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„Über Leichen zu gehen, ist ein absolutes Tabu.“

Wertorientierungen im Trash-TV

Claudia Mikat im Gespräch mit Claudia Paganini, Stefan Kosak

Das sogenannte Trash-TV gilt vielen als Inbegriff eines Werteverfalls. Doch ist diese Annahme haltbar? Prof. Dr. Claudia Paganini und Stefan Kosak haben untersucht, welche moralischen Werte in diesen Formaten tatsächlich eine Rolle spielen. Danach lässt sich die pauschale These eines Werteverfalls im Trash-TV nicht aufrechterhalten. Vielmehr zeigt sich, dass moralische Werte – oft auch auf konfliktgeladene Weise – verhandelt werden. Dennoch gibt es problematische Elemente, insbesondere in Bezug auf Nachahmungswirkungen, Geschlechterrollen, exzessiven Konsum und die Darstellung von Gewalt oder Hate Speech. Entscheidend ist daher ein kritischer Blick – sowohl von den Produzent:innen als auch von den Zuschauer:innen.

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Sie haben Wertorientierungen im sogenannten Trash-TV untersucht. Wie definieren Sie Trash-TV?

Paganini: Die Bezeichnung „Trash-TV“ ist bereits wertend und nicht eindeutig definiert. Grundsätzlich ist Trash-TV eine spezifische Form des Reality-TV, die gezielt auf Eskalation und konfliktfördernde Interaktionen ausgerichtet ist. Ziel dieser Formate ist es in der Regel nicht, konstruktive Lösungsansätze zu entwickeln oder gemeinsame Ziele zu erreichen. Vielmehr stehen Konkurrenzsituationen, Konflikte und potenzielle Verluste im Mittelpunkt, wie es beispielsweise bei Formaten der Temptation-Reihe der Fall ist. Charakteristisch ist, dass durch das Setting eine bewusste Lenkung der Teilnehmenden erfolgt. Dies geschieht beispielsweise durch gezielte Provokationen oder durch die Schaffung belastender Ausgangssituationen, die bestimmte Verhaltensweisen begünstigen. Aber es handelt sich nicht um vollständig gescriptete Produktionen. Es existiert kein festes Drehbuch, das vorschreibt, wie sich die Teilnehmenden zu verhalten haben oder welche Konflikte entstehen sollen. Dennoch wird durch die Inszenierung eine Umgebung geschaffen, die Eskalationen fördert.

Kosak: Aus Senderperspektive zielen Trash-TV-Formate auf hohe Einschaltquoten und versprechen kommerziellen Erfolg durch kostengünstige Produktionsweisen – dadurch wurde der Begriff „Trash“ zusätzlich geprägt. Die Teilnehmenden verfolgen vermeintlich in erster Linie individuelle Interessen und sind auf persönlichen Vorteil bedacht.

Oft wird behauptet, Trash-TV sei Ausdruck eines allgemeinen Werteverfalls. Ist dieser Vorwurf berechtigt?

Paganini: Diese Behauptung wird häufig unreflektiert übernommen. Unsere Forschung zeigt jedoch, dass Werte nicht verschwinden, sondern intensiv ausgehandelt werden. Trash-TV ist kein normfreier Raum. Vielmehr spiegelt es gesellschaftliche Wertediskussionen wider. Skandale und Debatten, die solche Formate begleiten, sind Teil dieser Aushandlungsprozesse. Wenn ein Kandidat etwa durch extreme Beleidigungen auffällt und daraufhin ausgeschlossen wird, signalisiert das, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Trash-TV ist also eine Bühne, auf der moralische Fragen verhandelt werden. Dabei zeigt sich, dass bestimmte Normen weiterhin von Bedeutung sind – auch wenn sie drastisch ausgelebt oder gebrochen werden.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Formate ausgewählt? Warum lag Ihr Fokus auf den Reunion-Sendungen?

Kosak: Uns war es wichtig, authentische Wertüberzeugungen zu analysieren. Daher konzentrierten wir uns auf ungescriptete Produktionen, die unterschiedliche Perspektiven zulassen. Dating-Formate schlossen wir aus, da sie oft auf ein binäres Geschlechterschema beschränkt sind. Stattdessen untersuchten wir Formate mit heterogenen Gruppen wie Das Sommerhaus der Stars oder Temptation Island VIP.

Besonders aufschlussreich sind die Reunion-Sendungen am Ende einer Staffel. Hier reflektieren die Teilnehmenden das Geschehene und nehmen moralische Bewertungen vor. Werte wie Respekt, Loyalität und Ehrlichkeit werden hier besonders intensiv diskutiert. Oft wird deutlich, dass die Teilnehmenden sich ihrer moralischen Dilemmata bewusst sind und deshalb versuchen, ihr Verhalten zu rechtfertigen – nicht nur gegenüber den Mitspielenden, sondern auch gegenüber dem Publikum.
 

Sommerhaus der Stars, Reunion 2024 (RTL+, 28.11.2024)



Inwieweit sind die moralischen Werte der Teilnehmenden glaubwürdig? Besteht nicht die Gefahr, dass moralische Prinzipien nur zur Schau gestellt werden?

