Streitlust und Streitkunst

Diskurs als Essenz der Demokratie

Stephan Russ-Mohl (Hrsg.)

Köln 2020: Herbert von Halem
Rezensent/-in: Uwe Breitenborn

Buchbesprechung

Printausgabe mediendiskurs: 26. Jg., 2/2022 (Ausgabe 100), S. 97-97

Vollständiger Beitrag als:

Streitlust und Streitkunst

Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die „Rettung des öffentlichen Diskurses“ angesichts einer deutlich erkennbaren Krise des Journalismus, die gravierende Folgen für demokratische Prozesse hat. Der von dem emeritierten Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano herausgegebene Band widmet sich teils konkurrierenden Positionen zum Komplex „Medien, Journalismus und Gesellschaft“ mit der Absicht, Streitkultur „lebendig werden zu lassen“. Fairer Disput gilt ja als Grundelixier unserer Gesellschaft. Der Herausgeber wie die Autorinnen und Autoren des Bandes setzen sich sehr kritisch mit der gegenwärtigen Medienkultur auseinander. So ist Russ-Mohl beispielsweise der Auffassung, dass eher das „selbstverstärkende Gefüge“ aus Medien und Journalismus und die „mediale Angst- und Panikmache“ für den Coronalockdown verantwortlich gewesen seien als die Regierung (S. 18). Medien haben quasi nur im Aufmerksamkeitszyklus agiert: „Im Herdentrieb vereint, dem Clickbaiting und den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, haben sie gleichsam über Nacht die Pandemie zum alles beherrschenden Thema gemacht und den Rest des Weltgeschehens wochen-, ja sogar monatelang nahezu ausgeblendet“ (S. 131 f.). Russ-Mohl sieht auch ein „Realitätsvakuum“ u. a. durch Desinformation. Eine Perspektive übrigens, der beispielsweise von Mirbach und Meyen (siehe die Rezension auf S. 96 in dieser Ausgabe) eher widersprechen.

Der Reader unterteilt sich in fünf große Abschnitte. Die Debattenbeiträge sollen Denkanstöße und Tipps geben, wie wir mit der „Komplexitäts-Überlast“, so der Herausgeber, umgehen sollten, um zumindest einen Teil unserer Diskursfähigkeit wiederzuerlangen. Der erste Teil Öffentliche Kommunikation in der Krise versammelt diverse Beiträge, die Leser miteinander „ins Gespräch“ bringen sollen. Im zweiten Abschnitt widmen sich jeweils zwei Autoren Diskursvarianten und -defiziten, die schon vor der Coronapandemie viel mediale Aufmerksamkeit erfuhren: dem Klimadiskurs, der Migrations- und Islamdebatte oder dem Populismus und Extremismus an den Rändern der Gesellschaft. Der dritte Teil „ist dem Journalismus selbst gewidmet – sowie den massiven Versuchen, ihn durch Public Relations und Propaganda zu beeinflussen“ (S. 133). Ein weiterer Abschnitt geht anhand dreier Landesbeispiele – Italien, Israel, Türkei – der Frage nach, wie die Berichterstattung den Diskurs über diese Länder beeinflusst. Um „Diskursverengung trotz Kanalvervielfältigung“ geht es im letzten Teil, wo u. a. die Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Diskurs beleuchtet wird. Es ist nicht ganz leicht, die einzelnen Texte in Beziehung zu setzen. Sie stehen als Einzelbeiträge im besten Falle als Pro und Kontra in einem umfangreichen Diskursfeld für verschiedene Positionen. So hinterfragt beispielsweise Christian P. Hoffmann in einer spannenden Auseinandersetzung die vermeintlichen Gewissheiten hinsichtlich der Kritik an den Tech-Giganten (Techlash-Dystopie), während andere Autoren wie der Sozialforscher und Ökonom Georg Franck eher jene kritische Perspektive im Lichte der Aufmerksamkeitsökonomie stützen.

Neben etablierten Autoren wie Bernhard Pörksen, Michael Haller, Hans Ulrich Gumbrecht oder Ulf Poschardt, die teils ihre bekannten Positionen darlegen, kommen z. B. auch unbekanntere praxisnahe Einblicke von Auslandskorrespondentinnen wie Petra Reski (Italien) und Susanne Knaul (Israel) zum Zuge. Es finden sich in dem Band auch direkt aufeinander bezogene Kontroversen – wie die von Gemma Pörzgen und Gary S. Schaal zu dem Thema „Hybride Kriegsführung“, die durch den Ukrainekrieg eine unerwartete Aktualität erlangen. Das Buch ist nicht nur im Lichte der Coronapandemie eine Zeitdiagnose, die aktuelle mediale und journalistische Zustände reflektiert, sondern ebenso ein kontroverses Gesprächsangebot, das punktuell auch Randbereiche des etablierten Diskursrahmens zeigt, um der Streitlust Futter zu geben. Weitestgehend bewegt sich der umfangreiche Band im erwartbaren Diskursrahmen und vereint liberal-konservative Positionen ebenso wie linksliberale Sichten. Das Buch ist damit auch eine solide Sammlung zu aktuellen Fachdiskussionen. Insofern ist dies ein Reader, den Interessierte, Lehrende und Studierende gern als Diskussionsmaterial nehmen können, da er sehr unterschiedliche Sichtweisen gleichberechtigt beieinanderstehen lässt, worüber man lust- und kunstvoll streiten kann. Ob der Band über eine Zeitdiagnostik hinausgeht, sei dahingestellt. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass viele angesichts von Diskursverschiebungen, Social Media und Filterblasen eher einer dystopischen Diktion anheimfallen. Dafür gibt es am Ende vom Herausgeber noch Tipps für jedermann und jedefrau, für Journalisten und für Wissenschaftler (S. 449) zur Diskursbelebung.

Dr. Uwe Breitenborn