Stay woke!?

Claudia Mikat

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), greift die Frage auf, ob die Spruchpraxis im Jugendmedienschutz „zu woke“ geworden ist.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 1

Vollständiger Beitrag als:

Ist die Spruchpraxis im Jugendmedienschutz „zu woke“ geworden? Die Frage stellt sich z. B. bei alten Filmen oder Serien, die früher akzeptiert, heute aber anders bewertet werden, weil die zunehmende Sensibilität für Rassismus und Diskriminierung in der Gesellschaft zu einer entsprechend sensibleren Wahrnehmung von Rassismus und Diskriminierungen auch im Medialen geführt hat.

Nun ist der Begriff „Wokeness“ alles andere als eindeutig, sondern komplex aufgeladen. Im ursprünglichen Wortsinn, verstanden als Wachheit gegenüber gesellschaftlichen Diskriminierungen, ist Wokeness Ausdruck einer freiheitlichen und humanistischen Weltanschauung mit Werten wie Gleichheit und Toleranz, die auch im Kinder- und Jugendmedienschutz normgebend sind. Rassistische, diskriminierende oder diffamierende Äußerungen gelten grundsätzlich als potenziell entwicklungsbeeinträchtigend und führen je nach Kontext zu entsprechenden Maßnahmen. „Zu woke“ zu sein, ist dagegen ein Negativurteil. In ihm schwingt mit, man könnte es mit der Sensibilität gegenüber marginalisierten Gruppen und Themen wie Gleichstellung auch übertreiben und Freiheiten durch Moralisierung beschränken.

Die wachsende Sensibilität geht einher mit der Tendenz, einzelne Inhalte in Filmen zu markieren und technisch zu taggen. Und da es bemerkenswert ist, wenn ein Inspektor einer Sekretärin auf den Po klatscht, Homosexuelle verbal abgewertet werden oder ein weißer Mann eine schwarze Frau auspeitscht, wird man die entsprechenden Szenen notieren oder markieren und mit anderen Faktoren abwägen. Ob der Inhalt Heranwachsende verstört, Vorurteile verstärkt oder sie sonst beeinträchtigt, ist dann nicht die Summe der einzelnen Teile. Es bleibt die Aufgabe, eine Wirkungsvermutung zu formulieren. Beispielsweise: dass Kinder den 60 Jahre alten Krimi antiquiert und altbacken und das Verhalten des Inspektors in keiner Weise vorbildhaft finden. Dass der an sich abwertende Begriff im Kontext der Sitcom nicht abwertend erscheint, weil insgesamt ein spöttisches Licht auf homophobe Sprache geworfen wird. Oder dass die Gewalt gegen die Frau Jüngere massiv überfordert, insbesondere die nicht unerhebliche Gruppe der Kinder in Deutschland, die selbst Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren, obwohl der Sklavenhalter eindeutig negativ charakterisiert ist.

Das gilt für menschliche Entscheidungen über potenzielle Wirkungen. Wenn Algorithmen hinterlegt sind oder Inhaltsbestandteile direkt als Verbraucherinformation übernommen werden, kann es leicht zu Verzerrungen kommen, die die beabsichtigte Orientierung eher erschweren. Es hängt dann von der hinterlegten Logik ab. Gilt bereits die Darstellung von Tabak- und Alkoholkonsum als Hochrisiko, gelangt man schnell zu einer Freigabe des Pumuckl ab 12, weil Meister Eder in einer Szene ein Bier trinkt und eine Zigarette raucht.

Insofern: Man kann es mit dem Taggen sicher übertreiben oder einzelnen Inhalten bei der Bewertung des Ganzen ein zu großes Gewicht beimessen. Man kann aber auch Einzelheiten übersehen oder zu gering gewichten, die Kinder mit Diskriminierungserfahrung belasten und sie in ihrer Entwicklung behindern. Über die Kriterien und die „Auswertungslogik“ muss und darf man diskutieren. Für die Verlässlichkeit von Bewertungen ist relevant, einen objektiven Maßstab zu finden. Ansonsten kann man in einer Zeit, in der offen rassistische Positionen großen Zuspruch finden, gegenüber Rassismus und Diskriminierung nicht wachsam genug sein.

Ihre
Claudia Mikat