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Überall Animes

Totoro, Demon Slayer und Co. erobern die Welt

Johannes Wolters

Johannes Wolters ist freier Journalist, Blogger und Interviewer, spezialisiert auf den Bereich „Animation und VFX“. Er ist Mitbegründer der INDAC-Initiative, eines Verbundes deutscher Animationsschaffender.

Das Medium Animation ist ein weites Feld, aber grundsätzlich ist es einfach so, dass aufmerksame Menschen schon vor langer Zeit eine Entdeckung machten: Blättert man eine Reihe ähnlicher Bilder rasch hintereinander durch, erwachen die gezeichneten Objekte auf diesen Bildern scheinbar zum Leben. Das wurde über mehrere Jahrhunderte tradiert und erreichte Ende des 19. Jahrhunderts schließlich die Erfindung des Films. Animes sind die japanische Version dieser Erfindung, also Animationen, die von der japanischen visuellen Kultur geprägt sind und damit einem Stil folgen, der sich deutlich von der westlichen Animation absetzt.

Printausgabe mediendiskurs: 29. Jg., 1/2025 (Ausgabe 111), S. 59-63

Vollständiger Beitrag als:

Die Welt der Animation hat in den vergangenen Dekaden eine fulminante künstlerische Entwicklung und einen bemerkenswerten finanziellen Boom erlebt. Während westliche Studios auf eine gut hundertjährige Tradition zurückblicken können, ist der japanische Trickfilm erst in den frühen 1960er-Jahren ins Rampenlicht des Publikums getreten und hat seitdem unaufhörlich an Popularität, Einfluss und Charme gewonnen – weltweit. Die japanische Ausdrucksform des Trickfilms hat sich dabei von einer nationalen Spielart zu einem globalen Massenexport und nunmehr in zweiter, dritter Generation zu einem internationalen visuellen Stil entwickelt, der sich längst nicht mehr auf den asiatischen Raum beschränkt.
 

Was macht das japanische visuelle Erzählen so attraktiv?

„Anime“ als Begriff bezeichnet in der japanischen Sprache nichts anderes als „Animation“. Also etwas, was in Deutschland früher als Trickfilm bezeichnet wurde. Dabei bedeutet die Verwendung des Begriffs „Animation“, ein Ding mit einer Seele (lat. „anima“) zu versehen, etwas zum Leben zu erwecken, etwas Unbelebtes zu animieren. Hier also, indem man mittels einer Reihe von Zeichnungen, Puppen, Silhouetten-Figuren oder Computerbildern Charaktere und Geschichten zum scheinbaren Leben erweckt. „Animation im weitesten Sinne erlaubt eine fundamentale, wahrscheinlich einzigartige Art und Weise, Träume zu repräsentieren – diese zu übersetzen, für ein paar Minuten jedenfalls, in etwas überzeugend Reales und Greifbares“, schreibt Animationshistoriker Luca Fava. „Es ist ein Arbeitsfeld, dessen einzige Limitation in seiner technischen Natur liegt. Und es ist zu betonen, dass authentische Animation nicht in der bloßen Darstellung dieser technischen Perfektion liegt. Ein animierter Charakter, eine Figur, egal in welcher Art sie gezeichnet wurde, kann nicht leben ohne eine Seele.“ (Fava, zitiert nach Cavallaro 2007, S. 5)
 


Animation im weitesten Sinne erlaubt eine fundamentale, wahrscheinlich einzigartige Art und Weise, Träume zu repräsentieren – diese zu übersetzen, für ein paar Minuten jedenfalls, in etwas überzeugend Reales und Greifbares.“ (Luca Fava)


 

Anime & Manga – Trickfilm und Comic untrennbar verbunden

Japan borgte sich den Begriff „Animation“ als Lehnwort Mitte des 20. Jahrhunderts für seine beginnende Trickfilmindustrie aus. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass die Animes untrennbar verbunden sind mit der japanischen Comickultur, der Welt der Mangas (jap. für „Bildergeschichte“, „Comics“). Beide, Mangas wie Animes, speisen sich bei ihrer Geburt Mitte des 20. Jahrhunderts aus einer langen nationalen, kulturell tief verankerten Bild-Tradition, aus den Einflüssen und Vorbildern des internationalen Film- und Animationsschaffens sowie den aktuellen politischen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und dessen verheerenden Folgen und Umwälzungen für das Land. Die Kultur der Bildergeschichten, des visuellen Erzählens begann bereits im 12. Jahrhundert mit den japanischen Schriftrollen, die sich an Mönche und die gebildete Oberschicht richteten und eine reiche, allseits akzeptierte Bildersprache kreierten. Der Begriff „Manga“, der sich aus dieser Tradition bildete, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von Katsushika Hokusai geprägt, dem im Westen wohl bekanntesten japanischen Künstler, der 1814 den ersten Band seiner „skurrilen Bilder“, „Mangas“ veröffentlichte. Mangas sind in der japanischen Öffentlichkeit nicht nur kulturell akzeptiert, sie sind Mainstream. Themen und Genres sind ebenso vielfältig wie die später von ihnen beeinflussten Animes, reichen von der Umsetzung klassischer Literatur über Alltagsbeobachtungen bis hin zu mäandernden Science-Fiction-Erzählungen. Die Klassifizierung oder Einordnung von Mangas mit ihren Myriaden von Themen und Erzählungen ist kaum möglich und ein wesentlicher Aspekt für die unbekümmerte Handhabung des Storytellings in den daraus entstehenden Trickfilmumsetzungen. Die Manga-Adaption von Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel von Osamu Tezuka hat selbst in den wirtschaftlich desolaten Nachkriegsjahren eine wöchentliche Auflage von 400.000 Heften erreicht.
 


