„Vorsicht vor dystopischem Denken!“

Tilmann P. Gangloff im Gespräch mit Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, wurde durch seine Arbeit zur Skandalforschung bekannt. In seinem kürzlich erschienenen Buch Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen geht er der Frage nach, wie es in Zeiten von Desinformation und Dauerablenkung gelingen kann, gemeinsam eine Welt zu erkunden, „die überhaupt erst im Miteinanderreden und Einanderzuhören entsteht“. Im Interview beschreibt er unter anderem, welche Folgen es hat, wenn digitale Plattformen wie X und Facebook den Faktencheck abschaffen. Außerdem fordert er einen neuen Journalismus, der weiterhin klassische Werte wie Wahrheitsorientierung und Quellenanalyse beherzigt, aber auch einem Imperativ zu Dialogorientierung und Transparenz folgt.

Online seit 04.02.2025: https://mediendiskurs.online/beitrag/vorsicht-vor-dystopischem-denken-beitrag-772/

 

 

Herr Pörksen, warum haben so viele Menschen verlernt, zuzuhören, hinzuhören, Zwischentöne wahrzunehmen?

Die aktuell erlebbare Zuhörfeindlichkeit hat ganz unterschiedliche Ursachen. Zum einen gibt es einen prinzipiellen Grund: Der Mensch ist ein bestätigungssüchtiges Wesen, eingehüllt in den Kokon seiner Urteile und Vorurteile. Zum anderen ist gerade die Welt der sozialen Netzwerke eine extrem laute Welt. Lernende Algorithmen befördern das Erregungsspektakel, die Emotionalisierung, die Überhitzung des Kommunikationsklimas. Elon Musk, reichster Mann der Welt und Besitzer von X, sendet seine Desinformations-Postings an über 200 Mio. Follower. Aber Zuhören ist heutzutage auch deshalb schwer, weil wir medial ständig mit Negativthemen konfrontiert werden, die bedrohlich, beängstigend und von uns als Individuen kaum wirksam behandelbar scheinen: die Klimakrise, der Ukrainekrieg, die neue Macht der Propaganda. Die Bereitschaft zum Zuhören wird durch den allgemeinen Krisen- und Katastrophentumult nicht gefördert, sondern gefährdet. Studien zeigen, dass sich gerade junge Menschen deshalb von den Nachrichtenströmen abkoppeln und sich abschotten.
 


Die Bereitschaft zum Zuhören wird durch den allgemeinen Krisen- und Katastrophentumult nicht gefördert, sondern gefährdet.



Welche Folgen hat es für die persönliche Kommunikation, wenn auf X und Facebook jede Form von Faktencheck abgeschafft wird?

Das wird die Diskursformen in sozialen Netzwerken nochmals verändern und zu noch mehr Dramatisierung, Emotionalisierung und Übertreibungen führen. Formulierungen mit empörenden, aufpeitschenden Inhalten bringen auf Facebook eindeutig mehr Likes, auf X steigt die Repost-Rate. Solche Fehlanreize dienen der Aufmerksamkeitsbindung, um dann die Datenprofile der Userinnen und User maximal effektiv zu Marketingzwecken auszuspionieren und meistbietend an die Werbeindustrie zu versteigern. Das heißt: Userinnen und User sind eigentlich das Produkt, das man zu Geld macht. Und das bedeutet auch: Die Diskurse auf großen Plattformen wie Meta, X oder YouTube werden nach den Prinzipien der Werbeindustrie reorganisiert. Wenn wir die breitere Perspektive, das größere Bild betrachten, dann sehen wir einen fundamentalen Wechsel: Aus dem einst von Jürgen Habermas formulierten Ideal des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ ist etwas geworden, das der Netztheoretiker Michael Seemann den „zwanglosen Zwang dominanter Standards“ nennt. Diese Standards sorgen für das Spektakel, die Überhitzung, die Polarisierung und ein von Zuspitzungen geprägtes Kommunikationsklima.
 

Balance zwischen zwei Extremen

Wie kann es gelingen, sich davon nicht überrollen zu lassen?