Paganini: Natürlich spielen Selbstdarstellung und strategisches Verhalten eine Rolle. Doch in emotionalen Konfliktsituationen tritt die bewusste Inszenierung in den Hintergrund. Die intensiven Reaktionen, die wir beobachtet haben, deuten darauf hin, dass den Teilnehmenden bestimmte Werte tatsächlich wichtig sind. Besonders wenn Kandidaten vermeiden wollen, als „Fake“ oder „illoyal“ wahrgenommen zu werden, zeigt sich, dass die Inhalte dieser Begriffe für sie eine zentrale Bedeutung haben.

In den Reunions versuchen viele Teilnehmende, ihr vorheriges Verhalten zu relativieren, ihre emotionalen Ausbrüche zu erklären oder sich vor der Kamera zu entschuldigen. Dies deutet darauf hin, dass ihre ursprünglichen Reaktionen nicht vollständig kalkuliert waren, sondern einen authentischen Kern besitzen.

In den Reunion-Sendungen begegnen sich die Teilnehmenden nach einer gewissen Distanz erneut. Wie reflektieren sie ihr Verhalten?

Paganini: Die Teilnehmenden sind auch in den Reunions noch sehr emotional. Viele kommen mit einer Vorgeschichte in diese Wiedersehenssendung. Die Ausstrahlung hat stattgefunden, viele empfinden Unzufriedenheit mit ihrer Darstellung oder Reaktionen aus dem Publikum. Social Media verstärkt diesen Effekt – Kritik oder Shitstorms führen dazu, dass sich Teilnehmende in der Reunion erklären oder ihr Image korrigieren möchten. Diese Episoden sind daher emotional stark aufgeladen. Die Inszenierung verstärkt dies bewusst, indem eskalierende Szenen erneut eingeblendet und gezielt stichelnde Fragen gestellt werden. Selbst wenn sich einige Teilnehmende inzwischen distanzierter oder reflektierter geben – möglicherweise nach Beratung oder sogar mit therapeutischer Unterstützung –, bleibt die Moderation beharrlich. Oft zeigen sich Spannungsfelder zwischen Eigenwahrnehmung und öffentlicher Bewertung, was die ethische Auseinandersetzung mit dem Handeln der Teilnehmenden verstärkt.

Welche moralischen Werte spielen in den Auseinandersetzungen eine Rolle?

Kosak: Authentizität ist ein zentraler Wert – oder in den Worten der Teilnehmenden: „Nicht fake sein“. Wer als unehrlich oder manipulativ gilt, gerät in Erklärungsnot. Auch Loyalität innerhalb einer Gruppe ist essenziell. Wer diesen Wert verletzt, muss sich vor den anderen rechtfertigen.

Paganini: Besonders spannend ist der Umgang mit Treue. In Temptation Island beispielsweise setzen Paare bewusst Grenzen. Wenn diese überschritten werden, kommt es zu starken emotionalen Reaktionen. Dies zeigt, dass Werte nicht nur theoretisch existieren, sondern auch in ihrer Anwendung verhandelt werden. Gleichzeitig eröffnet das Format die Möglichkeit, normative Grenzen zu hinterfragen – etwa, ob Treue tatsächlich absolute Grenzen haben sollte oder ob individuelle Definitionen von Beziehungsnormen legitim sind.

Auch hier noch einmal die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Wenn sich jemand loyal gegenüber seiner Gruppe verhält – geht es dann nicht doch nur darum, sich möglichst gut darzustellen und am Ende zu gewinnen?

Paganini: Wenn diesen Personen ihre Werte egal wären, dann würden sie auf Vorwürfe gelassen reagieren, das ist aber nicht der Fall. Die Teilnehmenden zeigen sehr emotionale Reaktionen auf Angriffe gegen ihre Integrität. Sie wollen nicht als unehrlich oder manipulativ wahrgenommen werden. Das ist ein klares Zeichen dafür, dass ihnen diese Werte wichtig sind. Das sieht man auch daran, dass Probleme explizit thematisiert wird. Wenn eine Entscheidung getroffen werden muss – zum Beispiel wenn Verbündete einander nominieren oder abwählen müssen –, dann wird das in der Regel ausführlich diskutiert. Und allein die Tatsache, dass es zum Thema gemacht wird, zeigt, dass die Beteiligten ein moralisches Dilemma empfinden. Sie wissen, dass sie etwas tun, das problematisch ist, sonst müssten sie sich nicht so stark rechtfertigen. Typische Formulierungen sind dann etwa: „Du weißt, du warst seit Tag eins meine Bezugsperson“ oder „Bruder, du weißt, es kann nur einen Gewinner geben“. Solche Sätze verdeutlichen, dass es den Beteiligten schwerfällt, die Loyalität aufzukündigen – oft sogar unter Tränen.

