Spiel mit dem Trauma
Kann ein Videospiel tatsächlich einem komplexen Thema wie dem menschlichen Trauma gerecht werden? Kann es dessen Bedeutung und seine Folgen sogar interaktiv erlebbar machen? Die Frage ist nicht neu, doch besondere Aufmerksamkeit erhielt sie im Jahr 2017.
Denn im selben Jahr brachte Hellblade – Senua’s Sacrifice das Thema auch in der klassischen Fachpresse auf die Tagesordnung. Hellblade dreht sich um die piktische Schamanin Senua, dargestellt von Melina Jürgens, fotorealistisch gerendert von Spielestudio Ninja Theory und fachlich beraten von Mediziner und Neurowissenschaftler Paul Fletcher. Hellblade – Senua’s Sacrifice war bei Weitem nicht das erste Videospiel, das traumatische Erfahrungen oder das psychische Innenleben eines traumatisierten Menschen explizit darzustellen versuchte. Doch es hatte eine besondere Signalwirkung, weil es das Thema in den Mittelpunkt stellte rückte und zugleich durch seine aufwendige technische Umsetzung bestachgleichzeitig einen hohen technischen Aufwand betrieb – was das Spiel für ein breites Publikum überhaupt erst interessant machte. Im Jahr 2017 wurde das Spiel auch als grafisches Schaustück gesehen wahrgenommen – es war „visuell überwältigend“ (Chiodini 2017). Ungewöhnlich war der neue seriöse Blick auf das Thema. Um dem Für den besonderen Authentizitätsanspruch gerecht zu werden, wurde ein großer Aufwand betrieben: Von Psychosen betroffene Menschen begleiteten das Projekt und unterstützen die glaubwürdige Darstellung von Senuas Perspektive (vgl. Fletcher 2024).

Screenshot aus Hellblade – Senua’s Sacrifice (Ninja Theory 2017)
In der Spieleszene hat Hellblade dazu beigetragen, eine neue Sensibilität für die Darstellung psychischer Erkrankungen zu etablieren. Auch im Medium Games wurden lange populäre Klischees gepflegt – etwa die Darstellung psychisch erkrankter Menschen als gewalttätig, körperlich entstellt, dumm, oder fremdartig (vgl. Spies 2022, S. 5 f.). Doch Stimmen zu hören und Ungeheuer wahrzunehmen, ist nicht nur ein abgegriffenes Horrormotiv, es ist auf eine spezifische Weise etwas, das Menschen tatsächlich erleben.
So sehr das Spiel Teile des Publikums beeindruckte, so sehr forderte Hellblade II – Senua’s Saga das Verständnis heraus, als es im Mai 2024 erschien. In der Fortsetzung der Geschichte bezwingt Senua gemeinsam mit anderen Menschen riesige Titanen, die sich als Metaphern für großes Leid und Naturkatastrophen lesen lassen.
„Was ist in diesem Spiel echt und was ist Psychose?“, fragten gleich mehrere Beiträge auf Reddit (2024). Wenn auch andere Figuren im Spiel auf die Titanen reagierten, war das dann nicht eine unglaubwürdige Massenhalluzination? Dahinter steht möglicherweise die Vorstellung, dass Senuas Psychosen ein individueller Extremfall sind, eine isolierte, letztendlich nicht mit anderen teilbare Perspektive auf die Realität. Paul Fletcher hat in einem Interview jedoch klargestellt, dass Psychosen ein „lose definierter Begriff“ seien und unter bestimmten Bedingungen auch bei ansonsten gesunden Menschen auftreten können – etwa ausgelöst durch eine traumatische Erfahrung (Fletcher 2024).
Unklare Ursachen
Die Hellblade-Spiele nehmen damit eine doppelte Signalrolle ein: Einerseits verweisen sie auf das Potenzial, subjektive menschliche Erfahrungen auf besondere Weise erfahrbar zu machen. Andererseits konfrontieren sie das Publikum mit der Frage, inwiefern die dargestellten Erfahrungen vielleicht doch übertragbar sind – ob die anfangs als fremdartig wahrgenommene Perspektive auf die Realität unter bestimmten Bedingungen eine einleuchtende, menschliche Reaktion sein kann.
Wie sich das vielseitige Medium mit dem komplexen Phänomen auseinandersetzt, hat Medienwissenschaftler Thomas Spies in seiner 2021 vorgelegten Dissertation zu Trauma im Computerspiel untersucht. Darin bemüht er sich um eine tragfähige, breit anschlussfähige Definition des diskursiv zerschlissenen Begriffs „Trauma“, bevor er analysiert, wie Videospiele das Thema in den Jahren zuvor aufgegriffen haben. Er entwickelt dabei einen modernen, interdisziplinären Traumabegriff.