Das ist in der Tat nicht leicht. Nötig ist die Balance zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite die selbstfürsorgliche Abgrenzung, die aber nicht zur Heiligsprechung des eigenen, persönlich-privaten Seelenfriedens missraten darf. Auf der anderen Seite das Bemühen um eine engagierte Weltzuwendung, die aber nicht zur totalen Selbstöffnung eskalieren sollte, denn sonst drohen Dauerverstörung, Ermüdung, Deprimiertheit. Diesen Balanceakt gilt es unter den gegenwärtigen Medienbedingungen und der neuen Zudringlichkeit der Nachrichten, die uns überall, jederzeit und in einer nie dagewesenen unmittelbaren Direktheit erreichen, immer wieder neu zu bewältigen.

Dann brauchen wir also andere Rahmenbedingungen?

Es wäre in der Tat falsch, unpolitisch und naiv, nur auf das Individuum zu starren, ihm gute Ratschläge zu geben, während die Ursachen im Systemischen liegen. Ich bin die letzten Jahre viel im Silicon Valley unterwegs gewesen, um die frühen Onlinegemeinschaften der Welt zu erforschen und mit ihren Erfindern zu sprechen. Diese ersten sozialen Netzwerke waren relativ homogene Vertrauensgemeinschaften mit nicht mehr als 15.000 Mitgliedern. Es gab keine Werbung, kein Data-Mining, keine Anonymität, sondern ein sehr liberales Kommunikationsverständnis bei gleichzeitiger intensiver Moderation. Das zeigt, dass auch digital ein anderes Kommunikationsklima durchaus möglich ist. Die derzeitigen Rahmenbedingungen sehen jedoch anders aus: viel zu oft Verzicht auf Moderation, Attacken aus dem Dunkel der Anonymität heraus, Desinformationskampagnen in Serie. Die kostengünstige Ignoranz der sozialen Folgen erlaubt es einzelnen Unternehmern, gigantische Reichtümer anzuhäufen. 2024 haben Google, Facebook und Amazon die Hälfte aller weltweiten Werbeeinnahmen für sich verbuchen können. 

Der Diskurs in den digitalen Netzwerken wird von Populisten und Trollen dominiert. Lässt sich das überhaupt ändern, und wenn ja: wie?

Ich sehe drei Ansätze zur Verbesserung des Kommunikationsklimas. Erstens: Wir brauchen eine andere normative Entschiedenheit in der Medienbildung. Es ist geradezu grotesk, wie stiefmütterlich und nachlässig dieses Thema politisch behandelt wird. In der laufenden Medienrevolution und in der Vernetzung der Welt liegt ein gesellschaftspolitisch noch nicht ausreichend verstandener und entzifferter Bildungsauftrag. Wir brauchen schon lange ein eigenes Schulfach, in dem Medienmündigkeit an der Schnittstelle von Medienethik, Informatik, Sozialpsychologie und Medienpraxis auf der Höhe der digitalen Zeit trainiert wird. Zweitens braucht es nicht nur eine Bildungsanstrengung, sondern auch eine Diskursanstrengung. Das Kommunikationsklima wird idealerweise von uns allen mitgeprägt, aber aktuell geben die Lauten, die Wütenden, die politisch Extremen und die Desinformationsspezialisten den Ton an. Es ist ein Gebot der Stunde, hier dagegenzuhalten und eine andere Form der Dialogfähigkeit vorzuleben, konkret und jeden Tag. Drittens sind Regulierungsanstrengungen nötig. Hier geht die EU mit dem Digital Services Act und anderen Initiativen mit gutem Beispiel voran. Aber auch dies ist ein Balanceakt: Desinformation muss bekämpft werden, doch gleichzeitig gilt es, die Ideale von Kommunikationsfreiheit und Mündigkeit zu bewahren, denn dies sind die Ideale, die einer Demokratie überhaupt erst ihre Würde und ihren Geschmack geben.
 


In der laufenden Medienrevolution und in der Vernetzung der Welt liegt ein gesellschaftspolitisch noch nicht ausreichend verstandener und entzifferter Bildungsauftrag.


 

Die Rolle der Qualitätsmedien

Welche Aufgabe kommt in diesem Konglomerat Qualitätsmedien wie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, den seriösen Tageszeitungen und den Nachrichtenmagazinen zu? Was können sie tun, um sich innerhalb der Kakofonie Gehör zu verschaffen?