Limitierte Animation und attraktive Designs

Die ersten japanischen Animationsfilme entstanden schon 1917, der erste abendfüllende Spielfilm 1941 – die Form der Animes, die später Japan und den Westen erobern werden, bildete sich in den Produktionen der frühen 1960er-Jahre heraus, entworfen von den Tōei Studios und vor allem von dem schon erwähnten Animationspionier Osamu Tezuka und seinem Studio Mushi. Die überbordend langen Erzählungen der Manga-Serien, die selbst Charles Dickens Anerkennung abgewonnen hätten, boten reichhaltigen Vorlagenstoff für Serien, der Sprung von einem Manga-Autor zu einem Anime-Regisseur sollte deswegen in der japanischen Trickfilmindustrie die Regel werden. Und „Serie“ bedeutet Fernsehen, weswegen Animes der ersten Generation ausschließlich auf diesen Bereich festgelegt waren.

Fernsehen in Japan begann 1953, der Sprung zum beherrschenden Massenmedium erfolgte Anfang der 1960er-Jahre: 1960 lag der Anteil an Haushalten mit Fernseher noch bei rund 50 %, vier Jahre später ist dieser Anteil bereits auf 95 % gestiegen. Das schaffte einen ungeheuren Bedarf an Content für die einzelnen konkurrierenden Programmanbieter in Japan. Die Anforderung, jede Woche eine halbstündige Serienfolge zu generieren, setzte Ansprüche an die sich langsam entwickelnde Animationsindustrie Japans und Pioniere wie Tezuka definierten den sich herausbildenden Stil nach diesen Vorgaben. Die verschwenderische klassische Animation à la Disneys Schneewittchen war zu teuer und viel zu langwierig, außerdem fehlten entsprechend geschulte Animatoren. Die Lösung: die sogenannte „limitierte Animation“, die auch schon bei amerikanischen Produktionen angewandt wurde – lange Standbilder, Dialogpassagen, die nur Mundbewegungen erforderten, dauernde Wiederverwendung bestimmter aufwendiger Bewegungsabläufe (Re-Use). Doch das Design der Charaktere nach Vorbild Disneys & Co. sowie Elemente des amerikanischen Storytellings konnten beibehalten werden. Der visuelle Appeal und die Attraktivität der Figuren sollten, mussten die fehlende Bewegung wettmachen, gleichzeitig traf diese statische Darstellung den Nerv, die Erwartungshaltung des japanischen Publikums, das durch die Mangas entsprechend vorgebildet war. Die Pioniere um Osamu Tezuka machten diese scheinbaren Limitierungen zur Stärke der neuen Form – gerade diese „dynamische Immobilität“, die die eigentliche Bewegung in die Fantasie der Zuschauer verlegte, sollte zu einem hervorstechenden Merkmal der Animes werden.
 

Astro Boy erobert die Wohnzimmer

1963 hatte dann Osamu Tezukas Astro Boy seinen Auftritt im japanischen Fernsehen, eine Science-Fiction- bzw. Pinocchio-Variation, basierend auf Tezukas Manga von 1951. Die Serie markierte den Beginn des Anime und begeisterte nicht nur das japanische, sondern auch das amerikanische Publikum. Das Character Design sollte die kommenden Mangas und Animes bis heute nachhaltig beeinflussen. Tezuka übernahm, wie er in seiner Autobiografie freimütig erläutert hat, die Bewegungen von Disneys Mickey Mouse, die großen Augen von Max Fleischers Figur Betty Boop, sie nehmen mindestens ein Viertel, manchmal bis zu einem Drittel des gesamten Kopfes ein. Um die Empathie zu der Figur beim Zuschauer zu erhöhen, benutzte Tezuka das Kindchenschema.
 

Trailer Astro Boy (1963) (Nozomi Entertainment, 14.02.2008)



Das Character Design übernimmt bis heute nicht nur Aufgaben des Storytellings. Gut bedeutet schön, böse bedeutet hässlich – das ist nicht neu. Dies lässt die Figuren leichter lesen, aber vor allem geht es um die Etablierung von Empathie. Zuschauer sollen sich mit den Figuren identifizieren, Gefühle für sie entwickeln, sich auf ihre Seite schlagen – und die bösen Gegenspieler sollen gleichzeitig verachtet und abgelehnt werden. Um dies zu verstärken, wurde schon damals die Entwicklung eines Schönheitsideals im Anime-Stil in Gang gesetzt, das bis heute Diskussionen entfacht. Gleichzeitig erklärt das Spiel mit der Empathie die Reaktionen der Fans und Cosplayer weltweit.

