Wahrheit

Unsere Interpretation von Wirklichkeit und was sie bedeutet

Joachim von Gottberg

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift TV DISKURS.

Wenn wir vom postfaktischen Zeitalter sprechen, klingt das so, als hätte es jemals ein faktisches Zeitalter gegeben. Jeder Versuch, Wahrheit als Abbild der Wirklichkeit zu denken oder umzusetzen, muss aber scheitern. Wahrheit ist immer eine Konstruktion unseres Gehirns, wichtig ist, dass wir uns ernsthaft bemühen, möglichst nahe an die Wirklichkeit heranzukommen.

Online seit 01.02.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/wahrheit-beitrag-772/

 

 

 

Die Fragen, wie objektiv Wahrheit ist und ob wir durch sie eine zutreffende Erkenntnis über die Wirklichkeit gewinnen können, beschäftigt schon immer die Philosophen, von Platon über Aristoteles und Kant bis Habermas. Von Wahrheit sprechen wir, wenn eine Aussage, ein Bericht oder eine Dokumentation mit der Wirklichkeit übereinstimmen (vgl. Kolmer 2017). Wenn jemand, der neben uns steht, sagt: „Der Himmel ist blau“, können wir überprüfen, ob die Aussage mit dem übereinstimmt, was wir selbst sehen. Wenn sich die Aussage aber auf einen anderen Ort bezieht und die Information über das Telefon vermittelt wird, kann sie nicht unmittelbar überprüft werden. Wir erhalten die Beschreibung eines Zustands über ein Medium und müssen einschätzen, ob wir sie für richtig oder falsch halten.
 

Eine Frage des Vertrauens und Glaubens?

Oft gibt es keinen Grund, die Aussage zu überprüfen. Der Empfänger einer Nachricht ordnet meistens auf der Grundlage von Erfahrungen sogleich ein, ob der Sender ein Interesse daran haben könnte, die Wirklichkeit anders darzustellen, als sie tatsächlich ist. So entstehen gegenüber bestimmten Personen, Institutionen oder Medien Vertrauen oder Misstrauen.

Wenn die Einschätzung des Wahrheitsgehalts strittig oder von Bedeutung ist, wird versucht, ihn zu überprüfen – heute nennen wir das Faktencheck. Der Begriff suggeriert, man könne Fakten eindeutig erkennen und somit zumindest mit diesen Fakten die Wirklichkeit so zweifelsfrei abbilden, dass das Ergebnis von allen, die an einer Klärung interessiert sind, akzeptiert wird. Das funktioniert zwar selten, kommt aber vor, beispielsweise wenn ein Politiker behauptet, er habe in einer bestimmten Rede etwas gesagt oder auch nicht gesagt – dann kann man diese im Archiv heraussuchen und den Wortlaut überprüfen. Doch selten ist Wahrheit so exakt nachvollziehbar.

Die Wahrheit besteht nicht nur aus dem Bedürfnis, die Wirklichkeit zu verstehen und möglichst objektiv abzubilden, sondern Interpretationen von Wahrheit sind oft auch die Grundlage für Gemeinschaften, sie sind ein „sozialer Operator“ (Kleeberg in Linß/Richter 2022). Das betrifft in hohem Maße Religionen oder Sekten, aber auch politische Parteien oder wissenschaftliche Ausrichtungen. Durch die Säkularisierung und den schwindenden Einfluss fester von allen anerkannten Wahrheitsgemeinschaften – den Weltreligionen – existieren heute verschiedene Wahrheiten nebeneinander, die sich immer mehr ausdifferenzieren.

Der Psychologe Leon Festinger hat 1957 die „Theorie der kognitiven Dissonanz“ aufgestellt: Er beobachtete eine Sekte, die daran glaubte, an einem bestimmten Tag von einer Wolke in das Himmelreich mitgenommen zu werden. Festinger vermutete, die Menschen würden den Glauben an ihre „Wahrheit“ verlieren, wenn die Wolke ausbliebe.

