Über stete Tropfen und die Summe ihrer Teile

Kumulative Beeinträchtigungspotenziale und regulatorische Antworten des Kinder- und Jugendmedienschutzes

Sünje Andresen, Stephan Dreyer

Die Flut an zunächst unbedenklich erscheinenden Einzelinhalten auf Onlineplattformen, die jedoch in ihrer kumulierten Wirkung das Potenzial zur Beeinträchtigung der Entwicklung haben, ist im jugendschutzrechtlichen Kontext bislang nur schwer zu fassen. Der Beitrag beleuchtet die Herausforderungen, die sich durch „Micro Content“ und die plattformübergreifende Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen für den Ordnungsrahmen im Kinder- und Jugendmedienschutz ergeben, und untersucht, ob und in welcher Weise eine Regulierung diesen neuen Realitäten gerecht werden kann.

Online seit 17.01.2025: https://mediendiskurs.online/beitrag/ueber-stete-tropfen-und-die-summe-ihrer-teile-beitrag-772/

 

 

Mikro-Inhalte und ihre kumulativen Beeinträchtigungspotenziale

Kinder und Jugendliche bewegen sich selbstverständlich in digitalen Umgebungen. Die Nutzung von algorithmisierten Angeboten wie Instagram, Snapchat oder TikTok gehört zu ihrem Alltag. Dass sie dabei auch mit entwicklungsbeeinträchtigenden oder gar jugendgefährdenden Inhalten in Kontakt kommen, ist Ausgangspunkt des derzeitigen Ordnungsrahmens im Kinder- und Jugendmedienschutz.

Daneben treffen sie aber auch auf Inhalte und Kommunikationen, die viel subtiler und für sich genommen harmlos sind. So werden in sozialen Medien etwa Schönheitsideale, Genderrollen oder diskriminierende Ansichten vermittelt: Content-Creator retuschieren ihr Aussehen, um ihre Körpersilhouette oder ihre Gesichtsformen schmaler zu machen und vermeintliche Schönheitsfehler zu korrigieren – schönheitsoptimierte Darstellungen, niedrigschwellig durch eingebaute Beautyfilter ermöglicht. Sogenannte Tradwives propagieren rückwärtsgewandte Genderrollen1; sie vermitteln, dass Frauen sich um den Haushalt, den Ehemann und die Kinder kümmern (bzw. müssen; zu Medien als Sozialisationsinstanz im Hinblick auf Geschlechterrollen s. Hale et al. 2022, S. 431). Und angeblich zu freizügig oder jedenfalls nicht der vermeintlichen Norm entsprechend gekleidete Frauen werden in den Fußgängerzonen und Einkaufszentren gefilmt und dann in „Slut Shaming“-Foren verurteilt. Auch Formen (politischer) Desinformation können zu diesem Phänomenbereich gehören, etwa wenn diskriminierende oder herabsetzende Darstellungen mit einem Augenzwinkern oder in erster Linie als Meinungsbeitrag gestaltet sind.

Solche Beiträge auf den bekannten Social-Media-Plattformen überschreiten dabei jeweils für sich genommen regelmäßig nicht die Grenze zu einer jugendschutzrechtlich relevanten Entwicklungsbeeinträchtigung. Dass eine einzelne dieser Darstellungen nachhaltig die Entwicklung von Minderjährigen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Individuen berührt, erscheint unwahrscheinlich. Doch rezipiert ein Kind bzw. eine jugendliche Person eine Vielzahl derartiger Darstellungen, ist nicht auszuschließen, dass eine größere Menge an Wiederholungen von strukturell ähnlichen Inhalten mit vergleichbaren Aussagen ein entwicklungsbezogenes Risiko birgt. Werden bestimmte Themen und Accounts von den Nutzenden aktiv für sich selbst zusammengestellt oder auf Basis interessenbasierter Empfehlungssysteme aggregiert und in einem personalisierten Feed zugänglich gemacht, können solche kurzen Darstellungen („Micro Content“) zunehmend in den Blickbereich des gesetzlichen Jugendmedienschutzes gelangen (vgl. Dreyer 2024).

