Tendenzschutz in der Indizierungspraxis

Über das Spannungsverhältnis von Jugendschutz und Meinungsfreiheit in Ansehung sich radikalisierender Kommunikation

Thomas Salzmann

Thomas Salzmann ist Vorsitzender der Prüfstelle für jugendgefährdende Medien und stellvertretender Direktor der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ).

Wie nie zuvor herrscht ein Streit über das Sagbare in öffentlichen Diskursen. Die Prüfstelle für jugendgefährdende Medien ermittelt seit 70 Jahren, wann Medien jugendgefährdend sind, und wägt den Jugendschutz mit anderen Verfassungsgütern, wie der Kunst- und Meinungsfreiheit, ab. Im Falle einer Indizierung erfolgt eine Grenzsetzung. Dabei gilt es stets, den normativen Wertekonsens unserer Gesellschaft zu ermitteln und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Die Tendenzschutzklausel schützt davor, dass Indizierungen allein wegen des politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts eines Mediums erfolgen.

Printausgabe mediendiskurs: 28. Jg., 4/2024 (Ausgabe 110), S. 31-35

Vollständiger Beitrag als:

Die bei der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ) angesiedelte Prüfstelle für jugendgefährdende Medien entscheidet darüber, ob Medien in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen oder aus ihr gestrichen werden. Nach § 18 Abs. 1 S. 1 Jugendschutzgesetz (JuSchG) hat eine Listenaufnahme zu erfolgen, wenn Medien geeignet sind, „die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden“.
 

Was bedeutet eigentlich Jugendgefährdung?

Das JuSchG nennt einige Fallgruppen, wann Medien eine gefährdende Wirkung auf die Entwicklung oder Erziehung von Kindern oder Jugendlichen haben können, z. B. wenn sie unsittlich sind, verrohend wirken, den Krieg verherrlichen oder zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizen. Die gesetzliche Aufzählung ist nicht abschließend und so wurden im Laufe der mittlerweile 70-jährigen Spruchpraxis zahlreiche weitere Fallgruppen der Jugendgefährdung entwickelt, u. a. zu Medien, die selbstverletzendes Verhalten propagieren, die Alkohol und Drogen oder einen kriminellen Lebensstil verherrlichen, die Menschengruppen diskriminieren, und zu solchen, die den Nationalsozialismus verherrlichen. Auch die Gefährdung der Demokratiefähigkeit/eine Demokratiefeindlichkeit wurde als Fallgruppe der Jugendgefährdung in den Prüfkanon aufgenommen.1

Bei jedem Prüffall, wie auch bei der Weiterentwicklung der Fallgruppen, gilt es zu vergegenwärtigen, welches Schutzziel konkret gemeint ist, wenn der Gesetzgeber von der Entwicklung oder Erziehung hin zu eigenverantwortlichen oder gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten spricht. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) formuliert hierzu:

Sie [die gesetzlichen Regeln des Jugendschutzes; Anm. d. Verf.] sollen im Rahmen des Möglichen äußere Bedingungen für eine charakterliche Entwicklung von Minderjährigen schaffen, die zu Einstellungen und Verhaltensweisen führt, die sich an dem Menschenbild des Grundgesetzes orientieren. Dieses Ziel wird durch Medien gefährdet, die ein damit in Widerspruch stehendes Wertebild vermitteln, wenn zu besorgen ist, dass diese Medieninhalte Minderjährige beeinflussen, d. h. ihrer sozial-ethischen Desorientierung Vorschub leisten.“2

Somit sind die Achtung der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG), das Toleranzgebot nach Art. 3 GG sowie die weiteren Grundrechte und Verfassungsprinzipien wie das Demokratieprinzip leitend für die Ausgestaltung und Konkretisierung der Erziehungs- und Entwicklungsziele „Eigenverantwortlichkeit“ und „Gemeinschaftsfähigkeit“.3

Die Grundrechte und Verfassungswerte prägen das Menschenbild des Grundgesetzes. In ihnen ist der normative Wertekonsens grundgelegt, der uns als Gesellschaft einen Rahmen dafür schafft, wie wir miteinander leben und uns verwirklichen wollen. Dass es sich um einen normativen Konsens handelt, ist eine wichtige Einschränkung, denn dieser Grundkonsens wird im öffentlichen Diskurs immer wieder infrage gestellt – als Meinungsäußerung, als Teil künstlerischen Ausdrucks oder religiösen Bekenntnisses.
 