Dies geschah jedoch nicht. Die geglaubte „Wahrheit“ hielt die Gruppe weiterhin zusammen. Die Konfrontation mit der Tatsache, dass die ersehnte Wolke nicht kam, wurde als „dissonant“ zu den eigenen Wünschen empfunden. Deshalb entstanden Erklärungen: Die Gruppe sei noch zu klein, die Propheten hätten sich verrechnet und Ähnliches (vgl. Festinger 1978). Bei der Wahrheit geht es also nicht nur um das Verständnis von Wirklichkeit, sondern sie konstituiert auch den Sinn einer Gemeinschaft.

Durch unterschiedliche Definitionen können Kriege entstehen, andererseits sind diese Wahrheiten so konstruiert, dass sie einer Gesellschaft, einer Gruppe oder einem Individuum helfen, den Alltag zu ordnen, einen Sinn zu erleben und Regeln für ein Zusammenleben zu definieren.
 

Gedächtnis und Lebensbewältigung

Schon bei den einfachsten Berichten über die Wirklichkeit gibt es nur sehr wenige Fakten, die wir aus eigenem Erleben und eigener Anschauung überprüfen können. Selbst wenn wir ein paar Tage später an ein selbst erlebtes Ereignis denken, müssen wir unserer Erinnerung vertrauen. Dabei wissen wir aus der Psychologie und der Neurologie, dass unser Gedächtnis kein Videorekorder ist, der eine Handlung objektiv wiedergibt: Es lässt Teile aus, es interpretiert, angenehme Ereignisse werden in der Erinnerung verstärkt, unangenehme unterdrückt oder umgedreht – je nachdem, ob wir eher Pessimisten oder Optimisten sind (vgl. Elisabeth Loftus in NeuroLoops 2015).

Je mehr wir an einer bestimmten Färbung der Wahrheit interessiert sind, desto eher entfernt sich die rekapitulierte „Wahrheit“ von der Wirklichkeit. Menschen erinnern sich an belastende Ereignisse so, dass sie besser erträglich sind. „Das zeigt, dass das Erinnern jenseits der Fähigkeit, sich zu erinnern, auch noch eine ganz andere Funktion hat. Erinnern hilft uns, mit den unterschiedlichen Ansprüchen besser zurechtzukommen (Christian Gudehus in Gottberg 2012, S. 28).

Dabei agiert das Gehirn ökonomisch: „Nicht alles, was um uns herum passiert, kommt auch in unserem Gehirn an. Von all den Eindrücken und Einflüssen wäre es überfordert. Deshalb greifen wir für unsere Wahrnehmung neben den Sinnen auch auf Vorhersagen aufgrund von Erfahrungen zurück“ (Nicole Wetzel in Kielon 2020). Und weiter: „Wenn wir uns das Ganze aus Entwicklungsperspektive anschauen […] dann stellt dieser Mechanismus, die Verarbeitung von Informationen auf der Basis von Vorhersagen, einen ganz grundlegenden Lernmechanismus in der frühen Entwicklung dar“ (ebd.).

Unser Gehirn handelt nach dem Prinzip „Geschwindigkeit vor Genauigkeit“: bei einer gefährlichen Situation im Autoverkehr hat es nicht die Zeit, alle Möglichkeiten des Handelns abzuwägen. Dabei werden Fehler in Kauf genommen. Unser Gehirn versucht bei allem Erlebten Muster zu erkennen und daraus automatisch Prognosen für zukünftige Ereignisse zu erstellen, daraus entstehen unter anderem Vorurteile. Da das Einschätzen bestimmter Aussagen zum großen Teil unbewusst im „Autopiloten“ ablaufen, ist uns oft nicht klar, warum wir zu einer bestimmten Sichtweise kommen.
 

Zeugenaussagen und Gerichtsurteile: Wahrscheinlichkeit statt Wahrheit

Wie schwer es ist, wahre Begebenheiten „richtig“ wiederzugeben, zeigt die Verwertbarkeit von Zeugenaussagen (vgl. SWR Marktcheck 2020). Der eine behauptet, etwas gesehen zu haben, was ein anderer verneint. Wenn man sich auf etwas Bestimmtes konzentriert, nimmt man anderes nicht wahr. Gerichte bemühen sich, Zeugenaussagen im Kontext mit anderen Beweismitteln zu bewerten und so gegeneinander abzuwägen, dass der Vorgang letztlich zumindest mit einer hohen Wahrscheinlichkeit rekonstruiert werden kann. Fehlurteile zeigen aber, dass das nicht immer gelingt: Wahrscheinlichkeit heißt eben nicht Sicherheit.
 