Dort, wo der klassische Ordnungsrahmen im Kinder- und Jugendmedienschutz auf die Beeinträchtigungspotenziale von Einzelinhalten setzt – d. h. bei der Bewertung von einzelnen Sendungen, Filmen, Bildträgern oder Inhalten von Angeboten in Telemedien –, bleiben kumulative Effekte und plattformübergreifende Nutzungsphänomene systematisch unbeachtet. Mit der erfolgten oder geplanten Einführung von Normen auf nationaler Ebene (§ 24a JuSchG a. F., §§ 5 Abs. 1, 5c Abs. 3 JMStV‑E) und auf europarechtlicher Ebene (Art. 28 Abs. 1, 34, 35 DSA) wurde bereits ein erster Paradigmenwechsel vollzogen. Mit diesem Schritt werden jugendschutzrechtliche Perspektiven auf infrastrukturbezogene oder gar systemische Risikopotenziale oder Risiken für die persönliche Integrität erweitert. Durch derartige Normen wurden und werden die Schutzziele strukturell erweitert. So können auch Kommunikations- und Interaktionsrisiken berücksichtigt werden, die sich aus der Art des Angebots und den vorgehaltenen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten ergeben (vgl. Dreyer et al. 2022, S. 3). Kumulative Wirkungen von für sich genommenen irrelevanten Einzelinhalten können diese Erweiterungen aber auch nicht bzw. nur zum Teil einhegen (s. Abschnitt 2). Spätestens, wenn vergleichbare oder ähnlich wirkende Mikro-Inhalte über verschiedene Plattformen zugänglich gemacht und rezipiert werden, geraten rechtliche Vorgaben an Grenzen: Etwaige kumulative Wirkungen von Einzelinhalten, die junge Personen über ganz verschiedene Plattformdienste erreichen, entziehen sich dem derzeitigen Ansatz im Jugendmedienschutzrecht vollständig (s. Abschnitt 3).
 


Bewertungseinheiten und Plattformrisiken im Jugendmedienschutz

Dass kumulative Wirkungsrisiken vom derzeitigen Jugendschutzrahmen nur schwer zu berücksichtigen sind, liegt an der Fokussierung auf sogenannte Bewertungseinheiten und dem Zuschnitt von Verantwortlichkeiten entlang von Anbietern.

So spricht § 5 Abs. 1 Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) bei der Bewertung relevanter Darstellungen von „Angeboten, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu beeinträchtigen“. Damit gemeint ist – zieht man die Legaldefinition des Angebots in § 3 Abs. 1 Nr. 1 JMStV hinzu – „eine Sendung oder der Inhalt von Telemedien“. Im Rundfunk, d. h. bei linearen audiovisuellen Mediendiensten entlang eines Sendeplans, ist die Einheit für die Bewertung eines möglichen entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalts die „Sendung“. Der Begriff meint eine in sich geschlossene und sinnhaft zusammenhängende Abfolge von Bewegtbilddarstellungen. Teilweise wird davon ausgegangen, dass der Sendungsbegriff noch enger gezogen werden kann, etwa mit Blick auf Magazinformate oder Boulevardsendungen, die aus mehreren kurzen Einzelbeiträgen bestehen, die in der Regel thematisch nicht unmittelbar zusammenhängen, sondern durch Anmoderationen unterbrochen sind (vgl. KJM 2024, Punkt A 2.1 der Kriterien für die Aufsicht im Rundfunk und in den Telemedien).

Bei den angesprochenen Darstellungen auf Social-Media- oder Video-Sharing-Plattformen handelt es sich allerdings nicht um lineare Inhalte, sondern um einzelne telemediale Darstellungen, die den Nutzenden in Form von individuellen elektronischen Einzelabrufen zugänglich gemacht werden. Im Bereich der Telemedienangebote beschränkt sich der JMStV auf „Inhalte von Telemedien“, sodass hier keine gesetzliche Konkretisierung existiert, die den Umfang des jugendschutzrechtlich relevanten Angebots beschreibt und begrenzt. Angesichts der jugendschutzrechtlichen Verantwortlichkeit des „Anbieters“ (vgl. § 5 Abs. 1 JMStV) erscheint es zunächst geboten, die in eine Bewertung einzubeziehenden Inhalte auf solche eines Anbieters im juristischen Sinn zu begrenzen.