Kosak: Ich erinnere mich da ganz konkret an eine Situation im Sommerhaus der Stars, in der genau dieser Konflikt auftrat. Es mussten Paare rausgewählt werden, und es gab einige Teilnehmende, die besonders ehrgeizig waren und aus Sicht der anderen den Bogen überspannten. In der Reunion-Sendung wurden sie dann mit ihrem Verhalten konfrontiert. Solche sehr ehrgeizigen Paare argumentieren dann oft mit Sätzen wie: „Ihr seid ja naiv. Es ist doch völlig klar, dass es in diesem Format nur ums Gewinnen geht und dass dann alle Mittel recht sind.“ Das sorgt regelmäßig für vehementen Widerspruch. Die anderen entgegnen, dass es durchaus Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen. Das zeigt, dass der Wert der Loyalität nicht einfach als Strategie verwendet wird, sondern tatsächlich eine emotionale und moralische Bedeutung für die Teilnehmenden hat.

Warum ziehen diese Streitereien und moralischen Auseinandersetzungen so viele Zuschauer an?

Paganini: Die zentrale Frage „Wie sollen wir leben? Was ist richtig und was ist falsch?“ beschäftigt die Menschen seit jeher. Lange Zeit dachte man, dass mit dem Wegfall traditioneller religiöser Normen eine große individuelle Freiheit entstehen würde. Tatsächlich zeigt sich aber, dass Menschen weiterhin Orientierung suchen – teils in sehr eigenwilligen Konzepten oder Normsystemen. Trash-TV spiegelt gesellschaftliche Normverhandlungen wider. Durch Streit und Diskussionen wird sichtbar, welche Werte als gültig betrachtet werden – und es entsteht die Möglichkeit, Normen neu zu interpretieren.

Gibt es also aus ethischer Perspektive keine grundsätzlichen Bedenken gegen Formate des Trash-TV?

Paganini: Die Frage ist, welche Art von Bedenken gemeint sind und worauf sie sich gründen. Der Vorwurf eines völlig wertefreien Raums und einer Anything goes-Mentalität lässt sich nicht halten, aber es gibt problematische Aspekte. Hate Speech ist ein Thema, ebenso wie fragwürdige Geschlechterrollen, exzessiver Konsum oder die Verharmlosung von Alkoholkonsum. Teilnehmende gleiten von einer Party in die nächste, ohne erkennbare Konsequenzen. Besonders für junge Zuschauende besteht die Gefahr, dass negative Verhaltensweisen normalisiert werden.

Auch der Umgang mit Tieren im Dschungelcamp ist eine ethische Herausforderung. Aus tierethischer Perspektive ist es problematisch, wie Tiere dort inszeniert und behandelt werden. Sie erscheinen entweder als ekelerregende Kreaturen oder als bloße Objekte für Mutproben. Ebenso ist der inszenierte Lebensstil in vielen Formaten fragwürdig. In einer Zeit der Klimakrise werden ungebremster Konsum und ein luxuriöser Lebensstil dargestellt, ohne kritische Reflexion.

Mit Blick auf die Darstellung von Geschlechterrollen wird in Formaten wie Der Bachelor mit zweierlei Maß gemessen: Männliche Teilnehmer dürfen ungehindert sexuelle Kontakte eingehen, während Frauen, insbesondere die Bachelorette, dafür gesellschaftliche Sanktionen erfahren. Das reproduziert stereotype Geschlechterbilder und festigt alte Rollenklischees. Solche Darstellungen tragen nicht zur persönlichen Reifung oder einer differenzierten Selbstwahrnehmung bei.

Wie sehen Sie die Entwicklung des Genres in Zukunft? Gibt es Aspekte, die Sie weiter untersuchen möchten, oder Anregungen an die Macherinnen und Macher?

Paganini: In Trash-TV-Formaten spiegeln sich gesellschaftliche Dynamiken unmittelbarer wider. Sie können gesellschaftliche Prozesse nicht nur abbilden, sondern auch verdichten und zuspitzen. Dieser Brennglas-Effekt macht sie so interessant. Es wäre spannend, langfristig zu analysieren, wie sich Werthaltungen in diesen Formaten entwickeln. Ähnlich wie sich die Darstellung von Frauen in Kriminalfilmen gewandelt hat, könnte man untersuchen, wie Trash-TV sich in den kommenden Jahrzehnten verändert. Werden beispielsweise bestimmte stereotype Rollenbilder abgebaut oder verstärkt? Diese Entwicklungen lassen sich erst mit einer Langzeitanalyse wirklich fundiert bewerten.

Kosak: Ein wichtiger Punkt ist zudem der Umgang mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Viele bringen psychische Belastungen mit, und es wäre wünschenswert, wenn sie nach der Sendung nicht einfach sich selbst überlassen und die Sender mehr Verantwortung übernehmen würden. Einige Formate haben bereits eine psychologische Begleitung eingeführt. Das zeigt, dass ein Bewusstsein für das Thema existiert. Es wäre wünschenswert, wenn sich daraus eine konsequente Verantwortung auf Produktionsseite entwickeln würde – hier gibt es noch Verbesserungspotenzial.

PD Dr. Claudia Paganini ist Privatdozentin für Philosophie mit Schwerpunkt Medienethik an der Universität Innsbruck.

Stefan Kosak, M. A., ist Doktorand an der Hochschule für Philosophie München (HFPH) und als assoziierter Mitarbeiter für das Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft (zem::dg) tätig.

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).