Die Tücken der Erinnerung: Warum Zeugenaussagen oft so ungenau sind (Vorsicht Verbrechen SWR, 21.07.2020)



Ein Puzzle mit vielen fehlenden Teilen

Auch aus Kriminalfilmen lernen wir, dass die Wahrheitsfindung eine Reihe von Fallstricken und Abwegen bereithält: Oft erweist sich eine zunächst völlig unwahrscheinliche Lösung letztlich als die richtige. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell der Zuschauer bereit ist, sich in eine Story einzufühlen und diese zumindest teilweise als seine Realität zu erleben, obwohl er genau weiß, dass alles erfunden ist. In unseren Träumen sind wir überzeugt, dass unsere Erlebnisse wahr sind, auch wenn sie noch so unsinnig erscheinen. Das, was wir für wahr halten, ist also eine sehr fragile Angelegenheit.

Der Wahrheit kommt man nicht im Beharren, sondern nur im Abwägen verschiedener Positionen oder gar im Streit näher. Die Philosophen Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel haben den Diskurs mit anschließendem Konsens empfohlen. Habermas definiert das, was in einem kontroversen Diskurs letztlich von allen als wahr akzeptiert wird, als Wahrheit: „Die Konsensustheorie der Wahrheit hat den Vorzug, Wahrheit […] als diskursiv einlösbare Geltungsansprüche zu identifizieren“ (Habermas 1973, S. 230). Dabei ist er sich darüber im Klaren, dass das Ergebnis nicht unbedingt wahr sein muss.  

Auch in der Politik geht es auch um den Streit über Wahrheiten. Aber hier muss entschieden werden. In Demokratien spielt eine wichtige Kategorie dabei eine entscheidende Rolle: die Mehrheit der Stimmen. Das Ergebnis wird so durch ein Verfahren bestimmt, kann sich aber im Nachhinein als Fehler herausstellen.
 

Glaubensätze: Es muss passen

Aus einer Erwartung können für Menschen sogar messbare Schmerzen entstehen. Wer bei Impfungen schmerzhafte Nebenwirkungen erwartet, spürt diese oft auch dann, wenn ein Placebo verabreicht wurde. In einer aktuellen Untersuchung wurde ein Drittel der Teilnehmer statt gegen Corona mit einer Substanz ohne jeden Wirkstoff geimpft, und der Anteil der Klagen über schmerzhafte Nebenwirkungen war bei beiden Gruppen etwa gleich hoch. Stark beeinflusst wird dieser sogenannte Nocebo-Effekt (das Gegenteil von Placebo) von einer negativen Erwartungshaltung: Wenn wir von anderen hören, dass es ihnen nach der ersten oder zweiten Impfung besonders schlecht ging, erwarten wir das auch bei uns selbst (vgl. Keitz 2021).

Die meisten Menschen haben allerdings hohes Vertrauen in die Medizin und die Wissenschaft:
 

Abb. 1: Medizin und Wissenschaft genießen großes Vertrauen (Quelle: Ipsos Global Trustworthiness/Statista)


Der Schein trügt

Oft fallen Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinander. Dass die Erde rund ist und um die Sonne kreist, entspricht nicht unserer Wahrnehmung. Galileo Galilei hat mit der Kirche, die die Erde im Mittelpunkt des Universums sah, bis hin zur Androhung der Todesstrafe darüber gestritten. Dabei hat die Kirche über den Papst behauptet, er sei durch göttliche Inspiration unfehlbar in der Interpretation von Wahrheit.
 