Die Prüfkriterien der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) bleiben darüber hinaus aber offen, was den Umfang der Bewertung angeht: „Die Bewertungseinheit eines Angebotes in Telemedien kann die gesamte Internet-Präsenz (z. B. Website, Blog, Social-Media-Präsenz oder Online-Spiel), aber auch einzelne Elemente (z. B. Werbeformen, interaktive Funktionen, Kaufmöglichkeiten, Kommentare) mit deren einzelnen Gestaltungsmerkmalen (z. B. Bild, Text, Animation, Video, Ton, Wort, Musik) sein“ (KJM 2024, Punkt A 2.2).

Auf Basis dieses Ansatzes, der in der rechtswissenschaftlichen Literatur breit geteilt wird, können bereits einzelne Inhalte eine Bewertungseinheit im Rahmen des § 5 Abs. 1 JMStV darstellen. Es sind aber auch Konstellationen denkbar, in denen mehrere telemediale Inhalte zusammen betrachtet und bewertet werden. Dies kann etwa bei Zusammenstellungen oder Auflistungen von Einzelinhalten erfolgen, oder beim Vorhalten von kategorisierten und katalogartigen Auswahlmöglichkeiten. Sogar die Gesamtbewertung aller unter einer URL, unter einer Second-Level-Domain oder unter einem Social-Media-Profil bzw. ‑Account („Social-Media-Präsenz“) zugänglich gemachten Darstellungen erscheint nach diesem Verständnis möglich. Die Grenze der Bewertungseinheit aber ist dort erreicht, wo die Inhalte unterschiedlicher Anbieter aufeinandertreffen und gemeinsam durch einen Dienst zugänglich gemacht werden, der sich diese Inhalte nicht zu eigen macht.
 

Haftungsprivilegien der Plattformen und Verantwortlichkeit für kumulative Wirkungen

Diese Konstellationen sind prototypisch für Phänomene kumulativer Wirkungen: Die Betreiber der Onlineplattformen sind für die Einzelinhalte, die Nutzende auf den Plattformen einstellen, bis zur Kenntnisnahme nicht verantwortlich – auch nicht jugendschutzrechtlich (vgl. Art. 6 Abs. 1 DSA). Die einzelnen Darstellungen in einem personalisierten Feed sind vielmehr den jeweiligen Accountinhabern zuzuschreiben, die sie eingestellt oder weiterverbreitet haben. Der Feed stellt sich so als eine Sammlung von Einzelinhalten verschiedener Anbieter dar, die gerade nicht gemeinsam als Bewertungseinheit im Sinne des § 5 Abs. 1 JMStV hinsichtlich ihrer Wirkungen betrachtet werden können. Ein Social-Media-Profil mit allen von dem jeweiligen Profilbetreiber bzw. der Profilbetreiberin eingestellten Einzelposts, die etwa ungesunde Schönheitsstandards propagieren, kann als eine Bewertungseinheit im Sinne von § 5 Abs. 1 JMStV angesehen werden. Inhalte unterschiedlicher Profile und Accountinhaber, die in keinem inneren Sinnzusammenhang zueinander stehen2, gelten dagegen nicht als eine Bewertungseinheit und müssen ausschließlich als einzelne Inhalte hinsichtlich ihrer Entwicklungsbeeinträchtigung bewertet werden.
 


