Sterben lassen

Die filmische Inszenierung der Selbsttötung

Dorothea Adler, Frank Schwab, Hannah Müller-Pein

Ob im Kino, im Fernsehen oder auf Streamingportalen: Filme und Serien können als eine besondere Form der Kommunikation angesehen werden. Wir fiebern mit Protagonisten mit, fühlen uns in sie ein oder identifizieren uns gar mit ihnen. Tragisch und spannend wird es, wenn eine Medienfigur in eine individuelle Krise gerät. Umso dramatischer, wenn diese Krise lebensbedrohlich ist oder gar den Suizid einer Medienfigur zur Folge hat. Andererseits freuen wir uns, wenn die Medienfigur die Krise übersteht und ihr Leben wieder in den Griff bekommt. Medialen Inszenierungen kann für die Suizidprävention eine entscheidende Bedeutung zukommen.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 68-71

Vollständiger Beitrag als:


Wer unseren tv diskurs-Beitrag Ein sensibles Thema. Suizidalität, Suizid und Suizidprävention in den Medien (Adler/Fiedler/Schäfer/Schwab 2020) gelesen hat, weiß, dass Medien suizidpräventive („Papageno-Effekt“), aber auch suizidfördernde Effekte („Werther-Effekt“) haben können. Gerade im Printbereich gibt es zahlreiche Studien (beispielsweise Schäfer/Quiring 2013), die das Risiko einer unangemessenen Medienberichterstattung beleuchten. Besonders durch die aufgeheizte Debatte um die Serie Tote Mädchen lügen nicht (u.a. International Association for Suicide Prevention 2017; Mändlen 2019; Wittenberg 2019) wird deutlich, dass fiktionale filmische Inszenierungen als suizidfördernd oder ‑hemmend diskutiert werden.

Filmische Massenmedien fungieren als Multiplikatoren und Kommunikatoren moderner Mediengesellschaften, kultivieren Überzeugungen oder definieren die gesellschaftliche Relevanz unterschiedlichster Themen (Gerbner/Gross 1976a, 1976b; McCombs/Reynolds 2002). Hier ist deshalb ein sensibler Umgang mit dem Thema „Suizid und Suizidalität“ medienethisch notwendig. Wobei präventive Maßnahmen keinesfalls dazu beitragen sollten, diese Themen medial zu tabuisieren. Insbesondere dann, wenn ein Publikumsinteresse vorhanden zu sein scheint. So erzielte die fiktionale Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht eine recht hohe Zuschauerquote (MM 2017), aber auch nonfiktionale Prominentensuizide sind oft begleitet von einem hohen öffentlichen Interesse, besitzen sie doch einen hohen Nachrichtenwert bzw. bedienen die menschliche Neugierde (Blood u.a. 2007). Medienschaffende und Entscheidungsträger in den Medien wollen wir im Folgenden dazu einladen, gemeinsam über suizidpräventive Aspekte ihrer Arbeit nachzudenken. Wie, so fragen wir, lassen sich vor allem Folgesuizide vermeiden und vielleicht sogar suizidpräventive Effekte durch Medien maximieren?
 

Trailer zu Tote Mädchen lügen nicht bei Netflix



Um Medienschaffenden Orientierung zu bieten, hat die WHO im Jahr 2019 einen Leitfaden für Filmschaffende entwickelt. Im Folgenden werden wir diesen Leitfaden kurz vorstellen, erläutern und medienpsychologisch ergänzen.1
 

Resilienz fördern, Hilfsmöglichkeiten und positive Modelle aufzeigen
 

  • Wie können alle Rezipientinnen und Rezipienten – vulnerabel oder nicht – für die Suizidprävention sensibilisiert werden?
  • Wie kann das filmische Narrativ die Resilienz der Rezipientinnen und Rezipienten durch positive Modelle fördern oder Hilfsmöglichkeiten aufzeigen?

Filme wollen uns in eine andere Welt entführen. Nicht selten bauen wir während der Filmrezeption eine (parasoziale) Beziehung zu den Protagonistinnen und Protagonisten auf (Vorderer 1998). Doch kann diese Form der Beziehung, wenn nicht sogar Identifikation mit bzw. zu der Protagonistin bzw. dem Protagonisten auch ein gewisses Risiko befördern. Dann etwa, wenn der Suizid der Protagonistin bzw. des Protagonisten und dessen Konsequenzen positiv, nachvollziehbar und erleichternd dargestellt werden. Hier sollte man reflektieren, inwiefern es unumgänglich ist, die Suizidentin bzw. den Suizidenten als Opfer oder gar als Held zu inszenieren. Auch die Darstellung des Suizids als gänzlich nachvollziehbare oder alternativlose Tat birgt Probleme. Je mehr positive Eindrücke oder Rationalisierungen der Motive des Suizids vermittelt werden, desto problematischer kann sich ein unerwünschter medialer Einfluss gestalten (Stack 2005).