Komplexität

Die Wirklichkeit, in die wir hineingeboren werden, ist äußerst komplex und nur sehr eingeschränkt über unsere Sinne erfahrbar. Wie die Materie entstanden ist oder ob sie vielleicht weder Anfang noch Ende hat, können wir heute trotz sehr weit entwickelter Forschung nicht sagen. Je mehr die Naturwissenschaften über die Wirklichkeit des Kosmos erforschen, desto weniger können wir den Wahrheitsgehalt verstehen oder selbst überprüfen: Wir müssen es glauben – oder eben nicht.

Um der Komplexität auf die Spur zu kommen, beschäftigen sich Fachleute in unterschiedlichen Disziplinen mit Ausschnitten der Wirklichkeit und reduzieren so die Komplexität. Aber es wird immer schwerer, aus all den Teilbereichen ein Bild der Wirklichkeit herzustellen. Zwar gibt es interdisziplinäre oder transdisziplinäre Forschungsansätze, in denen unterschiedliche Fachbereiche zusammenarbeiten – dem Physiker und Komplexitätsforscher Prof. Dr. Dirk Brockmann reicht das nicht. Er schlägt „antidisziplinäres Arbeiten“ vor: So soll beispielsweise ein Physiker auch mal in den Sozialwissenschaften arbeiten, um zu schauen, wie er in seinem Fachbereich entwickelte Kenntnisse dort anwenden kann (vgl. Brockman in Phoenix 2021).
 

Irren ist menschlich – kann in der Forschung aber auch helfen

Die Zuverlässigkeit von Informationen ist unerlässlich, um Situationen zutreffend einordnen zu können und um zu verstehen, was beispielsweise zur Optimierung von Maßnahmen führen kann. Die Wissenschaft stellt über die Zusammenhänge in der Welt Hypothesen auf und führt Experimente durch, die im optimalen Fall jederzeit wiederholbar sind und zum selben Ergebnis führen: Damit werden die Hypothesen verifiziert oder auch falsifiziert. Wir haben mit dieser evidenzbasierten Wissenschaft zweifellos viel erreicht.

Aber wie verhält es sich mit Homöopathie? Wir können nicht beweisen, dass sie hilft – doch können wir beweisen, dass sie nicht hilft? Ist nur das wahr, was wir beweisen können? Kritiker der Homöopathie sind dagegen, dass die (privaten) Krankenkassen weiterhin die Kosten für eine Medizin übernehmen, deren Wirkstoffe wissenschaftlich nicht messbar sind (vgl. Wischmeyer 2018; Böhmermann 2019). Aber vielleicht gibt es einen Wirkungszusammenhang, der sich uns bisher verschließt?
 

Homöopathie wirkt* (NEO MAGAZIN ROYALE mit Jan Böhmermann - ZDFneo, 13.06.2019)



Fest steht: Die Fortschritte in der Medizin der letzten 20 Jahre sind beeindruckend. Der Vorteil in der anwendungsorientierten Forschung ist, dass wir an den Ergebnissen sehen können, ob die Hypothesen zutreffen, und ein Mittel wirkt. Dabei ist es aber oft so, dass die Wirksamkeit zwar statistisch nachweisbar ist, man aber den Grund dafür nicht genau erklären kann.

Auch falsche Hypothesen und nicht sorgfältig ausgeführte Experimente können zu brauchbaren Ergebnissen führen. So wurde der Wirkstoff des Potenzmittels Viagra zunächst für die Behandlung von Angina Pectoris getestet (vgl. Metzig 2021). Hier kam es zwar nicht zu den gewünschten Resultaten, bei den Studien zeigten sich dafür andere positive Reaktionen (vgl. Mende 2013). Alexander Fleming entdeckte 1928 das Penicillin durch eine Nachlässigkeit bei seinen Versuchen, was bekanntlich zur Bekämpfung vieler bis dahin unheilbarer Krankheiten führte (vgl. Geo 2017).