 

Güterabwägung: Jugendschutz im Spannungsverhältnis zu anderen Verfassungsgütern

Indizierungsentscheidungen der Prüfstelle sind daher stets Entscheidungen, die im Spannungsfeld konfligierender Verfassungsgüter zu treffen sind. Deshalb ist nach der Feststellung einer hinreichenden Gefährdungswahrscheinlichkeit eines Mediums in Bezug auf hierfür empfängliche gefährdungsgeneigte Jugendliche stets das Schutzinteresse des Jugendschutzes mit entgegenstehenden Grundrechten abzuwägen. In den meisten Fällen erfolgt eine Abwägung des Jugendschutzes mit der Kunst- oder Meinungsfreiheit.

Der Bundes- und die Landesgesetzgeber haben im JuSchG und im Jugendmedienschutzstaatsvertrag der Länder (JMStV) Rechtsfolgen an die Listenaufnahme geknüpft, die bezüglich der indizierten Medien ganz erhebliche Werbe- und Verbreitungsverbote zur Folge haben. Kindern und Jugendlichen darf das indizierte Medium weder als Trägermedium noch als Telemedium oder Rundfunkangebot zugänglich gemacht werden. Für den Bereich der Telemedien und des Rundfunks führen die Landesmedienanstalten hierüber die Aufsicht, und zwar auch bezüglich ganz oder im Wesentlichen inhaltsgleicher Werke, § 4 Abs. 2 Nr. 2 JMStV.

Die Indizierung ist ein scharfes Schwert und kann Medien, ohne dass sie strafrechtlich relevant sein müssen, aus dem Bereich allgemeiner öffentlicher Wahrnehmung verdrängen. Die Indizierung darf nicht dazu missbraucht werden, politisch motiviert gegen unliebsame Meinungen vorzugehen. Die Feststellung der Jugendgefährdung ist ein Instrument des Jugendschutzes und braucht, wie eingangs ausführlich dargestellt, immer eine normativ werteorientierte Herleitung entsprechend des Menschenbildes des Grundgesetzes – frei von politischen Tendenzen. Dies stellt die sogenannte Tendenzschutzklausel des § 18 Abs. 3 Nr. 1 JuSchG klar: „Ein Medium darf nicht in die Liste aufgenommen werden allein wegen seines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts“.
 

Die Tendenzschutzklausel

Auch wenn dies im Rahmen von Indizierungsverfahren gerne von Verfahrensbeteiligten oder ihren Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vertreten wird, stellt die Tendenzschutzklausel keinen grundsätzlichen Indizierungsausschluss dar, sobald die verfahrensgegenständlichen Medien einen politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalt haben. Gegen diese Auffassung spricht schon der Wortlaut der Norm, aus dem unmissverständlich hervorgeht, dass eine Listenaufnahme nicht „allein“ wegen eines politischen, sozialen, religiösen oder weltanschaulichen Inhalts erfolgen darf. Selbstverständlich kann von einem solchen Inhalt aber eine jugendgefährdende Wirkung ausgehen, die auch zu einer Indizierung führen kann. Diese von der Prüfstelle praktizierte Rechtsanwendung entspricht der wohl herrschenden Meinung in der juristischen Fachliteratur4 und neuerer Rechtsprechung. So heißt es in einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster von 2001 noch auf der Grundlage des Vorgängergesetzes des JuSchG:

Die Bundesprüfstelle hat nicht gegen die Tendenzschutzklausel des § 1 Abs. 2 Nr. 1 GjS verstoßen. Die Musikkassette des Klägers ist nicht ‚allein‘ wegen ihres politischen Inhalts in die Liste aufgenommen worden, sondern wegen ihrer dargelegten jugendgefährdenden Wirkung. Die Ausführungen der Bundesprüfstelle tragen wie ohne weiteres den Schluss, dass die Jugendgefährdung hier ein so erhebliches Gewicht hat, dass der Schutz der Meinungsfreiheit im Rahmen der fallbezogenen Abwägung zurücktreten muss.“5

