Unsterblich durch KI?
Was der Einsatz künstlicher Intelligenz mit Trauernden macht
„Stellen Sie sich mal vor, dass in 500 Jahren unsere Ururenkel die gesammelten Avatare all ihrer Vorfahren parallel auf dem Computer haben und dann überlegen, mit welchem Opa sie heute plaudern möchten.“ Das ist nur eines der Szenarien, das Dr. Thorsten Benkel für möglich hält. Der Soziologe lehrt an der Universität Passau und erforscht seit Jahren den Wandel der Bestattungs- und Trauerkultur – und damit einhergehend auch den Einfluss von künstlicher Intelligenz auf den Tod und unseren gesellschaftlichen Umgang damit.
Ein Trend, der vor einigen Jahren aufkam: Tech-Start-ups, die Tote virtuell am Leben halten wollen. Darum hat sich eine ganze Branche gebildet. Die Digital Afterlife Industry verspricht eine Interaktion mit Verstorbenen über verschiedene Kommunikationsplattformen, über Chatbots oder – noch einen Schritt weitergehend – Avatare, die als digitales Abbild bzw. digitaler Zwilling der Verstorbenen auf Basis einer generativen KI agieren. Dieser Zwilling will zunächst angelernt und mit Informationen gefüttert werden. Dafür werden allerhand Daten gesammelt, die Sterbende selbst und gezielt mit der KI teilen können, darunter Sprachaufzeichnungen, Chatverläufe, Informationen zum Privatleben, zum beruflichen Werdegang, zu Vorlieben oder Abneigungen. Auch frei im Internet und auf Social Media zugängliche Daten können eingespeist werden. Das Ziel: Trauernde sollen, solange sie wollen, mit einem Abbild der verstorbenen Person kommunizieren können. Das wohl bekannteste Beispiel aus Deutschland ist Michael Bommer. Nachdem er die Diagnose eines unheilbaren Darmkrebses erhält, beschließt er, nach seinem Tod als Avatar weiterzuleben. Bommer ist mittlerweile gestorben, hat im Vorfeld jedoch Datensätze gesammelt und in eine KI eingespeist. Das Ergebnis: ein Avatar, der klingt wie Bommer und seiner Witwe auch nach seinem Tod Gesellschaft leisten kann.
Dabei kommen Techniken der künstlichen Intelligenz zum Einsatz, die gerade im Medienkontext auch als sogenannte Deepfakes bekannt sind: Audio-, Video- oder Bildmedien, deren Inhalte künstlich erzeugt sind, aber täuschend echt wirken und beispielsweise bei der Verbreitung von Desinformationskampagnen bzw. Fake News zum Einsatz kommen. Angewendet werden u. a. KI-Sprachmodelle, die, basierend auf Kommunikationsdaten von Verstorbenen als Trainingsdaten, mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung neue Inhalte produzieren – und dabei nicht nur die Stimme der Verstorbenen täuschend echt imitieren, sondern auch deren Satzstellung und Intonation.
Das Ziel: Trauernde sollen, solange sie wollen, mit einem Abbild der verstorbenen Person kommunizieren können.“
Eingriff in den Trauerprozess
Die Anwendung dieser Technik im Zusammenhang mit Verstorbenen werfe viele Fragen auf, sagt Thorsten Benkel – psychische wie auch ethische. Und mit dieser Meinung ist er bei Weitem nicht allein.