Die Wissenschaft hat strenge Regeln entwickelt, um Zufälle, subjektive Interessen oder andere Fehler, so gut es geht, auszuschließen oder zumindest zu reduzieren. Dennoch ist auch sie nicht frei von Irrtümern oder Eitelkeiten. Niemand gibt gern zu, dass sich seine Theorie als falsch herausstellt. 2014 hat eine japanische Wissenschaftlerin angeblich festgestellt, dass man Stammzellen nicht nur aus Embryonen, sondern auch aus menschlichen Zellen herstellen kann. Die Hoffnung war groß, dass die Stammzellenforschung dadurch einen großen Sprung macht, weil die Forschung mit embryonalen Stammzellen ethisch umstritten und zum Beispiel in Deutschland weitgehend verboten ist. Die Meldung wurde in der Wissenschaft gefeiert, doch das Ganze erwies sich als Fake (vgl. Goodyear 2016).

„Das wachsende Misstrauen gegenüber der Wissenschaft liegt unter anderem an bedenklichen Entwicklungen, wie Ökonomisierungen im wissenschaftlichen Bereich, Replikationskrisen, prekären Beschäftigungsverhältnissen, Fehlverhalten einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Plagiatsaffären um bekannte Personen des öffentlichen Lebens. Solche Phänomene bedrohen das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft und verlangen nach einer Reflexion des Verhältnisses von Wissenschaft und Wahrheit“ (Universität Augsburg 2020). Das zeigt: Man kann nie wirklich sicher sein, auch nicht gegenüber der Wissenschaft.
 

Wahrheit und Wahrhaftigkeit

Die Schwierigkeit, Wahres von Unwahrem zu unterscheiden und Informationen mehr oder weniger kritisch und reflektiert einzuordnen, ist also ein altbekanntes Phänomen und war in Zeiten des Mittelalters oder des Nationalsozialismus viel häufiger und oft gefährlicher als heute. Was sich mit den Medien, insbesondere den sozialen Medien, verändert hat, ist die weltweite Verfügbarkeit von Vernünftigem neben Belanglosem, komplett Unsinnigem oder offensichtlich Falschem. Was früher an Stammtischen oder in exzentrischen Zirkeln diskutiert wurde, zirkuliert heute via Facebook, Instagram oder Telegram über den Erdball. Wie sollen wir damit umgehen?

Grundvoraussetzungen dafür sind, seit es Kommunikation gibt: ein gesunder Zweifel sowie das Überprüfen und Hinterfragen von Interessen, die jemand mit einer bestimmten Position verbinden könnte – und eine Recherche, was andere zu dem Thema verbreiten. Diese kritische Kompetenz sollte in der Pädagogik vermittelt werden. Es geht dabei nicht nur um Medien, sondern generell um den Umgang mit Informationsquellen und reicht bis in den Freundeskreis und die Familie. Auch die fachliche Kompetenz sowie die menschliche Integrität und Glaubwürdigkeit sollte man einschätzen: Welche Erfahrungen machen wir mit Menschen, Politikern oder Medien? Jeder kann sich irren oder sich gedanklich verrennen, aber man kann trotzdem wahrhaftig sein: Jeder sollte sich zumindest erkennbar Mühe geben, die Wirklichkeit so zu beschreiben, wie man sie nach bestem Wissen und Gewissen wahrnimmt. Bewusste Lügen oder „alternative Fakten“ sollte man jedenfalls vermeiden, auch wenn sie eine bestimmte subjektive Grundposition unterstützen.
 

Rezeption heißt nicht, jedem alles zu glauben

Glauben die Nutzer den sozialen Medien, auch wenn sie Hass oder ungeprüfte und falsche Fakten verbreiten? Oder ist ihnen bewusst, dass dort jeder ungeprüft so gut wie alles behaupten kann? Einiges spricht dafür, dass selbst diejenigen, die sich passiv oder aktiv in sozialen Netzwerken tummeln, bei Ereignissen größerer Bedeutung doch eher seriösen Medien vertrauen.

„Im Pandemiejahr 2020 ist das Medienvertrauen der Deutschen gestiegen. 56 Prozent der Befragten geben an, der Presse bei komplexen Sachverhalten zu vertrauen. […] Elf Prozent haben der Aussage zugestimmt, dass die Bevölkerung von den Medien systematisch belogen werde. In den Vorjahren lag die Zustimmung zwischen 13 und 19 Prozent. Auch weisen zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger den Vorwurf der ‚Lügenpresse‘ zurück. Das ist der bisher höchste gemessene Wert in der Langzeitstudie“ (Sokola 2021).

