„Wahrhaftigkeit ist enorm wichtig!“
Wo spielt ein Nachdenken über Wahrheit aus Ihrer Sicht in der Medienkommunikation heute eine Rolle?
Ich würde nicht die Frage nach Wahrheit, sondern die Frage nach Geltungsansprüchen stellen. In der Medienkommunikation erleben wir gerade eine große Pluralität – sehr viele Stellungnahmen, einzelne Positionen, abgeschlossene Echokammern – und alle ringen letztendlich darum, im öffentlichen Diskurs Geltung zu erlangen. Die Wahrheitsfrage ist hier ganz klar auch mit Machtfragen verbunden. Das sieht man beispielsweise daran, wenn von „Lügenpresse“ gesprochen wird. Oder an den rechtspopulistischen Haltungen. Es wird hier behauptet, dass die Dinge anders sind, als die Mehrheitsgesellschaft es darstellt, und die entsprechenden Akteure versuchen, ihrer Auffassung Geltung zu verleihen. Es geht letztlich immer um Erkenntniskritik als Machtkritik.
Die Wahrheitsfrage ist ganz klar auch mit Machtfragen verbunden.
Und dazu nutzen viele natürlich die Medien. Es stellen sich also anders übersetzt die Fragen: Wer bestimmt eigentlich, was richtig ist? Und wonach sollen Gesellschaften ihr Handeln ausrichten?
Und wie werden die Medien für das Verbreiten der Geltungsansprüche genutzt?
Wir können das zunächst einmal ganz klassisch anschauen. Es gab in der Vergangenheit ein Rundfunkurteil mit der allbekannten Aussage, dass der Rundfunk immer auch Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung ist. Genauso gut kann man sagen, Rundfunk oder auch die Presse insgesamt ist Medium und Faktor der Realitätswahrnehmung.
Das wird anhand der jeweiligen Medienlogik deutlich, also einer bestimmten Auswahl, die die Medien treffen, die dann in die Gesellschaft rückwirkt. Das wiederum prägt die Art, wie die einzelnen Mediennutzer:innen die Gesellschaft sehen, wie sie vielleicht ihre eigene Identität bestimmen oder ihre Freiheit innerhalb der Gesellschaft einschätzen.
Diese Bilder werden in der öffentlichen Kommunikation erzeugt. Soziologie und auch Medienpsychologie haben diese Prozesse schon häufig beschrieben.
Neben dieser deskriptiven gibt es aber auch eine normative Ebene, auf der gefragt wird, wie die Medien und der Journalismus im Speziellen die öffentliche Kommunikation prägen sollen. Wie soll mit dem Wahrheitsbegriff umgegangen werden?
Wenn man nach dieser normativ-ethischen Perspektive fragt, dann ist es so, dass alle Medienschaffenden die Pflicht haben, an der öffentlichen Meinungsbildung mitzuwirken – und das eben auf einem wahren Fundament, auf faktenbasiertem Wissen. Hier geht es vor allem um eine Medienkommunikation, die möglichst von allen in ihrem Wahrheitsgehalt anerkannt wird.
Welche Regeln ergeben sich daraus für den Journalismus?
Es gibt einen Handwerks- bzw. Instrumentenkasten des Journalismus. Da hinein gehören z.B. Sorgfaltspflichten, Ausgewogenheit der Berichterstattung, viele Stimmen zu Wort kommen zu lassen, sich natürlich auch an die Fakten zu halten und eine Form von Objektivität zu wahren.
Das bedeutet aber auch, dass es keine an sich objektive Berichterstattung gibt und vollkommene Neutralität nicht erlangt werden kann.
Das lässt an den Begriff der Wahrhaftigkeit denken, der als Handlungsnorm gesetzt werden könnte. Wie ist das zu verstehen?
Wahrhaftigkeit bezieht sich immer auf die Absichten der Person, die spricht, schreibt oder eben in den Medien aktiv ist. Das heißt, dass sie etwas so meint, wie sie es sagt. Das heißt, sie schreibt z.B. einen Artikel mit all dem ihr verfügbaren Wissen und stellt dieses so unmissverständlich und präzise wie möglich dar.