Protagonistinnen und Protagonisten können allerdings auch als positive Modelle dienen. Beispielsweise indem eine scheinbar ausweglose Situation lösungsorientiert bewältigt wird, etwa indem Hilfsangebote aufgezeigt und/oder in Anspruch genommen werden. Vor allem dann, wenn all dies in einer Überwindung der Krisen resultiert. Indem fiktionale filmische Narrative Auswege und Lösungen aufzeigen, können sie suizidpräventiv wirken (z.B. Till u.a. 2015). Durch die Einbindung verschiedener Hilfsangebote in die Erzählung kann man einen wichtigen suizidpräventiven Beitrag leisten. Solche Hinweise in den massenmedialen Narrativen können Hilfsangebote für viele Menschen publik machen. Hier kann man sich fragen, inwiefern Hilfsangebote wie die Telefonseelsorge, Onlinesuizidpräventionsangebote (Chat- oder SMS-Beratung), aber auch Beratungsangebote in einen Film eingebaut werden können.

Suizidprävention in den Medien bedeutet nicht, dass der Suizid in filmischen Narrativen keinen Platz haben darf. Ist ein Suizid ein essenzieller Bestandteil einer Narration, thematisiert die WHO (2019) bestimmte bedenkenswerte Aspekte zu dessen dramaturgischer Umsetzung.
 

Sensible Inszenierung des Suizids
 

  • Wie kann ein Suizid oder Suizidalität angemessen inszeniert werden?
  • Ist die konkrete bildhafte Darstellung des Suizids bzw. der Methode für das filmische Werk unumgänglich?

Romantisierende Darstellungen des Suizids sowie detaillierte Darstellungen der Methode oder des Ortes können zusätzliche – jedoch vermeidbare – Information und Inspiration für vulnerable Personen liefern (Scherr/Markiewitz 2018). Je präziser und konkreter die modellhafte Darstellung, desto einfacher könnte die Nachahmung und desto effektiver plausiblerweise die Wirkung ausfallen (Pirkis u.a. 2016). Verstärkt werden kann dies zusätzlich durch Empathie für die Suizidentin bzw. den Suizidenten oder gar durch Identifikation mit der Figur (Scherr/Markiewitz 2018). Aber auch eine allzu euphemistische Darstellung birgt Gefahren. Die konkrete Inszenierung eines Suizids ist also eine wohl abzuwägende Entscheidung. Ein Suizid lässt sich womöglich auch durch den geschickten Einsatz von Gesprächen, emotionalen Reaktionen oder Handlungen der Hinterbliebenen erzählen.
 

Abbildung des sozialen Umfeldes
 

  • Kann die Bedeutung des sozialen Umfeldes im Film verdeutlicht werden?
  • Können Warnsignale für Suizidalität sowie der richtige Umgang damit aufgezeigt werden?

Ein Suizid betrifft nicht nur die Suizidentin oder den Suizidenten, sondern auch die Angehörigen und das gesamte soziale Umfeld. Hier können Film und Fernsehen zweifach ansetzen. Zum einen können – als eine Form des Edutainments – Warnsignale und der richtige Umgang mit diesen in eine Story eingebaut werden; zum anderen kann auch das direkte Hilfeverhalten inszeniert werden. Dadurch werden positive Modelle für alle Rezipierenden, aber insbesondere für Angehörige und enge Bezugspersonen geschaffen. Das Hilfeverhalten kann dabei schon im Kleinen dargestellt werden, beispielsweise indem traurige oder anteilslose Gesichtsausdrücke in einzelnen Szenen angesprochen werden oder aktiv zugehört wird. Konkreter könnte man auch zeigen, wie die suizidale Protagonistin bzw. der suizidale Protagonist zur Nutzung professioneller Hilfe motiviert wird (WHO 2019).
 

Darstellung der Komplexität und Realität
 

  • Kann sich die Darstellung an realen Ereignissen orientieren?
  • Hat man sich bemüht, der Komplexität des Themas gerecht zu werden, oder werden Aspekte unangemessen simplifiziert?
  • Können Experten aus verschiedenen Bereichen in den Prozess eingebunden werden?