Dass soziale Medien genutzt werden, heißt also nicht automatisch, dass man ihnen auch glaubt: „Den größten Vertrauensverlust verbuchen dabei die sozialen Medien, in die 29 % bis 39 % weniger Vertrauen haben als vor zwei Jahren. Nur vier von zehn Deutschen vertrauen zumindest einem Social-Media-Kanal. Am besten schneiden öffentlich-rechtliche Sender und Printmedien ab. Gründe für das mangelnde Vertrauen sind fehlende Kontrollmechanismen und fehlende Objektivität“ (PwC 2018, S. 3).
 

Glaubwürdigkeit der Quellen

Der Nutzen sozialer Netzwerke liegt offenbar vor allem im Austausch mit anderen Personen. Deshalb könnten die Informationen in den Netzwerken etwa so realistisch eingeschätzt werden wie Meinungen von Freunden. Bei wichtigen Nachrichten könnte auf zuverlässigere und professionellere Quellen zugegriffen werden. Bei Instagram ist die Tagesschau sehr beliebt, wie der verantwortliche Redakteur des NDR schildert: „Der Social-Media-Bereich der Tagesschau betreibt Accounts bei Facebook, Instagram, Youtube, Tiktok und Twitter. Ebenso gehören verschiedene Messenger-Dienste (News-Bots) auf Telegram, Facebook Messenger und Apple Imessage zum Portfolio des Teams, wie auch ein Giphy-Account. Mit Beginn des Jahres 2020 gelang es der Tagesschau-Redaktion, sich mit mehr als 12 Mio. Interaktionen pro Monat (Likes, Shares, Kommentare) an die Spitze des deutschen Social-Media-Rankings (Storyclash) zu setzen. Auf Facebook folgen der Tagesschau mehr als 2 Mio. Accounts, 2,75 Mio. sind es auf Twitter, mehr als 700.000 auf Youtube. Auf Instagram konnten wir kürzlich die 2-Mio.-Marke überschreiten, nur wenige Monate nachdem das Team Ende 2019 als erste deutsche Nachrichtenmarke die Mio.-Marke übersprungen hatte. Ebenso gelang der Marktstart auf Tiktok: Der Tagesschau-Tiktok-Account zählt ein halbes Jahr nach dem Launch mehr als 600.000 Followerinnen und Follower, die überwiegend in der bis dato jüngsten erreichten Tagesschau-Zielgruppe der 13- bis 17-Jährigen zu verorten sind. Ein Großteil von ihnen (70 %) ist weiblich“ (Weinhold 2020).

Nach eine von der Rudolf-Augstein-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie informierten sich im April 2020  65,8 % der Befragten im Fernsehen über die Corona-Pandemie, 29 % nutzten dafür das Internet, 19,2 % die Tageszeitung und 9,8 % das Radio. Das zeigt: In Krisenzeiten ist das Fernsehen immer noch die wichtigste Informationsquelle (vgl. Maurer et al. 2021, S. 16, siehe Abb. 2).

 

Abb. 2: Wichtige Informationsquellen während der Corona-Pandemie (© Statista 2021)

 

Fazit

Der Mensch will seit jeher die Wirklichkeit erkennen. Aber die Wirklichkeit offenbart sich ihm nicht, sondern er muss sich durch Beobachtungen, Erzählungen, Interpretationen, wissenschaftliche Methoden, Religionen oder Verschwörungstheorien Bilder schaffen. Phänomene, die wir nicht erkennen oder erklären können, einfach als nicht lösbar zu akzeptieren, ist nicht Sache des Menschen. Früher waren die Götter oder Gott für Katastrophen, Unwetter, Krankheiten oder Wohlstand verantwortlich. Auch heute versuchen viele, in Horoskopen, Sternzeichen oder über Wahrsager Einsicht in das Verborgene zu gewinnen. Auf der anderen Seite können wir inzwischen mit Messungen und Algorithmen per Computer mehr Licht in das Dunkel bringen – allerdings können wir die Methoden meist weder verstehen noch überprüfen.