Der Feed stellt sich so als eine Sammlung von Einzelinhalten verschiedener Anbieter dar, die gerade nicht gemeinsam als Bewertungseinheit im Sinne des § 5 Abs. 1 JMStV hinsichtlich ihrer Wirkungen betrachtet werden können.“



Der neuere Ordnungsrahmen im Jugendmedienschutz (insb. Art. 28 Abs. 1,  34, 35 DSA, s. oben) reagiert bereits auf die grundlegende Problematik der Haftungsprivilegierung von Plattformanbietern im Angesicht plattformbezogener, infrastruktureller Risiken.3 Nach der geltenden Vorgabe aus Art. 28 Abs. 1 DSA müssen Anbieter von Onlineplattformen, die für Minderjährige zugänglich sind, geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen ergreifen, „um für ein hohes Maß an Privatsphäre, Sicherheit und Schutz von Minderjährigen innerhalb ihres Dienstes zu sorgen“. Die Vorschrift nimmt als Maßstab insoweit nicht mehr einzelne Inhalte als Bewertungseinheit in den Blick, sondern die gesamte Plattform mit allen Inhalten, Kommunikationen und Funktionalitäten. Als Adressat der Regelung muss sich der Anbieter einer Onlineplattform mit allen potenziellen Konsequenzen und Wirkungen seines Dienstes auseinandersetzen, die sich negativ auf das geforderte „hohe Maß“ an Privatheit, Sicherheit und Schutz auswirken können. Dazu können grundsätzlich auch kumulative Effekte strukturell vergleichbarer Einzelinhalte auf der Plattform gehören.

Um zu dieser Einsicht zu gelangen, muss allerdings die Frage bejaht werden, ob Art. 28 Abs. 1 DSA – wenn er überhaupt auf inhaltebezogene Risikopotenziale Anwendung findet4 – auch rechtlich zulässige Inhalte in eine Risikoanalyse einbeziehen kann.5 Oder anders gesagt: Umfasst Art. 28 Abs. 1 DSA auch Risikopotenziale, die sich erst aus der Zusammenschau von an sich nicht beeinträchtigenden Inhalten ergeben?

Die Perspektive der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (BzKJ), die mit ihrer Stelle zur Durchsetzung von Kinderrechten in digitalen Diensten (KidD) für die Umsetzung der Vorschrift zuständig ist, unterscheidet in ihren Prüfkriterien zwischen Konfrontations-, Interaktions- und Nutzungsrisiken (Prüfkriterien der KidD gemäß § 24a Jugendschutzgesetz, vgl. KidD 2024). Bei kumulativen Risiken ergeben sich etwaige Beeinträchtigungen wie gezeigt nicht aus den Einzelinhalten, sodass es sich nicht um klassische Konfrontationsrisiken handelt. Vielmehr wird davon auszugehen sein, dass kumulative Risiken ihren Ursprung in der Häufigkeit ihrer Rezeption über Zeit und damit in der plattformspezifischen Aggregation und Distribution finden. Damit wären sie den Nutzungsrisiken zuzurechnen sein. So nennen die KidD-Prüfkriterien als Beispiele für Nutzungsrisiken unter anderem auch „algorithmisierte Empfehlungssysteme“, „Empfehlungsschleifen“ sowie „Profilbildung und ‑auswertung“. Die spezifischen Risikopotenziale gem. Art. 28 Abs. 1 DSA ergeben sich bei kumulativen inhaltlichen Wirkungen spezifisch aus der Auswertung von Nutzendeninteressen und der individuellen Zusammenstellung von Empfehlungen. Für diese Wirkungen ist die jeweilige Plattform in jedem Fall (mit‑)verantwortlich. Ob und inwieweit die Haftungsprivilegierung aus Art. 6 Abs. 1 DSA den Plattformanbieter bei Auswirkungen schützt, die sich aus der Kombination von nutzergenerierten Inhalten und der anbietereigenen Aggregation ergeben, ist aber mangels DSA-Spruchpraxis nicht abschließend zu beantworten.