Der Journalismus hat erkennbar an Deutungshoheit verloren, an sortierender Kraft. Er vermag längst nicht mehr als Gatekeeper am Tor zur öffentlichen Welt zu entscheiden, was als interessant und relevant gelten kann. Wir brauchen daher ein Bemühen um eine andere Intensität des Dialogs zwischen der vierten Gewalt des klassischen Journalismus und der fünften Gewalt der vernetzten Vielen. Idealerweise handelt der Journalismus in der gegenwärtigen Situation, in der viel zu wenige Menschen wirklich wissen, wie in den Medien gearbeitet wird, nach einem Imperativ der Dialogorientierung und der Transparenz. Diesen Imperativ habe ich so formuliert: „Gib deinem Publikum jede nur denkbare Möglichkeit, die Qualität der von dir vermittelten Information einzuschätzen!“ Es geht nicht mehr nur darum, das klassische Gatekeeping zu betreiben beziehungsweise Informationen auszuwählen und zu gewichten, sondern ergänzend auch „Gatereporting“ zu betreiben, also die Standpunkte und Maßstäbe immer wieder neu zu erklären. So könnte der seriöse Journalismus einen Beitrag zur Medienmündigkeit in der Breite der Gesellschaft leisten: Auf dem Weg in eine redaktionelle Gesellschaft der Zukunft, in der die Maximen und Ideale des klassischen Journalismus – Wahrheitsorientierung, Quellenanalyse, die andere Seite hören, Orientierung an Relevanz und Proportionalität – könnte er zu einem Element der Allgemeinbildung werden.
 


Es geht nicht mehr nur darum, das klassische Gatekeeping zu betreiben beziehungsweise Informationen auszuwählen und zu gewichten, sondern ergänzend auch ‚Gatereporting‘ zu betreiben, also die Standpunkte und Maßstäbe immer wieder neu zu erklären.


 

Standards, Routinen und Rituale hinterfragen

Sie befassen sich in Ihrem Buch ausführlich mit den Erkenntnissen des Wissenschaftsjournalisten und Journalismuskritikers Andrew Revkin, der unter anderem bemängelt, dass die Medien wissenschaftlich belegte Fakten viel zu oft als fraglich und kontrovers darstellen und Nebensächlichkeiten viel zu viel Aufmerksamkeit schenken. Brauchen wir also einen neuen Journalismus?

Nein, aber wir brauchen ein anderes Maß an Dialogorientierung und Transparenz im Journalismus; es ist nötig, die eigenen Standards und Routinen, die Darstellungsmuster und die publizistischen „Er sagt, sie sagt“-Rituale zu überdenken. Wir leben in einem Zeitalter einer gigantischen Krisenverdichtung. Der Aufstieg des Populismus und die Erosion von Demokratien fordern den Journalismus auf eine untergründige, meines Erachtens noch nicht ausreichend verstandene Weise heraus. Die permanente Orientierung am Konflikt, die Lust am Zündeln, die Unart, auf das eine Interviewzitat zu lauern, das man umgehend an die Nachrichtenagenturen weitergeben kann: Das sind Vorgehensweisen, die man branchenintern in anderer Ernsthaftigkeit infrage stellen sollte. Eines ist klar: Wir brauchen einen Journalismus, der auf unabhängige und kritische Weise Gesellschaftsbeobachtung betreibt. Aber ebenso wird immer deutlicher: Es kommt bei all dem darauf an, nicht selbst die Empörungsdynamik zu befeuern und damit das große Rauschen zu verstärken.

Aber auch seriöse Medien sind den ökonomischen Mechanismen des Marktes sowie der Tyrannei der Aktualität unterworfen.

Wir erleben derzeit eine elementare Änderung: Die Anzeigenmärkte brechen weg, Abos werden zur entscheidenden Geldquelle. Das hat zur Folge, dass Leserinteressen einen ganz anderen Einfluss bekommen, und führt zu einer Renaissance des Gesinnungsjournalismus, der in medialen Selbstbestätigungsmilieus gedeiht. Hier heißt es für die seriöse Publizistik Distanz zu wahren, sich nicht permanent opportunistisch und aus rein ökonomischen Erwägungen an die Publikumsinteressen anzuschmiegen. Guter Journalismus ist am Publikum orientiert, redet ihm aber nicht nach dem Mund.
 