Trauer sei ein ganz und gar individueller Prozess, sagt Prof. Dr. Katrin Döveling. Sie lehrt als Medienpsychologin an der Hochschule Darmstadt und vertritt das sogenannte Duale Prozessmodell der Trauerbewältigung. Dabei wird die Trauer nicht, wie lange angenommen, als linearer Prozess beschrieben. Das Modell beschreibt ein Wechselspiel von Phasen, in denen Verlustgefühle dominieren, und zukunftsgewandten Phasen, in denen Trauernde lernen, ein neues Leben aufzubauen und die Beziehung zu der verlorenen Person umzudeuten. In diesem Prozess könnten die Anwendung einer KI oder Gespräche mit einem Avatar unter Umständen vorteilhaft sein, sagt Döveling. Etwa dann, wenn Hinterbliebene noch etwas auf dem Herzen haben und der verstorbenen Person noch etwas sagen wollen. Ein ganz banaler Vorteil liege darin, dass die trauernde Person, wenn auch in einem symbolischen Akt, im Gespräch mit der KI noch loswerden könne, was sie der verstorbenen Person zu Lebzeiten nicht haben sagen können. Ähnliches gelte für Jahrestage, Geburtstage oder bestimmte Feiertage: „Die Hinterbliebenen haben dann oft das starke Bedürfnis, sich an die verstorbene Person zu wenden. Ein digitaler Avatar kann die Möglichkeit bieten, diese Intimität, diese erwünschte Nähe aufzubauen.“ Hinreichend untersucht sei das allerdings nicht, sagt Döveling. Die Psychologin sieht gleichwohl viele Gefahren. Etwa jene, dass Betroffene in einer akuten Trauerphase verharren: „Sich immer wieder an den Verstorbenen zu wenden, fördert nicht unbedingt, dass man raus in die Welt geht und sein Leben lebt.“ Ebenso zu hinterfragen sei der Inhalt der Antworten des Avatars. Ist das, was Trauernde von der KI hören, wirklich im Sinne der Verstorbenen und der Hinterbliebenen? „Was, wenn der Avatar etwas sagt, das nicht verständlich ist oder vielleicht alte Wunden aufwühlt?“ Das könne dem Trauerprozess schaden, sagt Döveling.
Diesen Nachteil sieht auch der Soziologe Thorsten Benkel. „Nutze ich einen Avatar, um mit einem Verstorbenen zu kommunizieren, dann ist er immer bei mir. Selbst wenn ich in den Urlaub fahre, habe ich den Avatar auf dem Handy dabei. Überall da, wo ich WLAN habe, habe ich die Toten bei mir“, sagt Benkel. Er befürchtet, „dass es Menschen geben wird, die in eine Art Rabbit Hole fallen. Und wie kommst du da wieder raus? Dazu gibt es bislang überhaupt keine Erkenntnisse.“
Auch für Prof. Dr. Karsten Weber wirft die Darstellung Verstorbener durch KI viele Fragen auf. Weber ist Co-Leiter des Instituts für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST) an der OTH Regensburg. „Wir müssen uns auch fragen: Wer spricht da eigentlich? Ist das womöglich nicht sehr viel mehr als eine erweiterte, mit einer etwas eleganteren Sprachführung ausgestattete Suchmaschine?“ Weber bezweifelt, ob ein derartiges System im Trauerprozess nachhaltig ist. Wer noch etwas auf dem Herzen habe, könne auch zu anderen Mitteln greifen, sagt Weber: „Ich kann mir vorstellen, dass ein von Herzen geschriebener Brief wesentlich hilfreicher wäre.“
Sich immer wieder an den Verstorbenen zu wenden, fördert nicht unbedingt, dass man raus in die Welt geht und sein Leben lebt.“ (Prof. Dr. Katrin Döveling)
Ein Leben nach dem Tod – und viele ethische Fragen
Der Fragenkatalog ist auch aus ethischer Sicht groß. Prof. Dr. Jessica Heesen, Medizinethikerin an der Eberhard Karls Universität Tübingen, sieht Dutzende von Unklarheiten. Bei digitalen Abbildern handle es sich um Wunschbilder, gar um Projektionen, sagt sie. Einerseits würde die verstorbene Person der KI nur gezielte, fast schon inszenierte Informationen liefern – schlechte Angewohnheiten, derbe Sprache oder Affären ausgeschlossen. Andererseits wollten die Hinterbliebenen gezielt eine Illusion der verlorenen Person aufrechterhalten, sagt Heesen. Das beeinflusse den Trauerprozess.
Thorsten Benkel spricht in diesem Kontext von einem „Wunschroboter“ und wirft im selben Atemzug noch eine weitere Frage auf: „Wie gehen Kinder damit um? Als Erwachsene können wir die KI einordnen“, sagt er. Doch je jünger das Kind sei, desto schwieriger sei auch zu verstehen, dass die Person auf dem Bildschirm nicht die wahre Oma sei. „Kinder haben noch ein magisch aufgeladenes Denken, aber noch kein kritisches Technikverständnis“, sagt dazu Jessica Heesen. Karsten Weber sieht ein ähnliches Problem in Bezug auf kognitiv eingeschränkte Menschen, „beispielsweise ältere Menschen, die demenziell verändert sind, die womöglich den Unterschied zwischen dem realen Menschen und dem Surrogat eines Menschen gar nicht mehr erkennen“.