Wenn man davon ausgeht, dass Plattformanbieter kumulative Risiken im Rahmen von Art. 28 Abs. 1, 34, 35 DSA zu berücksichtigen haben, dann obliegt es den Anbietern, wirksame und angemessene Maßnahmen zu implementieren, die (wieder) ein hohes Maß an Privatheit, Sicherheit und Schutz gewährleisten. Dabei kommen den Anbietern regelmäßig Umsetzungsspielräume zu, d. h., sie können unter den möglichen Maßnahmen infrage kommende auswählen oder mehrere kombinieren. Infrage käme hier etwa eine Anpassung der Empfehlungslogiken für jüngere Nutzende, um die stetige Wiederholung von kumulativ wirkenden, vergleichbaren Einzelinhalten zu durchbrechen. Alternativ könnten bestimmte Profile grundsätzlich nur älteren Nutzenden zugänglich gemacht werden, vorausgesetzt, dass der Plattformanbieter Kenntnis von dem jeweiligen Alter eines Nutzers bzw. einer Nutzerin hat. Oder der Anbieter implementiert – wenn er dies denn möchte – rigorose Formen von Content-Moderation auf Basis vergleichsweise restriktiver Nutzungsbedingungen.
 

Grenzen der Adressierbarkeit von plattformübergreifenden Risiken im Jugendmedienschutz

Die Grenze derzeitiger rechtlicher Vorgaben ist jedenfalls dort erreicht, wo sich die beschriebenen kumulativen Risiken durch die Nutzung mehrerer Dienste ergeben. Dass insbesondere Jugendliche in ihrer Mediendiät parallel mehrere Plattformen nutzen, ist bekannt: So zeigt die JIM-Studie 2024, dass viele der Befragten täglich Instagram, TikTok und Snapchat nutzen (vgl. mfps 2024, S. 34). Solche plattformübergreifenden Aspekte der Mediennutzung, bei denen junge Nutzende mit vergleichbaren Einzelinhalten, Interaktionen oder Nutzungsfeatures auf verschiedenen Angeboten in Kontakt kommen, sind weder durch Vorschriften fassbar, die auf einzelne Inhalte und Anbieter fokussieren, noch durch solche, die auf einzelne Plattformen bzw. Plattformanbieter gerichtet sind.

So können etwa Formen digitalen Catcallings oder gleichgerichtete Diskriminierungen auf unterschiedlichen Plattformen ähnliche Wirkungen haben wie vergleichbare Inhalte auf einer einzelnen Plattform – ohne den Anbietern den Vorwurf kumulativer Medienwirkungen machen zu können. Auch Formen exzessiver Mediennutzung, die sich erst durch die Zusammenschau der Nutzung unterschiedlicher Dienste ergeben, sind rechtlich schwer zu fassen.
 

Ausblick: Ansätze für einen Jugendmedienschutz, der kumulative Risiken berücksichtigen kann

Der Überblick hat gezeigt, dass kumulative Medienwirkungen, die sich aus einer Vielzahl für sich betrachtet rechtlich kaum relevanter Einzelinhalte ergeben, als rechtliche Herausforderung erscheinen. Im Zentrum steht dabei die Schwierigkeit der Zuschreibbarkeit einer rechtlichen Verantwortung für distribuierte Risikopotenziale. Möglichkeiten einer Zuschreibung erfolgen bei Plattformen vor allem über Art. 28 Abs 1 DSA, bei einzelnen Anbietern mit beeinträchtigenden Gesamtangeboten über § 5 JMStV. Für Einzelanbieter oder Plattformen, die nur zusammen mit anderen Anbietern kumulative Risikopotenziale aufweisen, sieht der derzeitige Ordnungsrahmen keine Regelungen vor.
 


Den Gesetzgeber trifft im verfassungsrechtlichen Jugendmedienschutz in erster Linie die Pflicht zur Minimierung medieninduzierter Entwicklungsrisiken.“



Mit Blick auf die Ziele eines verfassungsrechtlich verbürgten und kinderrechtlich abgesicherten Jugendmedienschutzes erscheint dieser Umstand misslich. Allerdings treten dort Aspekte der allgemeinen Grenzen des Rechts auf, wo es um die rechtliche Absicherung von diffundierten Beeinträchtigungen von Rechtspositionen geht: Rechtliche Adressaten und die Umstände der gesetzlich relevanten Handlungen müssen bestimmt sein (Bestimmtheitsgebot). Eingriffe in die Rechte der Regelungsadressaten müssen zudem verhältnismäßig sein, d. h., die staatliche Maßnahme muss geeignet, erforderlich und zumutbar sein. Insbesondere mit Blick auf die Erforderlichkeit und die Zumutbarkeit – oder: die sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – ergeben sich hier strukturelle Grenzen der Regulierbarkeit.

