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Virtuelle Schranken oder offene Scheunentore

Fünf Thesen zu verpflichtenden Altersüberprüfungen als Instrument des Jugendmedienschutzes

Stephan Dreyer

Dr. Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht & Media Governance am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut, Hamburg.

Alterskontrollen wie an der Kinokasse oder im Handel sind ein klassisches Instrument des Jugendmedienschutzes. Auch bei digitalen Angeboten für Erwachsene ist die Feststellung des Alters von Nutzenden seit 2002 im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) vorgesehen. Im europäischen und internationalen politischen und regulatorischen Diskurs setzt sich derzeit in hohem Tempo ein Verständnis von Altersverifikation durch, das das Instrument als Allheilmittel für den Schutz von Minderjährigen vor allen unangemessenen Inhalten und Kontaktrisiken versteht. Währenddessen zeigen Akteure aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft die Herausforderungen auf, denen Altersüberprüfung im Netz begegnet. Ein Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem Schutzinstrument in fünf Thesen.

Online seit 21.03.2025: https://mediendiskurs.online/beitrag/virtuelle-schranken-oder-offene-scheunentore-beitrag-772/

 

 

These 1: 

Die Diskrepanz zwischen den europäischen Diskussionen über das Wie von Altersüberprüfungen und der vorgelagerten rechtlichen Frage des Ob könnte nicht größer sein.

Anders als das deutsche Jugendmedienschutzrecht sieht der EU-Rechtsrahmen derzeit keine expliziten Pflichten zum Vorhalten von Altersüberprüfungssystemen vor: In der AVMD-Richtlinie und im Digital Services Act scheint Altersverifikation als eine Maßnahme unter vielen auf, wenn es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen geht. Die Letztentscheidung, welche konkreten Vorsorgemaßnahmen implementiert werden, obliegt aber den jeweiligen Anbietern. Sie können und dürfen Altersüberprüfungen für ihr Angebot vorsehen, müssen es aber nicht. Die derzeitige Diskussion auf EU-Ebene, wie genau eine angemessene Altersüberprüfung zu erfolgen hat, welchen Anforderungen sie genügen muss und wie einheitliche Methoden europaweit funktionieren können, erscheint vor diesem Hintergrund als ein wichtiger, aber verfrühter Schritt. Vor der Frage, welche Anforderungen etwa an datenschutzsparsame Verfahren zu stellen sind, müsste geklärt werden, ob und in welchen Konstellationen eine rechtliche Verpflichtung zu flächendeckenden Altersüberprüfungen Bestand hätte. Diese Diskussion aber findet nicht statt. Eine veränderte Rechtslage auf EU-Ebene kann sich hier zukünftig durch die derzeit kritisch diskutierte CSA-Verordnung (CSA = Child Sexual Abuse, Verordnung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern) ergeben (Vasel 2022), die Altersverifikationspflichten für alle kinderschutzrelevanten Hosting- und Messaging-Dienste sowie für App-Marktplätze vorsieht.
 

These 2: 

Online-Altersüberprüfungsverfahren als Schutzinstrument werden in ihrer Wirkung überschätzt, die Komplexitäten ihrer Umsetzung dagegen unterschätzt.