Trauma, so Spies im Interview, könne man verstehen als eine „systemische mentale Wunde, die nachhaltige Konsequenzen für das Individuum hat“1. Praktisch jeder dieser Begriffe könnte wiederum in Anführungszeichen gesetzt und näher erläutert werden. In seiner Dissertation leitet Spies eine präzisere Vorstellung von Trauma als „systemische Störung“ her (Spies 2022, Kapitel II.3). Diese muss nicht zwingend auf ein isoliertes, individuelles Ereignis zurückgehen, sondern kann auch von Gruppen und über längeree Zeiträume hinweg erfahren werden. „Wir können bestimmte traumatische Muster teilen“, erklärt Spies im Interview.

Screenshot Hellblade II (Ninja Theory 2024)
Senuas Geschichte spielt im neunten Jahrhundert. Überfälle durch Wikinger, Mord, Vergewaltigung und Versklavung waren in dieser Zeit kollektive Schicksale, die ganze Gruppen von Menschen betrafen. Im Gespräch verweist Spies auf geteilte Erfahrungen wie den Zweiten Weltkrieg oder die aktuelle Situation in Gaza: „Da teilen Menschen ein gemeinsames Leid, das sie auf Jahre hinaus traumatisieren wird.“
Großes Potenzial
In seiner Dissertation untersucht Spies neben dem ersten Hellblade eine Reihe weiterer aktueller Spiele und kommt zu einer klaren Überzeugung: Videospiele können mit ihren spezifischen Mitteln Traumata besonders gut darstellen und begreifbar machen.
Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass Inhalte nicht passiv und nicht von außen erlebt werden. Games erlauben es den Spielenden, „aktiv in einer fiktiven Welt zu wirken und Wirksamkeit zu erfahren“ (Spies 2022, S. 86). Wichtig sei auch das „Präsenzerleben während des Spielakts“ (ebd., S. 202) – Spielfiguren werden verkörpert, sie werden direkt gesteuert.
Videospiele können mit ihren spezifischen Mitteln Traumata besonders gut darstellen und begreifbar machen.“
Die Literatur- und Medienwissenschaftlerin Tobi Smethurst hat die Entwicklung bereits 2015 im zeitlichen und medialen Kontext verortet. Seit Jahrzehnten seien „Bücher und Filme über persönliche Traumata oder über weitreichende traumatische Ereignisse“ zu einem „Teil der westlichen Populärkultur“ geworden (Smethurst 2015, S. 15). Entsprechend habe sich auch in Spielen eine breite Palette der Perspektiven entwickelt.
Eine anfängliche Skepsis, ob die Darstellung von Traumata in Spielen zwangsläufig zu wirtschaftlichem Misserfolg führe, widerlegte bereits 2012 der Indie-Hit Dear Esther – als langsames, narratives Laufspiel, an dessen Ende der Protagonist sich das Leben nimmt. Smethurst beschreibt eine Vielfalt der Traumarepräsentationen: Als Trope im Sci-Fi-Egoshooter Deus Ex Human Revolution, als strukturelles und ästhetisches Stilmittel im Rätselplattformer Limbo, als interaktive Erfahrung im Kriegsshooter Spec Ops: The Line.
Neue Ansätze
Auch in Videospielen hat sich der Blick auf Traumata (und auf psychische Erkrankungen) geweitet und geschärft. Inwiefern man sich dem Phänomen im Kern jedoch nähern kann oder auch sollte, ist durchaus umstritten. Als Game Developer und Inclusion Advocate setzt sich betalars in Spielen und Vorträgen nicht nur mit der Darstellung von Trauma auseinander, sondern auch mit dem möglichen Sinn eines solchen Vorhabens – und dessen natürliche Grenzen. Im Kern der Erfahrung sieht betalars etwas Unvermittelbares: „Trauma tut Abgründe auf, die Außenstehende weder verstehen können noch verstehen müssen. Ich weiß, ich kann sowas niemals ‚richtig‘ darstellen.“
betalars fände es „trotzdem falsch, darüber zu schweigen“. Ernsthafte Versuche, solche extremen Erfahrungen zu thematisieren, erfordern nach dieser Logik sowohl Risikobereitschaft als auch Feingefühl. „Mein wichtigstes Ziel ist, dass Betroffene sich gesehen fühlen.“ Gleichzeitig sieht betalars einen „schmalen Grat“ zwischen Überforderung und Subtilität. Häufig würden mediale Narrative Betroffene im Interesse der Massentauglichkeit verleugnen und Inhalte im Interesse der Dramaturgie vereinfachen.