So erscheint es mit Blick auf die einzelne Plattform oder den Anbieter eines Einzelinhalts gerade nicht erforderlich, diesen Anbieter in seinen Rechten zu begrenzen. Insbesondere ist hier nicht ermittelbar, inwieweit das Angebot des Einzelnen als eine Conditio sine qua non der Beeinträchtigung erscheint, oder anders: Es ist ungewiss, welchen Beitrag das einzelne Angebot zu der Verwirklichung eines Wirkungsrisikos beiträgt, und inwieweit die regulatorische Intervention für die Gefahrenabwehr erforderlich ist.

Auch bei der Zumutbarkeit sehen Gerichte vor allem bei komplexen Wirkungsvermutungen das Erfordernis eines adäquaten Kausalzusammenhangs (vgl. im Klimaschutz LG Essen, Urteil vom 15.12.2016 - 2 O 285/15) zwischen dem Regulierten und den grundrechtlich relevanten Auswirkungen. Nun sind Medienwirkungen für sich genommen kompliziert, kausale Zusammenhänge zwischen einzelnen Inhalten und Entwicklungsbeeinträchtigungen methodisch nur im Einzelfall nachzuweisen, und Wirkungsforschungserkenntnisse rekurrieren notwendigerweise vor allem auf Korrelationen. Diese jedenfalls nicht allein kausale Zuschreibung von Inhalten zu Wirkungen führt dazu, dass der sonst sehr weite Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers schrumpft. Er kann gerade nicht in die Grundrechte jedes theoretischen Mitverursachers eingreifen, wenn der Grad der Mitverursachung unklar und die Frage des Obs der Mitverursachung grundsätzlich bestreitbar ist. Entsprechend ungewisse und nicht konkret zuschreibbare Risikopotenziale werden in der Rechtsprechung entsprechend als „allgemeines Lebensrisiko“ bezeichnet.6 Hier sind dem Staat die regulatorischen Hände gebunden, wenn sich die kausalen Zusammenhänge nicht weiter verdichten.

Den Gesetzgeber trifft im verfassungsrechtlichen Jugendmedienschutz in erster Linie die Pflicht zur Minimierung medieninduzierter Entwicklungsrisiken. Er muss sich angesichts der beschränkten Möglichkeiten der Anbieterregulierung bei kumulativen Risiken auf andere Steuerungsformen konzentrieren. Solange eine unmittelbare gesetzliche Inpflichtnahme von Einzelanbietern und Plattformen mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit nicht infrage kommt, müssen alternative Maßnahmen in Betracht gezogen werden, die kumulative Entwicklungsrisiken verringern helfen.

Dazu gehören etwa die Unterstützung bei der Schaffung von Selbstregulierungsmaßnahmen der Anbieter wie Kodizes oder Selbstverpflichtungen; die für die Umsetzung von Art. 28 Abs. 1 DSA vorgesehenen dialogischen Verfahren mit den Anbietern können dabei ein Einfallstor für die Awareness kumulativer Wirkungen auf Anbieterseite sein. Auch die Förderung des kompetenten Medienumgangs aufseiten von Kindern und ihren Erziehungsberechtigten ist eine vielversprechende Maßnahme. Die beobachtbare Dissonanz zwischen inhalts- bzw. angebotsbezogener Betrachtung des derzeitigen Ordnungsrahmens im Jugendmedienschutz und inhalts- bzw. angebotsübergreifenden Beeinträchtigungspotenzialen wird sich dadurch nicht verringern.
 

Anmerkungen:

1.) Ausführlich zu Tradwives und ihrer Rolle als (rechte) Influencerinnen siehe: Sykes, S./Hopner, V.: Tradwives: Right-Wing Social Media Influencers. In: Journal of Contemporary Ethnography, 4/2024 (53), S. 453–487.