Altersüberprüfungsverfahren werden – jedenfalls derzeit – als Instrument diskutiert, das zu jungen Personen den Zugang zu bestimmten Inhalten und bzw. oder Funktionalitäten erschweren soll. Die Annahme, dass bestimmte Inhalte oder Dienste für altersüberprüfte Online-Nutzer*innen nicht erreichbar sind, wenn diese nicht altersangemessen sind, ist nachvollziehbar und mit Blick auf strafrechtliche Vorgaben im Bereich pornografischer oder gewaltverherrlichender Inhalte gar geboten. Für Angebote, die sich nicht ausschließlich an Erwachsene richten und von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Altersstufen genutzt werden, sind Verfahren zur Altersüberprüfung allerdings komplexer umzusetzen. Jüngere verfügen oftmals nicht über offizielle Dokumente, es gibt nur wenige amtliche Datenbanken und eine begrenzte Anzahl von Akteuren, die eine zeitlich vorgelagerte Face-to-Face-Kontrolle durchgeführt haben. Biometrische Altersschätzungsverfahren weisen bei Jüngeren Varianzen auf (Stardust et al. 2024), ihre (geringen) Abweichungen können bei eng gesetzten Altersgruppen an Funktionsgrenzen stoßen. Gleichzeitig bestehen niedrigschwellige Umgehungsmöglichkeiten wie kostenlose VPN-Dienste (Kishk 2024) oder ausländische Anbieter und Dienste, die keine Altersüberprüfung vorsehen (müssen). Und letztlich kann eine altersbasierte Zugangshürde Minderjährige nicht vor allen Risiken schützen: So können sich auch unter Gleichaltrigen Interaktions- und Kommunikationsrisiken verwirklichen (z. B. Cyberbullying, Hassrede, sexuelle Grenzverletzungen); zulässige Desinformation kann Einfluss auf die Meinungsbildung bzw. das Weltbild von Jugendlichen haben. Und schließlich können viele ähnliche unbedenkliche Kleinstinhalte kumulative Wirkungen entfalten (z. B. schönheitsidealisierende Darstellungen oder rückwärtsgewandte Rollenklischees; s. Andresen/Dreyer 2025). Auch mit Blick auf angebotsübergreifende Nutzungsrisiken wie etwa der zeitliche Umfang der Smartphone-Nutzung können Altersüberprüfungsverfahren nur begrenzt helfen.

Selbst beim Einsatz von Altersüberprüfungen zur altersangemessenen Gestaltung von Online-Plattformen wie Sozialen Netzwerken können Inhaltsrisiken nur effektiv verringert werden, wenn die verfügbaren Inhalte altersbewertet sind. Gerade bei Plattformen mit nutzergenerierten Inhalten widerspricht eine Verpflichtung der Anbieter zur Altersklassifikation der Inhalte aber dem Monitoringverbot des Art. 8 DSA. Selbst wenn Anbieter freiwillig sämtliche Inhalte altersbewerten, so müssten sie sich an sehr unterschiedlichen Bewertungskriterien und Altersgruppen orientieren – hier erfolgt mit Blick auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Kulturpolitik keine europarechtliche Harmonisierung. Die Erwartung an die vermeintliche Effektivität von Altersüberprüfungen und der plattformprivilegierende Rechtsrahmen scheinen nicht so recht zusammen zu passen.

Schließlich hebeln Altersüberprüfungen als technische Zugangshürden die Erziehungsrechte und ‑möglichkeiten von Eltern und Erziehungsberechtigten aus. Wo Jugendschutzinstrumente die Eltern ermächtigen, eigene Erziehungskonzepte umzusetzen und den individuellen Entwicklungsstand des eigenen Kindes zu berücksichtigen, ermöglichen Altersüberprüfungen ihnen in der Regel keinen individuellen Umgang. Sie könnten gar als vermeintlicher Sicherheitsgarant bei der Online-Nutzung der Kinder missverstanden werden und das Erziehungshandeln obsolet erscheinen lassen. Verpflichtende Altersüberprüfungen erscheinen vor diesem Hintergrund als Schwächung der elterlichen Medienerziehung und existenzielle Gefahr für Ansätze wie Jugendschutzprogramme (§ 11 JMStV) oder Jugendschutzvorrichtungen (§ 12 JMStV-Entwurf).
 

These 3: 

Die flächendeckende Einführung von Altersüberprüfungsverfahren als ubiquitäre Online-Schranke hat weitreichende Konsequenzen für Kinderrechte und Menschenrechte und greift in die Grundprinzipien eines offenen Netzes ein.

