band das Phänomen auf eine intensiv recherchierte und weitgehend neutrale Weise, die in einer indirekten Sittengeschichte der deutschen Filmrezeption seit 1900 mündet. Der Fokus des Buches liegt auf der deutschen Skandalrezeption von Filmen seit der Stummfilmzeit (mit Schwerpunkt nach 1950), was angesichts des ausufernden Themas naheliegt. Lediglich in den Einzelfilmbetrachtungen finden sich Anmerkungen zur internationalen Rezeption. Wie es inzwischen Konsens ist, unterscheidet er auch nicht zwischen dem Kino der BRD und der DDR, sondern betrachtet den deutschsprachigen Raum mit Schwerpunkt Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Konkret widmet Volk dem klassischen Kino ebenso große Aufmerksamkeit wie dem aktuellen, wobei nach einführenden Kommentaren zum jeweiligen Jahrzehnt ausgewählte Filme in Einzeldarstellungen folgen, die mit Synopsis, kurzem analytischem Essay und Skandal-bzw. Zensurgeschichte inklusive zeitgeschichtlichen Zitaten vorgestellt werden. In grau unterlegten Infokästen am Rand werden biografische Einträge, Zusatzinformationen und Web- oder DVD-Tipps sinnvoll ergänzt.

Im Vorwort entschuldigt sich der Autor (S. 8) für eventuelle Versäumnisse, und tatsächlich wird man ausführliche Darstellungen einiger Filme außerhalb des eurozentrischen Fokus vermissen. Lateinamerikanische oder asiatische Filme finden sich hier leider kaum. Vor allem im Mittelteil des Buches werden die großen Skandale der deutschen Filmrezeption thematisiert: von Anders als die Andern (1919) zu Das Schweigen (1963), von Die Sünderin (1951) zu Im Reich der Sinne (1976). Da stößt man auf absonderliche Zensurpraktiken, wirre Argumente der Zensoren und ideologisch geprägte Vorurteile der politischen und religiösen Filmbewertung. Andererseits kann sich Volk selbst einer Wertung nicht entziehen, wenn er etwa über Pier Paolo Pasolinis Die 120 Tage von Sodom (Salò o le 120 giornate di Sodoma [1975]) schreibt: „Man muss sich mit Pasolinis Film deshalb schon viel Mühe geben, um ihm einen Sinn zu entringen. Andernfalls verkümmert er zu einer bösartigen, eitlen Vernissage der Perversionen“ (S. 192). Hier schließt er ungebrochen an die Vorbehalte der zeitgenössischen Kritik der 1970er-Jahre an, die heute international einer radikalen Neubewertung des Films gewichen sind. Volk dagegen betont, „dass ‚Salò‘ auch im dritten Jahrtausend, dreißig Jahre nach seiner Weltpremiere, noch immer für aufgeregte Debatten gut ist“ (S. 197). Das mag sein, dennoch ist der Film nur in Deutschland indiziert, während er in den Nachbarländern Großbritannien, Frankreich, Italien, Österreich und den Niederlanden problemlos auf Heimmedien verfügbar ist. Solche fragwürdigen Formen der Zensur speziell hierzulande rufen eher nach einem schärferen Kommentar der hiesigen Zensurpraktiken unter dem Vorwand des Jugendschutzes als nach einem Anknüpfen an 30 Jahre alte Bedenken. Das lässt Volk vermissen.

Die interessanteste Ergänzung der Neuauflage ist zweifellos der dilettantische antiislamische Film Die Unschuld der Muslime (2012), von dem nur eine Ausschnittfassung online zu sehen ist, die jedoch internationale Unruhen auslöste.

Stefan Volk bietet dem filmhistorisch Interessierten eine umfassende, reich illustrierte Darstellung der bundesdeutschen (und stellenweise internationalen) Skandal- und Zensurpraktik. Als Handbuch und Materialsammlung ist das Buch ebenso empfehlenswert wie die dazugehörige Website: www.skandalfilm.net, selbst wenn man sich gelegentlich umfassendere Literaturhinweise zu den Beispielen gewünscht hätte. Dass man nicht mit allen Einschätzungen des Verfassers einverstanden sein wird, liegt in der Natur des Themas dieses Buches, das letztlich vor allem eines vermittelt: das Bild einer zeitgenössischen Mentalität und Moralität, die sich jederzeit wandeln können.

Prof. Dr. Marcus Stiglegger