Auch Thorsten Benkel identifiziert, ähnlich wie Heesen und Weber, viele Fragen und neue Herausforderungen: „Was ist, wenn jemand den Code knackt und die Avatare sagen plötzlich Naziparolen?“ All das sei denkbar. Ähnliche Hürden sieht auch Ethikerin Jessica Heesen. Für fragwürdig hält sie z. B. kostenfreie Angebote, die werbefinanziert sind. Avatare oder Bots können Falschaussagen machen, die Hinterbliebene sowie Verstorbene schädigen könnten, sagt Heesen. „Ich stelle mir auch die Frage: Wann wird ein Chatbot oder Avatar abgestellt? Ist das eine Art zweiter Tod? Wer entscheidet darüber?“ Was zu weiteren Fragen überleitet: Was passiert mit den gesammelten Daten? Werden sie genutzt, um weitere KI-Modelle anzutrainieren? All das sei nicht geklärt.
Wandel der Bestattungskultur
Auch Friedhöfe werden immer digitaler. QR-Codes auf Gräbern, die zu Trauer-Webseiten, digitalen Kondolenzbüchern, Spotify-Playlists oder YouTube-Videos führen: Was macht es aber mit dem Friedhof als Ort der Trauer, wenn wir die Toten künftig vermehrt in digitaler Form mit uns führen können?
Durch den stetigen Einzug der Digitalisierung wandelt sich auch die Bestattungskultur. Diesen Wandel erforscht Thorsten Benkel und sieht eine immer weitere Abwendung vom Ort des Friedhofs per se. Er spricht von Delokalisierung, was bedeutet, dass Trauer nicht mehr an einen bestimmten Ort, etwa einen Friedhof oder die Kirche, gebunden, sondern allzeit digital zugänglich ist. „Meine These ist, dass die körperlichen Überreste kulturell immer weiter in die Ferne rücken“, sagt Benkel. Das sei schon an der stetig steigenden Zahl der Kremationen in Deutschland zu sehen. Der Anteil der Urnenbestattungen lag Informationen des Statistischen Bundesamtes zufolge schon 2023 bei 80 % – Tendenz steigend.
Im Gang zum Friedhof sieht Benkel einen würdevollen Akt. „Der Ort hat sein eigenes Charisma. Und alle sind gleichberechtigt. Jeder ist gleich tot. Das ist ein Ort für die Gemeinschaft.“ Verlagert sich der Trauerprozess ins Digitale, geht der Trend weg von der Gemeinschaft, hin zum Solo-Trauern.
Ähnliches beobachtet Jessica Heesen. Sie sagt, auch Institutionen wie Bestattungsinstitute oder Kirchen ermöglichten ein Trauern nach bestimmten Regeln und böten einen institutionellen Schutz. Das Trauern, sagt die Ethikerin, werde nun ins Digitale ausgelagert. „Digitale Anwendungen werden sich, mal positiv ausgedrückt, demokratisieren; und wir werden sie alle nutzen können”, sagt Heesen. Der institutionelle Schutz, den ein professioneller Kontext biete, falle dann allerdings weg.
KI und Oral History am Beispiel des Gedenkens an den Holocaust
Die Darstellung Verstorbener mittels KI kann auch zu didaktischen Zwecken stattfinden, etwa im Bereich der Oral History. Rund 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schwindet, vor allem bei den jüngeren Generationen, das Wissen um den Holocaust und die Schoah zunehmend. Zu diesem Ergebnis kommt eine Umfrage der Jewish Claims Conference. Demnach gaben etwa 40 % der Befragten in der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen in Deutschland an, nicht gewusst zu haben, wie viele Jüdinnen und Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden. Rund 15 % glaubten, es seien weniger als 2 Mio. (statt der rund 6 Mio.) gewesen. 2 % der Befragten leugneten den Holocaust. Erschreckende Zahlen – vor allem vor dem Hintergrund, dass nur noch wenige Zeitzeugen leben und die letzten sukzessive wegsterben.
Dem sollen Projekte wie „Frag nach!“, eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933–1945 der Deutschen Nationalbibliothek, entgegenwirken. Die Ausstellung macht die Erinnerungen der Holocaustüberlebenden Kurt S. Maier (*1930) und Inge Auerbacher (*1934) in Form von digitalen Interviews zugänglich, auch über deren Tod hinaus.