Um eine Simplifizierung des Themas zu vermeiden, hilft es, sich an der Realität zu orientieren. Intensive Recherche und Realitätsnähe schaffen nicht nur eine höhere Glaubwürdigkeit, sondern können auch die Komplexität des Themas herausarbeiten. Die Liste der Risikofaktoren für suizidales Verhalten ist lang. Die Ursachen für eine Selbsttötung sind meist vielfältig, höchst individuell und zudem komplex miteinander verwoben. Ebenso gibt es vielfache Warnsignale, die suizidalem Verhalten vorangehen (u.a. American Association for Suicidology o.D.). Diese Warnsignale sollten in der breiten Bevölkerung bekannt sein; Medien können hierzu ihren Beitrag leisten. Um die Realitätsnähe einer solchen Tat adäquat abzubilden, können auch Angehörige und deren Handeln und Reaktionen in die mediale Umsetzung eingebunden werden. Hilfreich kann es sein, wenn ein Team aus Experten den gesamten Prozess von Idee über Skript und Drehbuch bis hin zur Umsetzung begleitet (WHO 2019). Holt man Angehörige im Rahmen einer Produktion mit ins Boot, sollte unbedingt auch auf deren Wohlbefinden, beispielsweise durch den Einsatz eines beratenden Teams, geachtet werden. Die WHO (ebd.) empfiehlt, dass mindestens zwölf Monate zwischen dem Vorfall und der Anfrage von Medienschaffenden liegen sollten.
 

Hinweise, Informationen und adäquate Sprache
 

  • Können (Warn‑)Hinweise zu Beginn der Erzählung eingeblendet werden und sollte man Informationen für Betroffene oder Angehörige anbieten?
  • Wurde eine angemessene Sprache verwendet?

Bereits vor der Erstausstrahlung eines Films bzw. einer Serie kann Suizidprävention betrieben werden, indem Hinweise über den Inhalt der Sendung gegeben werden. Sofern der Suizid nicht als überraschende Wendung inszeniert wird, kann man das Publikum auch auf die Thematik vorbereiten. So bleibt es den Rezipierenden überlassen, ob sie sich mit dem möglicherweise belastenden Thema auseinandersetzen möchten. Auch könnten Medienproduzentinnen und ‑produzenten vorab Informationen für Eltern oder Betreuende von Kindern und Jugendlichen bereitstellen, sodass diese Anhaltspunkte haben, wie sie mit ihren Kindern über das Thema – vorbereitend oder im Nachhinein – reden können. Aber auch der Inszenierung von Gesprächen im filmischen Narrativ kommt eine wichtige Rolle zu – nämlich der Art und Weise, wie über das Thema gesprochen wird. Die Stigmatisierung oder Kriminalisierung von Suizid sollte auch in der Wortwahl vermieden oder ein unangemessenes Wording als problematisch inszeniert werden.
 

Mitwirkende schützen
 

  • Wurde während der gesamten Produktion auch auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besonders geachtet?

Nicht zuletzt sollten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. die Mitwirkenden an einem Filmvorhaben Berücksichtigung finden. Auch diese können durch das Thema belastet und beeinflusst werden. Daher sollten auch dieser Personengruppe Hilfsangebote aufgezeigt und möglicherweise Mentoring angeboten werden.

Die Empfehlungen sind zahlreich und adressieren verschiedenste Gruppen. Festzuhalten ist, dass eine angemessene Inszenierung Betroffenen nicht nur neue Wege aufzeigen, sondern auch das Bewusstsein in der Gesellschaft für das Thema schärfen kann. Film und Fernsehen bieten in fiktionalen Erzählungen Handlungsmodelle und Problemlösungen an. Rezipierende können lernen, (mit‑)fühlen und ihre Einstellungen in Auseinandersetzung mit dem Film überdenken. Die hier zusammengetragenen Ideen und Empfehlungen möchten wir keineswegs als Vorschriften missverstanden wissen. Es handelt sich eher um Einladungen, zusammen mit Ihnen als Medienexperten (Produzierende, Entscheidende, Kontrollorgane) nachzudenken, wie Folgesuizide verhindert und zugleich einer Tabuisierung des Themas entgegengewirkt werden kann. Die WHO-Richtlinien sind relativ neu und versuchen, ein evidenzbasiertes Anraten und Handeln – das dringend notwendig ist – anzubieten. Zugleich ist in diesem Bereich weitere Medienforschung unumgänglich. Im Medienalltag besteht jedoch Handlungsbedarf, um mit Vorsicht, Sachkenntnis und bedachtem Vorgehen Dinge bewegen zu können. Wichtig ist, dass die unterschiedlichen Interessen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Suizid und Suizidalität“ im Film Berücksichtigung finden und abgewogen werden. Im Kern geht es darum, gemeinsam eine medienethische Haltung und Arbeitsweise zu diesem sensiblen Thema weiterzuentwickeln.
 

