Streitkulturen

Medienethische Perspektiven auf gesellschaftliche Diskurse

Christian Gürtler, Marlis Prinzing, Thomas Zeilinger (Hrsg.)

Baden-Baden 2022: Nomos Verlagsgesellschaft
Rezensent/-in: Hans-Dieter Kübler

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 2/2023 (Ausgabe 104), S. 104-105

Vollständiger Beitrag als:

Streitkulturen

Fake News, Hassbotschaften, Trolling und Shitstorms, also Desinformationen, Diffamierungen, Anfeindungen, Manipulationen und Verleumdungen (in traditionellen Begriffen) prägen weithin Foren, Chats und Plattformen der sozialen Medien. Es fällt schwer, noch von „Streitkulturen“ zu sprechen, wie es offenbar die Fachgruppe „Kommunikations- und Medienethik“ der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) auf ihrer Jahrestagung 2021 tat, die mit diesem Sammelband dokumentiert wird. In zwölf Beiträgen versuchen medienethisch ausgewiesene Autor*innen, aus verschiedenen Perspektiven gegen diese permanente „große Gereiztheit“ medienethische Strategien und Argumente zu finden.

Immerhin führt die Einleitung der Herausgebenden sechs Initiativen in der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft an, die dem Verlust der Diskussionskultur entgegenwirken wollen. Gegliedert sind die Beiträge in vier Abschnitte, die sich historische Perspektiven, aktuelle Diskurse, publikumsethische Aspekte und Fragen von Ordnung und Regulierung vornehmen. Die historischen Sichtweisen sind weitgespannt: Sie reichen von einem Plädoyer, die Streitkultur anhand des philosophischen Diskurses wieder zu erlernen und für demokratische Formen zu nutzen (Funiok), über ein Porträt der „Fußnote als Raum wissenschaftlicher Streitkultur“ (Haarkötter) bis hin zur Wiederentdeckung Georg Simmels Aufsatz Der Streit von 1909 und dessen Eintreten für konfliktzügelnde Faktoren, damit sich Streit für die handelnden Subjekte positiv und wohltuend auswirken kann (Pöttker).

Der zweite Abschnitt widmet sich aktuellen Themen: Im ersten Beitrag wird zunächst eine korpuslinguistische Analyse des gegenwärtigen Diskurses zum Koran geleistet, und zwar anhand zweier der bekanntesten Onlinemedien im Bereich „Rechtspopulismus und Antiislamismus“. Mit ihr kann im Vergleich zu konventionellen Mainstream-Medien wie „Der Spiegel“ und „Die Zeit“ gezeigt werden, dass in den untersuchten Onlinemedien eine rationale, differenzierende Streitkultur mit und über den Islam gänzlich verhindert wird (Krasselt/Dreesen). Anhand einer kürzlichen Kontroverse innerhalb der DGPuK bzw. der Zeitschrift „Publizistik“ greift der nächste Beitrag (Schicha) aktuelle Momente um Cancel Culture in der Wissenschaft auf und plädiert für eine grundsätzliche Offenheit und tolerante Streitkultur. Ob der demokratietheoretisch zentrale Begriff der Deliberation für digitale Kampagnen noch aussagekräftig ist, diskutieren die Autor*innen des letzten Beitrags (Roberts/Filipović) in diesem Abschnitt. Sie kommen zu einem dialektischen Resultat, das Inhalte in den Hintergrund rückt, aber immerhin an formalen Kriterien festhält.

Unter dem für User und Prosumerinnen der sozialen Netzwerke nicht mehr ganz passenden Rubrum der „Publikumsethik“ finden sich im dritten Abschnitt folgende Beiträge: immerhin eine Auseinandersetzung mit Shitstorms und mit ihrem zunehmend disziplinierteren Umgang der Nutzer*innen. Deshalb formulieren die Beiträger (Wiedel/Dietrich/Knieper) am Ende Kriterien, mit denen die User*innen die diversen Einlassungen beurteilen können. Nach dem Einfluss, den das jeweilige Interface einer Social-Media-Plattform wie WhatsApp, Facebook, Instagram und Twitter auf die digitale Kommunikation nimmt, fragt der nächste Beitrag (Gürtler). Die Analyse illustriert die normierende Funktion der technischen Skripte; darüber Bescheid zu wissen, könnte einen reflektierteren Umgang fördern. Nach der exemplarischen Befassung mit Desinformationen, Bots und weiteren Risiken im Netz plädieren die Autor*innen des letzten Beitrags (Büsch/Prinzing) in diesem Abschnitt für einen Basiskatalog zum sozialverantwortlichen Medienumgang in der digitalen Gesellschaft, entsprechend den vielen medienpädagogischen Diskussionen über Kompetenzen und Literacy.

Die drei Beiträge des letzten Abschnitts befassen sich mit „Ordnung und Regulierung“ auch eher aus der Perspektive der klassischen Massenmedien; die bereits ergangenen und noch erforderlichen Regelungen der sozialen Medien auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene erwähnen sie nur am Rande. Der erste Beitrag (Ruppert) fragt aus demokratietheoretischer Sicht, welche Zusammenhänge zwischen Pluralismustheorie und den sozialen Medien zu ziehen sind. Er folgert vor allem, dass die Verbände die sozialen Medien noch zu wenig nutzen, um die gesellschaftliche Basis der digitalen Öffentlichkeit zu verbreitern. Der zweite Beitrag (Jarren) fokussiert die strukturellen und rechtlichen Voraussetzungen, unter denen der etablierte Journalismus und die publizistischen Medien gesellschaftliche Öffentlichkeit herstellen, und fordert, dass Intermediäre und Plattformen eben solchen Regulierungen und Vorgaben unterworfen werden. Schließlich untersucht der letzte Beitrag (Brosda), wie sich eine „Vielfalt der Vernunft“ in der öffentlichen Diskussion (wieder‑)herstellen lässt, und identifiziert sieben medienpolitische Felder für einschlägige Reformen.

Den aktuellen problematischen Phänomenen und vielfach geäußerten Besorgnissen über die Verwerfungen, Dysfunktionen und aggressive, manipulative Nutzungen der sozialen Medien, wie sie öffentlich diskutiert und von Gesetzgebern geahndet werden, nähern sich mithin nur einige Beiträge dieser weitgehend akademischen Diskussion. Dementsprechend bleiben auch die ethischen Fragen und vor allem die daraus zu ziehenden konkreten Vorgehensweisen weitgehend allgemein.

Prof. i. R. Dr. Hans-Dieter Kübler