Die Bezeichnung dieser Entscheidung von 2001 als neuere Rechtsprechung ist insofern berechtigt, als dass die viel zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Tendenzschutzklausel mittlerweile 30 Jahre alt ist. Der zugrunde liegende Fall ist angesichts der heutigen Herausforderungen um Fake News, Verschwörungserzählungen und Geschichtsklitterung von nach wie vor hoher Relevanz. Es ging um das Buch Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges. Hierin wurde das NS-Regime ganz erheblich von der Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu entlasten versucht, was zur Annahme einer jugendgefährdenden Wirkung wegen Rechtfertigung und Verharmlosung des Nationalsozialismus führte.

Das BVerwG hat in diesem Fall die Tendenzschutzklausel über ihren Wortlaut hinaus als grundsätzliche Privilegierungsvorschrift mit Blick auf die Indizierungsfähigkeit von Medien verstanden, „sofern nur ihr jugendgefährdender Inhalt, was sich durch entsprechende Darstellung leicht erreichen ließe, als Ausdruck einer – revolutionären – politischen oder weltanschaulichen Überzeugung erscheint“6. Diese privilegierende Wirkung sollte, so das Gericht, allerdings nicht gelten „für eine vom Grundgesetz mißbilligte politische Tendenz“, worunter die Verharmlosung und Rechtfertigung des NS-Regimes falle.7

Die rechtssystematische Auseinandersetzung über die Tendenzschutzklausel löst sich in gewisser Weise auf, weil es vom Ende her gedacht stets um die Abwägung der Verfassungsgüter geht, die miteinander im Konflikt stehen. Hierzu nimmt die an das BVerwG anschließende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ausführlich Stellung. Der Gesetzgeber habe mit der Tendenzschutzklausel „der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit für die politische Auseinandersetzung Rechnung getragen“8. Auf der anderen Seite heißt es:

Das verfassungsrechtlich bedeutsame Interesse an einer ungestörten Entwicklung der Jugend ist unter anderem darauf gerichtet, Rassenhass, Kriegslüsternheit und Demokratiefeindlichkeit nicht aufkommen zu lassen (vgl. BVerfGE 30, 336 [347, 350]). Die NS-Ideologie ist durch solche Elemente wesentlich geprägt. Ihre Verherrlichung, Rehabilitierung oder Verharmlosung in einer Schrift kann es daher durchaus rechtfertigen, deren Verbreitung zum Schutze der Jugend zu beschränken. […] Es bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken, daß das Bundesverwaltungsgericht die Tendenzschutzklausel auf solche Schriften nicht anwendet.“9

Wie in jeder Indizierungsentscheidung galt es auch hier, die im Streit stehenden Verfassungsgüter (hier: Jugendschutz und Meinungsfreiheit) miteinander abzuwägen. Hierbei sind deren jeweiliges Gewicht und Betroffenheit im Einzelfall herauszuarbeiten. Im Fall des Buches Wahrheit für Deutschland stellte das BVerfG darauf ab, dass sich die verbreitete Meinung nur mittelbar auswirke und das „Gefährdungspotential besonders schwer einzuschätzen“ sei, während sich die Äußerungen zur Geschichtsinterpretation gerade im Kernbereich der Meinungs- und Meinungsbildungsfreiheit befänden. Zudem betonte es das Vertrauen des demokratischen Staates in den Meinungskampf und die Notwendigkeit für junge Menschen, diesen auch aktiv zu erleben.10
 


 