2.) Ein innerer Sinnzusammenhang von Inhalten verschiedener Profilinhabern kann auch nicht dadurch entstehen, dass Einzelinhalte mit dem gleichen Hashtag (z. B. #fitspiration) gekennzeichnet sind. Dagegen kann von einem Zusammenhang gesprochen werden, wo ein Beitrag auf einen anderen Inhalt Bezug nimmt oder diesen kommentiert oder Teile davon mit übernimmt (z. B. bei sog. stitches).

3.) § 5c Abs. 1 JMStV als Umsetzung von Art. 28b AVMD-Richtlinie gehört, genau betrachtet, nicht zu diesem Kanon. Zwar sieht die Vorschrift ebenfalls plattformbezogene Gegenmaßnahmen als Anbieterpflicht vor, knüpft diese Maßnahmen aber an die Jugendschutzrelevanz von einzelnen Angeboten auf der Plattform („angemessene Maßnahmen, um Kinder und Jugendliche vor entwicklungsbeeinträchtigenden Angeboten zu schützen“).

4.) Diese Grundfrage ergibt sich aus der Feststellung von Art. 6 Abs. 1 DSA, wonach Plattformanbieter bis zur Kenntnis gerade nicht für nutzergenerierte Inhalte verantwortlich sind. Dann aber könnte Art. 28 Abs. 1 DSA auch nur solche Maßnahmen umfassen, die ein Plattformanbieter nach Kenntniserlangung durchführt. Ansonsten erschiene Art. 28 Abs. 1 DSA als Umgehung des bestehenden Haftungsprivilegs von Plattformen. Die rechtswissenschaftliche Literatur geht vor diesem Hintergrund (wohl) davon aus, dass Art. 28 Abs. 1 DSA jedenfalls auch Risikopotenziale umfasst, die sich aus unkonkretisierten Inhalten ergeben können, welche sich auf der Plattform finden könnten.

5.) Dafür spricht, dass der DSA an verschiedenen Stellen Vorgaben macht, die sich auf rechtlich zulässige Inhalte beziehen, vgl. Art. 14, 26, 27 DSA.

6.) Vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2010, Az. 1 BvR 374/09, wonach etwa auch die sozio-ökonomischen Verhältnisse im Elternhaus zum allgemeinen Lebensrisiko von Kindern gehören.
 

Literatur:

Dreyer S./Andresen S./Wysocki N.: „The best is yet to come?“ Folgen der sich wandelnden Regulierungsansätze im Jugendmedienschutz. In: JMS-Report, 6/2022/45, S. 2–5

Dreyer, S.: The next big thing: All the small things. Warum ausgerechnet im Kleinen die nächsten großen Herausforderungen für den Jugendmedienschutz stecken. In: mediendiskurs 2/2024 (Ausgabe 108), S. 48–53

Hale M.-L./Holl, E./Melzer, A.: Geschlechterbezogene Rollen und Stereotype und ihre Auswirkungen auf das Leben Jugendlicher und junger Erwachsener. In: A. Heinen/R. Samuel/C. Vögele/H. Willems: Wohlbefinden und Gesundheit im Jugendalter. Theoretische Perspektiven, empirische Befunde und Praxisansätze. Wiesbaden 2022, S. 425–445

mpfs: JIM-Studie 2024. In: mpfs.de, 2024. Abrufbar unter: https://mpfs.de (letzter Zugriff: 10.01.2025)

KidD: Kriterien zur Überprüfung der Angemessenheit und Wirksamkeit anbieterseitiger Vorsorgemaßnahmen nach § 24a Jugendschutzgesetz. In: kidd.bund.de, Mai 2024. Abrufbar unter: www.kidd.bund.de (letzter Zugriff: 10.01.2025)

KJM: Kriterien für die Aufsicht im Rundfunk und in den Telemedien. In: kjm-kriterien.de, 22.03.2024. Abrufbar unter: www.kjm-kriterien.de (letzter Zugriff: 10.01.2025)

Sünje Andresen studierte Rechtswissenschaften an der Universität Hamburg. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI) und im Projekt „Sicherheit für Kinder in der digitalen Welt – Regulierung verbessern, Akteure vernetzen, Kinderrechte umsetzen“ tätig.

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut (HBI).