Eine Pflicht zur Altersüberprüfung von Kindern und Jugendlichen bedeutet stets eine Altersüberprüfung aller Nutzenden eines Angebots, d. h. auch der Erwachsenen. Insbesondere dort, wo eine Altersüberprüfung vor Angebote geschaltet werden muss, die nicht überwiegend Erwachsenen Inhalte zugänglich machen, geraten rechtlich vorgesehene Zugangshürden in den Bereich der Unverhältnismäßigkeit: Derartige Pflichten erscheinen weniger als Jugendschutzregelung, sondern müssen eigentlich dem Bereich der allgemeinen „information policy“ zugeordnet werden. Sie stellen Eingriffe in die Informations- und Kommunikationsfreiheiten aller Nutzenden dar (Nash 2021), die – z. B. mit Blick auf Jugendschutzziele – gerechtfertigt sein müssen.

Darüber hinaus ist der technische Ausschluss von Kindern spezifisch aus kinderrechtlicher Sicht problematisch (Livingstone et al. 2024), wenn es um Online-Angebote geht, die eine Vielzahl von jugendschutzrechtlich nicht relevanten oder gar für die Kindesentwicklung positiven Inhalten zugänglich machen. Der Ausschluss des Zugangs Jüngerer von diesen für sie wichtigen Inhalten erscheint als Verletzung kinderrechtlicher Gewährleistungen, insb. ihr Recht auf Information (Art. 13 UN-KRK). Es sind auch diese Konstellationen, in denen die Auswertung personenbezogener Daten von Kindern im Rahmen der Altersüberprüfung als Eingriff in ihr Recht auf Privatheit erscheinen kann. Zudem sind technische Mittel zum Ausschluss Jüngerer regelmäßig nicht in der Lage, die befähigenden und teilhabebezogenen Gewährleistungsdimensionen der Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen. Andere Maßnahmen können insoweit als mildere Mittel zum Schutz von Kindern erscheinen.

Schließlich: Je niedrigschwelliger und weniger bemerk- bzw. einsehbar Altersüberprüfungsverfahren implementiert werden, umso stärker steigt die Wahrscheinlichkeit, dass mittel- und langfristig sehr viele Online-Angebote von technischen Altersschranken Gebrauch machen: Besondere gesetzliche Vorgaben zum Umgang mit minderjährigen Nutzerinnen und Nutzern machen diese User*innen zu „schwierigen Fällen“ (z. B. wegen des Verbots der Anzeige verhaltensbasierter Werbung, vgl. Art. 28 Abs. 2 DSA). Daneben erscheinen weiträumig eingesetzte Zugangshürden als diametraler Widerspruch zu dem Prinzip der Offenheit des Netzes und des „free flow of information“.
 

These 4: 

Die politische Diskussion über „Altersverifikation“ wird den ausdifferenzierten Verfahren und Einsatzbereichen nicht gerecht und schadet letztlich ihrer Akzeptanz in Konstellationen, in denen sie sinnvoll ist.

Dass die Begrifflichkeit in den bestehenden Normen und die Debatte über die Gestaltung grundrechtskonformer Altersüberprüfungsverfahren auf EU-Ebene festhängt bei „Altersverifikation“, ohne die eben beschriebenen Differenzierungen zwischen Grad der Jugendschutzrelevanz von unterschiedlichen Angeboten und Grad der Zuverlässigkeit der Altersfeststellung (Shaffique/van der Hof 2024, S. 12) verinnerlicht zu haben, ist bemerkenswert. Die unterschiedlichen Zielrichtungen – zuverlässiger Zugangsausschluss bis bestmögliche altersgemäße Gestaltung – und Methoden der Altersfeststellung differenzieren die bisherigen Debatten bislang selten aus. Wenn aber überall strikte Altersverifikationsverfahren – in der Regel gegen amtliche Dokumente – als der Standardfall der Altersüberprüfung impliziert wird, wird das den bestehenden ausdifferenzierten Verfahren und Methoden im Markt nicht gerecht (vgl. ebd., S. 25 ff.).
 

These 5: 

Die Erfahrungen, die Deutschland in über 20 Jahren Prüfung und Eignungsbeurteilung von Altersverifikations- und Altersüberprüfungsverfahren gesammelt hat, sind für EU-Diskurse wertvoll.

