Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung

Zur Rolle der kommunikativen Figuration Familie

Rudolf Kammerl, Claudia Lampert, Jane Müller (Hrsg.)

Baden-Baden 2022: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Bernward Hoffmann

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 102-103

Vollständiger Beitrag als:

Sozialisation und Medien

Kinder wachsen in mediatisierten Kommunikationsumgebungen anders auf als ihre Eltern, obwohl auch diese bereits digitale Medien in ihren Alltag integriert haben. Es gibt viele Statistiken zu Medienausstattung und ‑nutzung (vgl. u. a. KIM- und JIM-Studien des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest [mpfs]), aber es fehlen Studien, die das Medienensemble der Kinder in ihrer Lebenswelt und deren Wechselwirkungen betrachten. Das ist medienpädagogisch von hohem Interesse, weil Medienerziehung der Kinder primär in der Familie stattfindet und dort in ein vielfältiges Interaktions- und Wirkungsgeflecht eingebunden ist.

Das vorliegende Buch präsentiert erste Befunde aus dem DFG-Projekt „ConKids“: „Connected Kids. Sozialisation in einer sich wandelnden Medienumgebung“, das seit 2018 in Zusammenarbeit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und des Leibniz-Instituts für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) in Hamburg durchgeführt wird. Die acht Beiträge des Sammelbandes sind in unterschiedlicher Konstellation von Mitarbeitenden des Forschungsprojekts verfasst. Sie stellen präzise die theoretischen Grundlagen (Kapitel 1–3) und die Methoden (Kapitel 4) vor, begründen die Auswahl der Untersuchungsgruppen (Kapitel 5–6) und geben vielfältige Einblicke in medial mitbedingtes Familienleben. Drei exemplarische Fallbeispiele – alle Kinder- und Familiennamen sind verändert – führen die Bedeutung der Medienensembles und -praktiken der jeweiligen Kinder in den unter-schiedlichen Wechselwirkungen sehr anschaulich vor Augen.

Die differenzierten Theorie-Grundlagen der Studie zeigen u. a. die Kontexte einer tiefgreifenden Mediatisierung, das Zusammenspiel verschiedener Medienarten und die ökonomischen Zwänge, die auch die Ausbildung von Medienkompetenz bedingen. Sozialisation in der Familie wird subjektzentriert gesehen und ist neben äußeren Faktoren durch die Qualität von Eltern-Kind-Beziehungen geprägt (Nähe versus Distanz, Kontrolle versus Autonomie). Medien werden nicht als isolierbare tertiäre Sozialisationsinstanzen gesehen, sondern sind – dem „Doing-Family-Ansatz“ folgend – Teil der alltäglichen sozialen Praktiken. Familien sind „kommunikative Figurationen“ (Hepp/Hasebrink), in deren Interaktionsgeflecht sich spezifische Medienpraktiken ausbilden, zu denen auch die Kinder selbst ihren aktiven Beitrag leisten. Grundsätzlich stehen nicht die Medien, sondern die sozialen Beziehungen im Fokus. Welche medialen Möglichkeiten Kinder tatsächlich auf welche Weise nutzen, welche Kompetenzen sie ausbilden, ist ohne Berücksichtigung dieses Beziehungsgeflechts kaum nachvollziehbar.

Entsprechend dieser Theorie ist die Methodik der Studie komplex. Nur eine Längsschnittstudie kann Entwicklungen der Medienbeziehungen im Familienkontext nachzeichnen. 32 Familien aus dem Nürnberger und Hamburger Raum wurden in zwei Kohorten jeweils im Jahresabstand bislang zweimal befragt. Die beiden Kohorten wurden nach Alter der Kinder und den Übergangsphasen Kindergarten zur Grundschule, Grundschule zur weiterführenden Schule eingeteilt. Die Relevanz dieser Übergangsszenarien wird gut erläutert. Die Perspektiven der Kinder und der Eltern wurden in getrennten Interviews erhoben. Für die leitfadengestützten Gespräche mit den Kindern wurden Bildlegetechniken einbezogen. Ebenfalls wurden Fotos der Mediengegebenheiten erstellt und in den Interviews aufgegriffen. Um die medienbezogenen Aushandlungsprozesse und Beziehungsgestaltungen aufgreifen zu können, sollten die Eltern und Kinder zwei typische Situationen fotografisch inszenieren. All diese Materialien wurden nach wissenschaftlichen Standards transkribiert und ausgewertet. Dabei kommen natürlich immer Interpretationen und Wertungen der ForscherInnen ins Spiel, die aber kontrollierbar gemacht werden. Im umfangreichen Anhang werden alle relevanten Materialien offengelegt.

Kapitel 7 bietet eine erste Zusammenführung der Ergebnisse und Kapitel 8 ordnet diese in die größeren Forschungskontexte ein. Die derzeit vorliegenden Zwischenergebnisse geben differenzierte Einblicke in die Beziehungsgeflechte der Familien zwischen Gewährenlassen und Eingreifen. Das ist weit mehr als das, was quantitative Studien bislang an medienpädagogischen Orientierungen liefern konnten. Die Unterschiede zwischen den Altersgruppen der ca. 6-jährigen und der 10-jährigen Kinder, die mit dem Alter wachsende Autonomie und Medienkompetenz und das Zutrauen der Eltern werden deutlich. Schule spielt bei der Gestaltung des Medienensembles bei beiden Altersgruppen so gut wie keine Rolle.

Den größten Kritikpunkt der Studie benennen die AutorInnen selbst: Die beteiligten Familien stammen nahezu ausschließlich aus sozial bessergestellten Verhältnissen und entsprechen auch eher einem traditionellen Familienbild. Diesen Mangel versuchen die AutorInnen durch Abgleiche mit einer aktuellen Studie von Ingrid Paus-Hasebrink etwas auszugleichen.

Prof. i. R. Dr. Bernward Hoffmann