Mein wichtigstes Ziel ist, dass Betroffene sich gesehen fühlen.“ (betalars, Game Developer und Inclusion Advocate)
Auch mit diesen Fragen setzt sich Pierre Corbinais auseinander, Game Writer und Designer. In seinem Spiel Wednesdays thematisiert er persönliche Erfahrungen mit Inzest und Kindesmissbrauch. Wednesdays spielt in der Erinnerung eines Menschen, der sich an seinem Schreibtisch Episoden seiner Biografie vergegenwärtigt. Die Bildtafeln zeigen Szenen aus Familie und Freundeskreis, doch die Erinnerungen sind veränderbar – und sie enthalten keinen expliziten Missbrauch. Vereinzelt ist etwa auf der Verkaufsplattform Steam nachzulesen, dass einige aus dem Publikum das Spiel eher ratlos beendet haben. Wo ist das schreckliche Ereignis, wo die Botschaft? (Vgl. kyle.epps 2025)
Im Interview antwortet Corbinais mit einem freundlichen Achselzucken: „Ich habe keine Botschaft.“ Dass Kindesmissbrauch verwerflich oder Redetabus schädlich seien, sei schließlich „offensichtlich“. Dass einiges beim Publikum nicht ankomme, habe er einkalkuliert. Für ihn gehört das fundamental zum Medium: „Wenn man ein Videospiel macht und keinen Film, keinen Comic oder Roman, muss man sich damit abfinden, dass Spieler unterschiedliche Erfahrungen machen werden.“
Die Vision hinter Wednesdays ist für Corbinais deutlich offener. Er hat es mit einem kleinen Team entwickelt, um „ins Gespräch zu kommen“ – sowohl mit sich selbst als auch mit anderen. Er persönlich liebe es, wenn er bei der Rezeption von Kunst nicht alles sofort verstehe. Und tue er es doch, langweile er sich.
So wirkt auch das Spiel selbst: Leicht, oft witzig und ambivalent. Kurze, chronologisch unsortierte Szenen erzählen mit Comicpanelen und Sprechblasen von einer Handvoll Charaktere. Ein Junge langweilt sich auf dem Sofa seiner Oma, sein Vater findet bei der Beerdigung der Großmutter keine richtigen Worte, der Junge und ein Mädchen erproben gemeinsam das Masturbieren – oder auch nicht. Innerhalb der Szenen ermöglichen Multiple-Choice-Entscheidungen unterschiedliche Fortgänge der Handlung. Jede Szene kann zudem jederzeit übersprungen werden. Corbinais versucht also gar nicht erst, den Auslöser oder das Nacherleben eines Traumas interaktiv erlebbar zu machen.

Screenshot Wednesdays (ARTE France 2025)
Auch betalars entwickelt ein Spiel, dass sich einem tabuisierten Thema auf behutsame Weise nähert. Unter dem Arbeitstitel Frame of Mind – A game of thoughts ist eine Demoversion auf Steam erhältlich; der vollständige Titel soll noch in diesem Jahr erscheinen. Frame of Mind erzählt indirekt – vermittelt über die Reflexionen eines Protagonisten – von Erinnerungen, darunter auch traumatische Erfahrungen. In den Spielablauf eingebunden sind „Content Notes“, die Betroffene auf potenziell belastende Themen hinweisen. Für betalars ist das zentral, um „selbstbestimmten Medienkonsum“ zu ermöglichen. Anders als klassische „Triggerwarnungen“ sollen diese Hinweise Betroffene zu einer informierten Entscheidung befähigen – und ihnen ermöglichen, bestimmte Szenen im Spiel gezielt zu überspringen. Im Kern des Spiels steht eine Erzählung über das „Aufwachsen als neurodivergente Person“, erklärt betalars. Ein wichtiges Element der Erzählung ist die Erfahrung sexueller Gewalt aus der Perspektive einer „autistischen und als Mädchen sozialisierten“ Person.

Screenshot Frame of Mind – A Game of Thoughts (Polynormal Games 2025)
Wie Corbinais so formuliert auch betalars keine klare Botschaft, sehr wohl aber die Hoffnung auf einen „positiven Impact“. Es gehe darum, Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht allein seien. Dass ihnen etwas passiert sei, das „so allgegenwärtig ist, dass es für mich in einer Geschichte nicht fehlen darf.“
Eine weitere Intention von betalars ist es, mehr Empathie und Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu fördern. „Viele glauben nicht, wie schnell Dynamiken entstehen, in denen Übergriffe passieren, wenn nicht explizit nach Konsens gefragt wird.“ Dissoziation könne jedoch rasch verhindern, dass überhaupt noch „nein“ gesagt werden kann. betalars will dafür ein Bewusstsein schaffen und hat trotzdem mit der Möglichkeit des Scheiterns Frieden geschlossen. „Ich bin im Zweifel auch glücklich darüber, das schlechteste Beispiel zu sein, das andere anregt, es besser zu machen.“
Nichts Besonderes
Der Ball wird durchaus aufgenommen. In der alternativen Indie-Spiele-Entwicklung – einer lebendigen internationalen Szene, die sich zu Game Jams und zu kleineren Veranstaltungen versammelt – ist die Lust auf andere, explizit auch problematische Inhalte ein grundlegender Impuls vieler Spiele, die von kleinen Teams außerhalb kommerzieller Strukturen entwickelt werden.