Die Avatare der Holocaustüberlebenden Kurt S. Maier (*1930) und Inge Auerbacher (*1934) (Foto: © Wurich)
Dafür haben sie der Leiterin des Exilarchivs, Dr. Sylvia Asmus, über 900 Fragen in Interviews beantwortet. Auf Basis dieser Informationen generiert eine KI dann die passenden Antworten auf Fragen von Besucherinnen und Besuchern. „Es ist keine generative KI, wir erzeugen nichts künstlich. Die Antworten sind genau so, wie Inge Auerbacher und Kurt Maier sie formuliert haben“, sagt Asmus in einem Gespräch mit dem MDR. Die KI erkenne die Fragen und ziehe aus der Interviewdatenbank die passenden Antworten. „Die Zeitzeugen selbst haben große Angst davor, was passiert, wenn sie selbst als moralische Instanzen nicht mehr unter uns sind“, sagt Asmus weiter.1
„Für didaktische Zwecke, also im schulischen Kontext oder im Museum, ist das klasse“, sagt der Soziologe Benkel zu derartigen Projekten. Er setzt dem Ganzen aber auch Grenzen.
Die KI könne nur aus einem Pool an Informationen passende Fragen und Antworten zuordnen, aber sie könne nicht nachdenken und reflektieren. „Wenn man wirklich etwas über den Holocaust wissen möchte, dann reicht ein solches Gespräch oder ein Besuch im Museum nicht“, sagt Benkel. Vieles werde die KI nicht vermitteln können; und die Arbeit, die in der Geschichtswissenschaft gemacht werde, könne sie nicht ersetzen. Wie im Privaten gilt: Erinnerungskultur kann nicht vollständig auf technologische Lösungen abgewälzt werden.
Anmerkung:
1 Das Projekt ist auch online nutzbar. Unter https://fragnach.org können interaktive Interviews mit den Zeitzeugen geführt werden.
Weiterführende Literatur:
Ammicht Quinn, R./Heesen, J./Hennig, M./Meitzler, M.: Ethik, Recht und Sicherheit des digitalen Weiterlebens. Forschungsergebnisse und Gestaltungsvorschläge zum Umgang mit Avataren und Chatbots von Verstorbenen. Darmstadt 2024. Abrufbar unter: https://www.sit.fraunhofer.de
Deutsche Nationalbibliothek: Frag nach! – Die Ausstellung. In: Deutsche Nationalbibliothek, 03.01.2025. Abrufbar unter: https://fragnach.org (alternativ: https://www.dnb.de)
Deutsche Nationalbibliothek: Veranstaltung: KI und Zeitzeugenschaft – Frag nach!In: Deutsche Nationalbibliothek, 19.02.2025. Abrufbar unter: https://www.dnb.de
George, W./Weber, K. (Hrsg.): Wie werden wir in Zukunft sterben? Szenarien zu Sterben, Tod und Trauer im Jahr 2045. Gießen 2023
Heesen, J.: Digitales Weiterleben nach dem Tod – Sind wir unsterblich durch Künstliche Intelligenz. Jessica Heesen im Interview zu Digital Afterlife und KI-Ethik mit Nabil Atassi. In: SWR1 Leute, 14.08.2024. Abrufbar unter: https://uni-tuebingen.de
Heesen, J.: Digitales Weiterleben – eine ethische Betrachtung der Digital Afterlife Industrie. In: Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt), 21.01.2025. Abrufbar unter: https://www.bidt.digital
Hennig, M.: Ethik, Recht und Sicherheit des digitalen Weiterlebens (Edilife). In: Eberhard Karls Universität Tübingen, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW). Tübingen o. J. Abrufbar unter: https://uni-tuebingen.de
Jähn, T.: Trauerkultur: Wie KI uns nach dem Tod lebendig hält. In: MDR Wissen Podcast, 10.01.2025. Abrufbar unter: https://www.mdr.de
Katholische Akademie in Bayern: Gespräch zum Thema ‚So wird KI den Umgang mit Tod, Trauer und Erinnerung verändern‘. In: Fachtagung „Die KI – Deus Ex Machina? So wird KI die Kirche verändern“, 29.02.2024. Abrufbar unter: https://kath-akademie-bayern.podigee.io
Statista Research Department: Anteil von Sarg- und Urnenbestattungen in Deutschland in den Jahren 2012 bis 2023. In: statista.com, 02.10.2024. Abrufbar unter: https://de.statista.com
tagesschau.de: Umfrage in mehreren Staaten: Viele junge Menschen wissen wenig über den Holocaust. In: tagesschau.de, 23.01.2025. Abrufbar unter: https://www.tagesschau.de
Vahid-Moghtada, N.: KI in der Trauerarbeit: Wenn Tote durch Avatare ersetzt werden. In: tagesschau.de, 11.01.2025. Abrufbar unter: https://www.tagesschau.de