Die Vorgaben zu der Altersverifikation im Rahmen von § 4 Abs. 2 JMStV (Unzulässige Angebote) und der plausiblen Altersüberprüfung im Rahmen von § 5 Abs. 3 Nr. 1 JMStV (Entwicklungsbeeinträchtigende Angebote) haben in Deutschland zu detaillierten Anforderungen und Kriterien an geeignete Mittel hervorgebracht, mit deren Hilfe weit über 100 Altersverifikationssysteme und technische Mittel geprüft und für geeignet beurteilt wurden. Technische Voraussetzungen, datenschutzrechtliche Grenzen und Maßnahmen zum Schutz vor Umgehungsmöglichkeiten stellen mit Blick auf die EU-Debatte wertvolles Prüfungs- und Erfahrungswissen dar. Die Aufsicht und die Selbstkontrollen können diese Expertise ggf. noch mehr als bisher international herausstellen und in die Debatte einfließen lassen.
 

Ausblick

Altersüberprüfung als technisches Mittel im Kinder- und Jugendmedienschutz ist eine gangbare gesetzgeberische Option, um junge Menschen von Erwachseneninhalten fernzuhalten. Bei Online-Angeboten und ‑Plattformen für alle Altersgruppen erscheinen technische Zugangshürden mit Blick auf Menschenrechte und Kinderrechte als ambivalente Maßnahmen, insbesondere im Falle rechtlicher Verpflichtungen zu ihrer flächendeckenden Implementation. Zudem können Altersüberprüfungsverfahren angesichts der bestehenden Umgehungsmöglichkeiten falsche Sicherheit erzeugen und andere Schutz- und Befähigungsansätze schwächen. Freiwillig können Anbieter entsprechender Onlinedienste – wenn dies aus ihrer Sicht geboten oder sinnvoll zur angemessenen Begegnung von Inhalts-, Interaktions- oder Nutzungsrisiken erscheint – Altersüberprüfungen einführen. Dabei obliegt ihnen ein weiter Entscheidungsspielraum, insbesondere auch mit Blick auf parallele und alternative Schutzmaßnahmen. Als „best practice“ erscheinen – auch und gerade mit Blick auf die Kinderrechte – Ansätze, in denen freiwillige und niedrigschwellige Altersfeststellungsverfahren als Ausgangspunkt für eine positive, altersangemessene Gestaltung von Online-Angeboten genutzt werden, die für Jüngere als Anreiz und nicht als Beschränkung erscheinen.
 

Literatur:

Andresen, S./Dreyer, S.: Über stete Tropfen und die Summe ihrer Teile. Kumulative Beeinträchtigungspotenziale und regulatorische Antworten des Kinder- und Jugendmedienschutzes. In: mediendiskurs, 17.01.2025. Abrufbar unter: mediendiskurs.online

Kishk, Y.: State-based online restrictions: age-verification and the VPN obstacle in the law. In: International Journal of Law Ethics and Technology, 2024(2), S. 122–154. Abrufbar unter www.ijlet.org

Livingstone, S./Nair, A./Stoilova, M./van der Hof, S./Caglar, C.: Children’s Rights and Online Age Assurance Systems: The Way Forward. In: International Journal of Children’s Rights 32(3)3, Oktober 2024, S. 721–747. Abrufbar unter: https://brill.com

Nash, V. : Gatecrashers? Freedom of Expression in an Age-Gated Internet. In: A. Duff (Hrsg.): Research Handbook on Information Policy. Cheltenham/Northampton 2021, S. 277–291. Abrufbar unter: www.elgaronline.com

Shaffique, M. R./van der Hof, S. : Mapping age assurance typologies and requirements. Forschungsbericht für die EU-Kommission. Luxemburg 2024. Abrufbar unter: https://op.europa.eu

Stardust, Z./Obeid, A./McKee, A./Angus, D.: Mandatory Age Verification for Pornography Access: Why It Can’t and Won’t ‘Save the Children’. In: Big Data & Society 11(2), Juni 2024. Abrufbar unter: DOI 10.1177/20539517241252129

Vasel, J. J.: Datenschutz versus Kinderschutz? In: ZRP 2022, S. 191–194