Es kann natürlich sein, dass sich ein Fehler eingeschlichen oder irgendein Faktum sich später verändert hat. Aber dann ist der Bericht immer noch wahrhaftig gewesen. Etwas, was ich wahrhaftig produziert habe, kann sich letztendlich als unwahr herausstellen – ich war einem Irrtum unterlegen. Das ist etwas anderes, als zu lügen. Wahrhaftigkeit ist so gesehen enorm wichtig, weil es bedeutet, dass ich mich immer auf dem Weg befinde, die Wahrheit zu suchen, und ich einen guten Willen habe, daran mitzuwirken, dass eine vertrauenswürdige öffentliche Kommunikation entsteht.
Wahrhaftigkeit ist enorm wichtig, weil es bedeutet, dass ich mich immer auf dem Weg befinde, die Wahrheit zu suchen.
Ich persönlich habe z.B. den Eindruck, dass viele Journalisten bei der „Bild“-Zeitung nicht wahrhaftig berichten.
Ein häufiges Argument des Boulevardjournalismus ist: Sie wollen auf eine bestimmte Weise berichten, um den vorgestellten Bedürfnissen ihres Publikums zu entsprechen. In diesem Zusammenhang kann die Berichterstattung dann tendenziös sein und einzelne Personen bewusst „runterschreiben“. Das sind dann redaktionelle Absichten, die nicht unbedingt der Wahrheitsfindung dienen. Aber wenn wir nicht insgesamt eine wahrhaftige Kommunikation haben und vor allen Dingen Personen, die es „gut meinen“ und journalistische Qualitätsstandards ernst nehmen, dann geht Vertrauen in die Medienkommunikation verloren.
Würden Sie dieses Wahrhaftigkeitsprinzip der medialen Informationsvermittlung auch für Privatpersonen, die sich an öffentlicher Kommunikation beteiligen, einfordern?
Es kommt immer darauf an, in welcher Form man als Privatperson an öffentlicher Kommunikation mitwirkt. Wenn man journalistisch tätig ist, als Bloggerin z.B., dann würde ich erwarten, dass passend zum Format natürlich auch Wahrhaftigkeit eine große Rolle spielt.
Aber es gibt ja auch viele andere Formate der individuellen und privaten Kommunikation, in denen z.B. das Spiel mit Identitäten wichtig ist oder sich Einzelne anonym äußern möchten oder vielleicht etwas fiktional ausprobieren wollen. Ich finde es beispielsweise unter bestimmten Bedingungen legitim, sich mit einer erfundenen Identität an Chatgruppen zu beteiligen.
Hier kann man natürlich sagen: Das ist nicht wirklich wahrhaftig, weil eine solche Kommunikation nicht mit meiner echten Identität übereinstimmt. Aber derartige Freiheiten sind erlaubt, um Meinungspluralität im Internet nicht zu beschränken.
Zudem ist es leider nicht so, dass Wahrhaftigkeit immer ein Schlüssel für eine respektvolle Kommunikation ist. Es kann auch jemand, der Hate Speech verbreitet, wahrhaftig sein. Diese Person hat es dann eben einfach genau so gemeint. Zu einer gelingenden öffentlichen Meinungsbildung gehören also auch weitere ethische Normen dazu. Ich kann eine falsche Identität angeben und trotzdem schauen, dass es allen im Chat gut geht und niemand beleidigt wird.
Ist Ethik im Zusammenhang mit der Wahrheit dann eine Frage der Perspektive?
Es ist tatsächlich so, dass in der Ethik der Kontextbezug von Urteilen immer eine große Rolle spielt. Man hat dann allgemeinere Leitsätze, Werte oder Prinzipien und schaut, wie sie an einen bestimmten Kontext angepasst werden können. Zumindest in der modernen Ethik ist das eine übliche Herangehensweise. Die Abstimmung auf den Kontext ist also immer wichtig, aber niemals willkürlich! Es ist nicht so, dass ich mir meinen Kontext selbst basteln kann, sondern ich muss sehr gut begründen können, warum ich zu bestimmten Urteilen in einem bestimmten Kontext komme.
In der Demokratie – und in der Ethik sowieso – bin ich darauf angewiesen, dass ich meine Ansichten eben auch verhandeln kann.