Meinungsäußerung und Jugendgefährdung

Für die Entscheidungen der Prüfstelle bedeutet dies, dass im Rahmen der Feststellung der sozialethisch desorientierenden Wirkung eines Mediums möglichst konkret herausgearbeitet werden muss, inwieweit die Erziehungs- und Entwicklungsziele „Eigenverantwortlichkeit“ und „Gemeinschaftsfähigkeit“ durch das jeweilige Medium gefährdet werden, auch um im Rahmen der Abwägung mit den konfligierenden Grundrechten dem Jugendschutz das richtige Gewicht zu geben. Besonders relevante Fragen aus der Spruchpraxis für aktuelle gesellschaftliche Diskurse können hierbei etwa sein, wann kritische politische Meinungsäußerungen die Schwelle zur Demokratiefeindlichkeit überschreiten,11 wann genderpolitische Beiträge mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung kollidieren12 oder wann Beiträge zur Migrationspolitik einen von Diskriminierung geprägten Volksbegriff propagieren.13 Wenn diese beispielhaft skizzierten Überschreitungen passieren, geraten die Menschenwürde, das Toleranzgebot oder das Demokratieprinzip im medial geprägten Diskurs unmittelbar unter Druck und damit das Menschenbild des Grundgesetzes. Die Waagschale des Jugendschutzes ist dann auch im Verhältnis zur Meinungsfreiheit gut gefüllt. Je gewichtiger die Medien indes für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess sind, umso stärker gefüllt ist die Waagschale zugunsten der Meinungs- und Meinungsbildungsfreiheit.

Eine herausfordernde Frage ist, inwieweit die Feststellung des BVerfG, dass „sich einseitige, auf Verfälschung von Tatsachen beruhende Auffassungen im allgemeinen nicht durchsetzen können“14, 30 Jahre nach ihrer Äußerung in einem anderen Licht erscheint. Digitale Medienphänomene, wie sie beispielsweise in dem von der BzKJ herausgegebenen Gefährdungsatlas15 beschrieben werden, haben wesentlichen Einfluss auf die Meinungsbildungsprozesse in demokratischen Gesellschaften der Gegenwart und beeinflussen die Demokratiefähigkeit junger Menschen wie nie zuvor. Hierzu zählen z. B. Verschwörungserzählungen, Propaganda und Populismus, Fake News, Fake-Profile bzw. Fake-Accounts, Hatespeech, Onlinepranger/Doxing, Shitstorms und Trolling. Die Prüfstelle gibt in ihrer Spruchpraxis16 Antworten und Orientierung hierzu in einem sehr grundrechtssensiblen Bereich und ist vielleicht gefordert wie nie zuvor, ihre Spruchpraxis entlang der medialen Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen anzupassen.
 

Anmerkungen:

1 Vgl. hierzu vertiefend: Sozialethische Desorientierung und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, BzKJAKTUELL, 2/2023, S. 23 ff.

2 Urteil des 6. Senats vom 30.10.2019 – BVerwG 6 C 18.18

3 Vgl. hierzu vertiefend: Liesching, Sozialethische Desorientierung im Sinne der Jugendgefährdung gemäß § 18 Abs. 1 JuSchG, BPjMAKTUELL, 04/2018, S. 4

4 Siehe Liesching, Jugendschutzrecht, 6. Aufl., JuSchG § 18 Rn. 104, und HK-JuSchG/Dankert/Sümmermann § 18 Rn. 312 mit weiteren Nachweisen

5 OVG Münster (20. Senat), Urteil vom 04.09.2001 – 20 A 1161/99

6 BVerwG, Urteil vom 03.03.1987 – 1 C 39/84

7 Ebd.

8 BVerfGE 90, 1, 18

9 BVerfGE 90, 1, 19

10 Vgl. BVerfGE 90, 1, 20, 21

11 Vgl. hierzu vertiefend: Sozialethische Desorientierung und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, BzKJAKTUELL, 2/2023, S. 23 ff.

12 Vgl. hierzu vertiefend: OVG NRW, Beschluss vom 11.07.2024 – 19 B 169/24 in BzKJAKTUELL, 3/2024, S. 12 ff.

13 Etwa das Narrativ vom „Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“. Vgl. hierzu z. B. Entscheidungen der Prüfstelle Nr. 6.311 vom 06.08.2020; Nr. 6.233 vom 07.06.2018, bekannt gemacht im Bundesanzeiger AT vom 29.06.2018

14 BVerfGE 90, 1, 20

15 Brüggen, N./Dreyer, S./Gebel, C./Lauber, A./Materna, G./Müller, R./Schober, M./Stecher, S.: Gefährdungsatlas. Digitales Aufwachsen. Vom Kind aus denken. Zukunftssicher handeln (hrsg. von der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz). Bonn 20222

16 Vgl. Entscheidung Nr. 6.298 vom 09.01.2020 zu einem Onlinepranger