Die Szene wächst und vernetzt sich seit Jahrzehnten. Ein prominentes Beispiel ist die A Maze, die seit 2012 als jährliche Veranstaltung in Berlin stattfindet und mittlerweile auch von Stimmen innerhalb der konventionellen Branche wahrgenommen wird – von außen allerdings immer noch häufig als „weird and wonderful“. Noch deutlich weiter zurück reicht die Anerkennung einer unabhängigen Spieleszene durch das Independent Games Festival, das als Teil der Game Developers Conference jährlich in San Francisco ausgerichtet wird. Hier sind neue Themen und Spielideen ausdrücklich gewünscht. Autobiografische Spiele, interaktive Erzählungen auch über psychische Gesundheit und die Verarbeitung von Traumata gehören dort längst zum Themenkreis. Zuletzt gewann Consume Me beim IGF – ein Spiel, das unter anderem Probleme der Selbstwahrnehmung und der Gefahr von Essstörungen bei Heranwachsenden behandelt.
Die besten Darstellungen von Trauma, die ich kenne, sind über Games, Musik und Bücher verteilt.“ (Fio Leukert, Game Developer)
Aus dieser Szene gehen professionell ausgebildete Talente hervor, die in Game Jams, auf kleinen Zusammenkünften und online daran arbeiten, die Perspektive von Games zu erweitern. Personen wie Fio Leukert fühlen sich kulturell in einer „stark queeren, Lo-Fi-, internet-geprägten Nische“ zu Hause. Leukert hat für erfolgreiche Indie-Studios wie Bippinbits gearbeitet, entwickelt aber auch Visual Novels, in denen nicht nur Traumata, sondern ganz allgemein „intimate and personal subject matters“ behandelt werden (Leukert o.J.). Im Gespräch sieht Leukert Games dabei „nicht wirklich“ als besonders geeinigt, Traumata darzustellen oder erfahrbar zu machen. „Die besten Darstellungen von Trauma, die ich kenne, sind über Games, Musik und Bücher verteilt.“ Für Leukert sind sie „als Werkzeug und Kunstwerke ansprechend“, weil sie eine „recht einzigartige Form der experientiellen Kommunikation“ einsetzen.
Wer mit Spieleschaffenden aus Leukerts Generation spricht, hört solche Einschätzungen öfter: Dass Games sich auch mit Traumata befassen, ist hier oft kein besonderes Thema, weil sie sich ohnehin selbstverständlich mit allen Themen auseinandersetzen.
Anmerkung:
1) Alle Zitate, die nicht anders ausgewiesen sind, stammen aus Interviews, die der Autor mit den betreffenden Personen geführt hat.
Quellen:
Alexander, L.: IGF winner Hofmeier pays it forward for Porpentine's Howling Dogs. In: Game Developer, 19.03.2013. Abrufbar unter: gamedeveloper.com (letzter Zugriff: 16.06.2025)
Chiodini, J.: Hellblade: Senua's Sacrifice review. Highway to Helheim. In: Eurogamer, 09.08.2017. Abrufbar unter: eurogamer.net (letzter Zugriff: 16.06.2025)
Fletcher, P.: Understanding Senua’s psychosis in Hellblade. In: Journal of Geek Studies, 17.07.2024. Abrufbar unter: jgeekstudies.org (letzter Zugriff: 16.06.2025)
Game Developer: The 2023 A MAZE. Award nominees are as weird and wonderful as you’d expect. In Game Developer, 14.03.2023. Abrufbar unter: www.gamedeveloper.com (letzter Zugriff: 24.06.2025)
kyle.epps: Nicht empfohlen. Rezension zu Wednesdays. In: Steam, 20.05.2025. Abrufbar unter https://steamcommunity.com (letzter Zugriff: 24.06.2025)
Leukert, F.: About me. In: Fio Leukert, o.J. Abrufbar unter https://fio-leukert.com letzter Zugriff: 24.06.2025)
Reddit: So … What is real life in this game and what is psychosis? In: reddit, 07.05.2024. Abrufbar unter www.reddit.com (letzter Zugriff: 24.06.2025)
Smethurst, T.: Playing with Trauma in Video Games: Interreactivity, Empathy, Perpetration. Gent 2015
Spies, T.: Trauma im Computerspiel. Mediale Repräsentationen mentaler Extremerfahrungen. Bielefeld 2022