Es ist sogar so, dass die Kontextabhängigkeit die Begründungsleistung noch einmal anspruchsvoller macht, weil ich nicht einfach vorgefertigte Konzepte oder Meinungen von irgendwoher ziehen kann, sondern ich muss meine Position in der Interaktion mit anderen in einem bestimmten Kontext begründen. Hier gibt es ganz viele Bezugsebenen, ich kann nicht einfach sagen: „Ich habe eine eigene Realität und meine eigene Wahrheit.“ In der Demokratie – und in der Ethik sowieso – bin ich darauf angewiesen, dass ich meine Ansichten eben auch verhandeln kann. Und dazu gehört die Begründungsleistung. Wenn die Begründung inkonsistent ist oder dumm oder egoistisch, wenn sie also nicht legitim ist, dann ist das auch keine gute Begründung.
Gilt das auch für die mediale Interaktion?
Man denkt immer, in den Medien müssten aus Pluralitätsgründen alle Positionen zu Wort kommen. Natürlich muss man die Positionen allesamt kennen, aber ich würde nicht sagen – gerade auch vor dem Hintergrund ethischer Begründungsansätze –, dass man jede noch so abstruse Position gleichberechtigt abbilden muss. Trotzdem ist nicht immer nur das wichtig, was die Mehrheit will; und diese muss auch anerkennen können, was die Minderheit sich wünscht oder beansprucht. Dazu müssen die Medien einen Beitrag leisten und den Prozess der Begründungsleistung für bestimmte Positionen ermöglichen. Menschen, die eine andere Sicht auf die Welt haben, gehören häufig zu diskriminierten Gruppen und sind nicht mit den sogenannten Querdenkern zu verwechseln. Diese Gruppen müssen eine Chance haben, auch in den Medien zu Wort zu kommen. Sie können dann z.B. durch den anwaltschaftlichen Journalismus sichtbar werden. Aber nicht einfach, weil sie eine andere Perspektive haben, sondern weil es für diese Perspektive plausible Gründe gibt.
Welche Kompetenzen sind Ihrer Ansicht nach nötig für eine Begründungsleistung? Das hört sich, idealtypisch gedacht, danach an, als ob sich jede:r Einzelne Grundzüge journalistischen Arbeitens aneignen müsste.
Wir denken immer, in den Medien sei es so schwierig, sich zu orientieren. Aber es ist überall in der Welt schwierig, sich zu orientieren. Wenn Sie als einzelne Bloggerinnen unterwegs sind und an einer Diskussionsrunde teilnehmen, dann müssen Sie auch diese Kompetenzen haben: Argumente zu verfolgen, die eigene Stimme zu erheben. Versuchen Sie doch einmal, in einer Bürgerversammlung etwas zu sagen. Das ist häufig aufregend und anstrengend – da schreien auch immer mal wieder ein paar Leute herum. Es ist eine adäquate Situation wie in den Onlinemedien.
Das ist eine Kernkompetenz. Man muss unterscheiden können, ob eine Nachricht z.B. von Russia Today kommt oder eben von der Qualitätspresse.
Wenn man nach relevanten Bereichen der öffentlichen Meinungsbildung im Internet fragt, sieht man jedoch schnell, dass dies nur einen kleinen Teil der individuellen und aktiven Medienkommunikation ausmacht.
Ich persönlich beteilige mich beispielsweise überhaupt nicht aktiv an politischen Diskussionen im Internet. Insgesamt macht das auch nur ein sehr geringer Anteil der Bevölkerung. Die meisten sind im Internet passiv unterwegs. Wenn sie aktiv sind, dann in Freundesnetzwerken, weil sie etwas kaufen wollen o.Ä. Für diese Tätigkeiten brauche ich überhaupt gar keine besonderen journalistischen Fähigkeiten. Medienmündigkeit brauche ich stattdessen vor allen Dingen bei der Frage: Wem glaube ich eigentlich im Internet und – entsprechend – welche Websites steuere ich an? Was lese ich mir durch?
Das ist eine Kernkompetenz. Man muss unterscheiden können, ob eine Nachricht z.B. von Russia Today kommt oder eben von der Qualitätspresse.