Es kommt bei all dem darauf an, nicht selbst die Empörungsdynamik zu befeuern und damit das große Rauschen zu verstärken.


 

Küchentischgespräche

Kommen wir zurück zum Zuhören. Robert Habeck führt im Rahmen des aktuellen Wahlkampfs sogenannte Küchentischgespräche. Begrüßen Sie das als neue Form von Politik?

Nein. Aus meiner Sicht ist diese Form des Zuhörens zu parteitaktischen Zwecken kein wirkliches Zuhören, sondern ein instrumentell geprägtes Fassadenzuhören. Habeck wird von einem Filmteam begleitet, das den Besuch zu einem Mini-Clip verdichtet. Zuhören in meinem Sinn heißt: sich einlassen, mit Überraschungen rechnen, nicht auf ein bestimmtes Ergebnis fixiert sein. Zuhören ist für mich eine Metapher, ein Bild für geistige Offenheit. Ein Wahlkampf-Clip kann nie authentisches Zuhören dokumentieren, sondern zeigt einen Willen zur Macht, zur Beeinflussung.

Kommunikation ist eine der Säulen der Demokratie. Wenn wir verlernen, einander zuzuhören, wenn die Politik kein wirkliches Interesse mehr am ganzen Volk hat, sondern in erster Linie auf jene reagiert, die am lautesten schreien: Führt dies zum Ende der Demokratie?

Vorsicht vor dystopischem Denken! Das ist reine Zeitverschwendung. Ich versuche, mich von drei Verzerrungen beim Nachdenken über gelingende Kommunikation fernzuhalten, und warne daher, erstens, vor Diskurs-Alarmismus, der überall nur Untergang und Apokalypse sieht; zweitens vor einem wirklichkeitsfremden und doktrinären Idealismus, der den Wirklichkeitskontakt zugunsten der schönen Idee aufgibt. Und drittens vor der verbreiteten Vorstellung, es könne Fertigrezepte für das Miteinanderreden und Einanderzuhören geben. Zuhören ist der elementarste Akt der Kommunikation. Ohne das Zuhören gibt es kein Verstehen, kein Verständnis, aber auch nicht die ausreichend begründete, die nuanciert fundierte Verurteilung eines Standpunktes, den man für gefährlich hält.

1972 hat die Besatzung von Apollo 17 ein Foto von der Erde gemacht, das als Symbol für Hoffnung und Zuversicht galt. Sagt so ein Bild auch heute noch mehr als tausend Worte?

Blue Marble ist nach wie vor eine Aufnahme mit ikonischem Charakter, ein Bild, das die Wahrnehmung öffnet; auch darüber schreibe ich in meinem Buch, ausgehend von der Frage, wie sich ein Gespür für die Umweltzerstörung herauszubilden vermag, ein „ökologisches Gehör“. Das Foto zeigt die Erde in ihrer Zerbrechlichkeit als wunderschöne, blau-weiß marmorierte Murmel, die in der Schwärze des Universums umhertreibt. Ich würde sagen: Es hat nichts von seiner Kraft verloren. Aber es wäre trügerisch, naiv und blauäugig, alle Hoffnung auf ein einzelnes Bild zu konzentrieren. Es kann zum Nachdenken anregen und zum Träumen verleiten, aber man darf von einem Symbol, ganz gleich, wie verbreitet und medial erfolgreich es ist, nicht zu viel erwarten.


Ohne das Zuhören gibt es kein Verstehen, kein Verständnis, aber auch nicht die ausreichend begründete, die nuanciert fundierte Verurteilung eines Standpunktes, den man für gefährlich hält.


 

Bernhard Pörksen (Jahrgang 1969) ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten und zentralen Themengebieten gehören zum Beispiel der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Inszenierungsstile in Politik und Medien sowie die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten. Er hat unter anderem das Buch Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung (2018) geschrieben. Seine aktuelle  Publikation Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen ist im Hanser Verlag (München) erschienen.

Dr. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.