Das spezielle Design der jugendlichen Heldinnen und Helden stützt sich dabei auf die Tradition des japanischen Theaters: Beim Kabuki Theater werden alle Figuren, weiblich wie männlich, von Männern dargestellt, während in den Takarazuka-Aufführungen alle Rollen von Frauen übernommen werden. Regisseur Osamu Tezuka, durch letzteres geprägt, bereitete mit seinen Figuren-Designs den Boden für die Androgynität vieler Figuren, für die femininen Züge vieler männlicher Figuren sowie für die in der Animation erlaubten und möglichen Überzeichnungen weiblicher wie männlicher Proportionen. Gender Fluidity wurde, wie schon zuvor in den Mangas, ein beliebtes Thema – und ist es bis heute. Alles, was hilft, die Geschichte komplex zu erzählen, alles, was Attraktivität und Empathie für die Figuren erhöht, wird im Anime willkommen geheißen.

Während sich etwa in den Disney-Kurzfilmen der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre noch deutliche Bezüge auf Erzählformen des amerikanischen Zeitungs-Comicstrips finden lassen, legten die amerikanischen Trickfilmer später alles daran, eine unabhängige visuelle Grammatik aufzubauen. Animes kennen diese Bestrebungen aufgrund der engen Verbundenheit mit den Mangas nicht – im Gegenteil: Hier springen die Figuren in vielen Serien und Spielfilmen munter durch eine Vielzahl von grafischen Stilen. Erlaubt ist alles, was der Geschichte nützt.

Der Aufstieg des Anime zum weltweiten Phänomen ist rasch erzählt. Die Anime-Serien Tezukas trafen international auf eine klaffende Marktlücke, die es zu füllen galt. Die Serie Astro Boy wurde in die USA exportiert, die synchronisierte Version glättete kulturelle Unterschiede, der ungeheure Erfolg bei den jugendlichen Zuschauern vervielfachte die Nachfrage nach immer mehr und immer neuen Serien. Und über die USA eroberten die Animes den Rest der Welt.
 

Culture Clash: Speed Racer trifft auf deutsche Eltern

Deutschlands erste Berührung mit Animes fand am 18. November 1971 im Programm der ARD statt. SDR-Redakteurin Elisabeth Schwarz hatte nach genauer Vorauswahl ganze acht Folgen der Serie Speed Racer für die nachmittägliche Kinderstunde eingekauft und entsprechend synchronisiert. Während Kinder fasziniert vor dem Fernseher saßen und ihre erste actiongetriebene Zeichentrickserie erlebten, waren die Reaktionen der Erwachsenen bizarr – ein „Spiegel“-Artikel von 1972 fasste die Reaktionen zusammen. Demnach urteilte der Pressedienst „Kirche und Fernsehen“ damals: „Nur [mit] faschistischen Durchhaltefilmen vergleichbar“. Etwa 200 Protestbriefe erzürnter Erziehungsberechtigter führten zu einer Absetzung der Serie nach nur vier Folgen. Nachdem daraufhin Tausende von Protestbriefen enttäuschter Kinder den Sender erreicht hatten, setzte man die Serie im Folgejahr wieder ins Programm, um sie kurz darauf erneut zu canceln.

Seitdem haben sich Zeitgeist und Verständnis natürlich weiterentwickelt. Serien wie One Piece, Demon Slayer oder Attack on Titan haben ihre Siegeszüge um die ganze Welt angetreten. Die Spielfilme von Hayao Miyazaki, Isao Takahata und ihres Studios Ghibli stehen unangefochten für den Gipfel der modernen Animationsklassiker. Filmemacher wie James Cameron oder die Geschwister Wachowski zählen Filme wie Akira, Ghost in the Shell oder Perfect Blue zu ihren filmischen Vorbildern. Länder wie Frankreich, die Ukraine oder die USA haben Animationsfilme im Stil der Animes produziert, es gibt Live Action Remakes von Ghost in the Shell oder Speed Racer. Und Mega-Franchises wie Der Herr der Ringe, The Witcher oder John Wick bekamen Anime-Spin-offs. Die Kinder, die Astro Boy im Fernsehen sahen, sind die Filmemacher von heute.

Die Animes haben ihren festen Platz in der Weltkultur. Wie kaum ein anderes filmisches Medium haben sie die visuelle Bilderwelt der Neuzeit beeinflusst. Sind wir gespannt, was als Nächstes passiert.
 

Literatur:

Cavallaro, D.: Anime Intersections. Tradition and Innovation in Theme and Technique. Jefferson/London 2007

Der Spiegel: Fernsehen: Nicht zu bremsen. In: Der Spiegel, 17/1972, 16.04.1972, S. 179–180. Abrufbar unter: https://www.spiegel.de