Man muss also eine Form von kritischer Skepsis entwickeln?
Genau. Vor allen Dingen muss man die Motivationslagen kennen. Es geht dabei immer darum, die Intention desjenigen, der sich am Mediengeschehen beteiligt, zu verstehen. Was ist die Absicht? Welche Institution ist verantwortlich? Wer nutzt diese Anwendung eigentlich? Das halte ich für entscheidend. Man bezeichnet das auch als „critical thinking“.
Sehen Sie bei den Plattformbetreibern Handlungsbedarf, sich einer Wahrhaftigkeitsnorm als Leitmotiv anzunähern?
Aus meiner Perspektive würde das in die falsche Richtung gehen. Die Plattformbetreiber an sich sind das Problem. Wir haben im Moment eine „Medienlandschaft“, die getrieben ist von der sogenannten Plattformökonomie oder auch Datenökonomie. Die großen Plattformbetreiber gibt es ja nicht, damit sie uns als Demokratinnen und Demokraten eine gute Kommunikation ermöglichen können. Sondern es gibt sie, damit sie unsere Daten absaugen und uns dann Werbung zurückspielen können. Das ist ein ganz anderes Leitmotiv.
Das ist eine andere DNA, die in dieser Form der öffentlichen Kommunikation liegt.
Wir müssen eher danach schauen, wie wir neue Wege für eine unabhängige Kommunikation finden und diese wieder in die Hände der Bevölkerung zurückgeben. Das hört sich jetzt pathetisch an, aber das ist der demokratische Grundgedanke.
Die großen Plattformbetreiber gibt es ja nicht, damit sie uns als Demokratinnen und Demokraten eine gute Kommunikation ermöglichen können. Sondern es gibt sie, damit sie unsere Daten absaugen und uns dann Werbung zurückspielen können.
Trotzdem gibt es einige Möglichkeiten, die Plattformen zu regulieren. Hier sind die Entwürfe für den europäischen Digital Services Act oder den Digital Markets Act zu nennen. Ein bisschen hat auch der deutsche Medienstaatsvertrag die Tür in Richtung Algorithmenregulierung, Transparenz und Priorisierung von redaktionellen Inhalten geöffnet.
Es gibt zudem Überlegungen, dass man Formen der regulierten Selbstregulierung international oder global für Plattformen anwendet und sie dazu verpflichtet, eigene Richtlinien zu formulieren, die dann aber auch konsequent global kontrolliert werden müssen. Solche Überlegungen und Regularien sollen bestimmte Formen der Kommunikation nicht nur positiv strukturieren, sondern auch negative Entwicklungen wie Hate Speech unterdrücken.
Ihr derzeitiger Forschungsfokus liegt auf der künstlichen Intelligenz und der öffentlichen Kommunikation. Welche Themenfelder beschäftigen Sie dabei bezüglich Wahrheit?
Ich beschäftige mich sehr viel mit Desinformation oder Desinformationskampagnen und der Rolle, die künstliche Intelligenz dabei spielt. Ich habe dazu gerade mit einem Autorenteam ein Papier zum Thema „künstliche Intelligenz und Wahlen“ veröffentlicht. Hier sind natürlich Wahrheit und wahre Berichterstattung enorm wichtig, weil diese einerseits der Meinungsbildung dienen und andererseits die Vorbereitung des Wahlvorgangs unterstützen. Außerdem gibt es neuere Bestrebungen, mithilfe künstlicher Intelligenz voreingenommene Berichterstattung zu identifizieren, entsprechend eine Warnung zu platzieren oder sogar Vorschläge für alternatives Lesematerial zu machen. Im Bereich der digitalen Content-Moderation passiert gerade sehr viel, was teils begrüßenswert ist. Aber viele Eingriffe der Plattformbetreiber in die Inhalte der Kommunikation bleiben intransparent oder unterliegen rein kommerziellen Interessen und nicht der Wahrheitsfindung. Hier gibt es großen weiteren Forschungsbedarf.
Jessica Hesen (Foto: Plattform Lernende Systeme/Thilo Schoch)
Eva Maria Lütticke (Foto: privat)
Camilla Graubner (Foto: Sandra Hermannsen)