Anmerkung:

1 Vertiefend in den WHO–Guidelines. Abrufbar unter: https://www.who.int
 

Literatur:

Adler, D./Fiedler, G./Schäfer, M./Schwab, F.: Ein sensibles Thema. Suizidalität, Suizid und Suizidprävention in den Medien. In: tv diskurs, Ausgabe 91, 1/2020, S. 90 – 93

American Association for Suicidology: Warning Signs. Washington DC o.D. Abrufbar unter: https://suicidology.org

Blood, R. W./Pirkis, J./Holland, K.: Media Reporting of Suicide Methods: An Australian Perspective. In: Crisis, 1/2007/28, S. 64 – 69

Gerbner, G./Gross, L.: Living with Television: The Violence Profile. In: Journal of Communication, 2/1976a/26, S. 172 – 199

Gerbner, G./Gross, L.: The Scary World of TV’s Heavy Viewer. In: Psychology Today, 11/1976b/9, S. 41 – 45

International Association for Suicide Prevention: Briefing in Connection with the Netflix Series „13 Reasons why“. Washington DC 2017. Abrufbar unter: https://www.iasp.info

Mändlen, L.: „Tote Mädchen lügen nicht“ spricht krampfhaft gesellschaftliche Probleme an. In: jetzt, 27.08.2019. Abrufbar unter: https://www.jetzt.de

McCombs, M. E./Reynolds, A.: News Influence on our Pictures of the World. In: J. Bryant/D. Zillmann (Hrsg.): Media Effects. Advances in Theory and Research. Mahwah 20022, S. 1 – 18

MM: Pay-VoD: Amazon Prime Video ist Marktführer in Deutschland. In: new-business. de, 01.12.2017. Abrufbar unter: https://www.new-business.de

Pirkis, J./Mok, K./Robinson, J./Nordentoft, M.: Media Influences on Suicidal Thoughts and Behaviors. In: R. C. O’Connor/J. Pirkis (Hrsg.): The International Handbook of Suicide Prevention. Oxford 2016, S. 743 – 757

Schäfer, M./Quiring, O.: Gibt es Hinweise auf einen „Enke-Effekt“? Die Presseberichterstattung über den Suizid von Robert Enke und die Entwicklung der Suizidzahlen in Deutschland. In: Publizistik, 58/2013, S. 141 – 160

Scherr, S./Markiewitz, A.: Woran erinnern sich Menschen bei medialen Suizidfällen und welche Rolle spielt dabei Empathie mit den Suizidenten? Empirische Befunde zur evidenzbasierten Suizidprävention. In: P. Stehr/D. Heinemeier/C. Rossmann (Hrsg.): Evidenzbasierte | evidenzinformierte Gesundheitskommunikation. Baden-Baden 2018, S. 231 – 240

Stack, S.: Suicide in the Media: A Quantitative Review of Studies Based on Nonfictional Stories. In: Suicide and Life-Threatening Behavior, 2/2005/35, S. 121 – 133

Till, B./Strauss, M./Sonneck, G./Niederkrotenthaler, T.: Determining the effects of films with suicidal content: a laboratory experiment. In: The British Journal of Psychiatry, 1/2015/207, S. 72 – 78

Vorderer, P.: Unterhaltung durch Fernsehen: Welche Rolle spielen parasoziale Beziehungen zwischen Zuschauern und Fernsehakteuren? In: G. Roters/W. Klingler/O. Zöllner (Hrsg.): Fernsehforschung in Deutschland. Themen, Akteure, Methoden. Baden-Baden 1998, S. 689 – 707

WHO (World Health Organization): Preventing Suicide: A resource for filmmakers and others working on stage and screen. Genf 2019. Abrufbar unter: https://www.who.int

Wittenberg, L.: Drei Staffeln „Tote Mädchen lügen nicht“ – und Netflix hat immer noch nichts gelernt. In: spiegel.de, 30.08.2019. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de
 

 

Dorothea Adler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienpsychologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Hannah Müller-Pein M. A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und Kommunikationsbeauftragte des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (NaSPro).

Dr. Frank Schwab ist Professor für Medienpsychologie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.