Insgesamt wäre aber etwas mehr Demut angebracht. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir die Welt nur bedingt erkennen können und zumindest nicht ausschließen, dass auch der andere Recht haben könnte. Je vehementer Menschen ein Bild der Wirklichkeit vertreten, desto vorsichtiger sollte man sein, dies zu glauben und zu übernehmen. Der unfehlbare Pabst, der Galilei wegen einer zutreffenden Theorie auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen wollte, ist ein mahnendes Beispiel dafür.

Die Last zu entscheiden, was man glaubt oder woran man zweifelt, liegt beim Rezipienten. Die Freiheit, dies in unserer Gesellschaft selbst entscheiden zu können, ist ein wesentlicher Fortschritt. Erschreckend an vielen Äußerungen in den sozialen Netzwerken ist weniger, dass es so viele unterschiedliche – manchmal auch absurd erscheinende – Sichtweisen und Meinungen gibt, sondern eher, mit welcher Sicherheit und Überzeugung oft der letzte Unsinn vertreten wird und Andersdenkende niedergemacht werden. Sich selbst bewusst zu sein, dass man sich auch irren könnte, würde uns schon einen Schritt weiterbringen. Ob ein Faktencheck immer die Lösung ist, hängt von der Akzeptanz derer ab, die sie durchführen. Wenn beispielsweise ein Verschwörungstheoretiker solche Systeme für sich selbst als völlig unglaubwürdig definieren würde, weil er den Autoren nicht traut, wäre das Ganze sinnlos.
 

Quellen:

Böhmermann, J.: Homöopathie wirkt*. In: ZDF Magazin Royale, 13.06.2019. Abrufbar unter: www.youtube.com

Festinger, L.: Theorie der Kognitiven Dissonanz. Bern 1978 (Original: A theory of cognitive dissonance. Stanford 1957)

Geo: Antbiotika. Wie Alexander Fleming durch eine Schlamperei das Penicillin entdeckte. In: Geo Chronic Nr. 1 (100 Triumphe der Medizin), 29.05.2017. Abrufbar unter: www.geo.de

Goodyear, D.: The Stress Test. Rivalries, intrigue, and fraud in the world of stem-cell research. In: The New Yorker, 21.02.2016. Abrufbar unter: www.newyorker.com

Gottberg, J. v.: Erinnerung als Erzählung des eigenen Lebens. Gedächtnis, Werte und die Ebene des Handelns. Interview mit Christian Gudehus. In: tv diskurs, Ausgabe 60, 2/2012, S. 26 – 31. Abrufbar unter: tvdiskurs.de

Habermas, J.: Wahrheitstheorien. In: H. Fahrenbach (Hrsg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag. Pfullingen 1973, S. 211 – 265

Keitz, V. v.: Corona-Impfungen. Nocebo-Effekt: Krank werden, weil man es nicht anders erwartet. In: Deutschlandfunk Nova, 22.07.2021. Abrufbar unter: www.deutschlandfunknova.de

Kielon, K.: Wie unser Gehirn Vorhersagen trifft. In: MDR Wissen, 16.05.2020. Abrufbar unter: www.mdr.de

Kolmer. P.: Wahrheit. Ein philosophischer Streifzug. In: Bundeszentrale für politische Bildung, 24.03.2017. Abrufbar unter www.bpb.de

Linß, V./Richter, M.: Corona-Debatte. Meine Wahrheit, deine Wahrheit. Podcast Breitband. In: Deutschlandfunk Kultur, 01.01.2022. Abrufbar unter www.deutschlandfunkkultur.de

Maurer, M./Reinemann, C./Kruschinski, S.: Einseitig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie. Hamburg 2021. Abrufbar unter rudolf-augstein-stiftung.de

Mende A.: Sildenafil. Kein blaues Wunder bei Herzinsuffizienz. In: Pharmazeutische Zeitung, 12.03.2013. Abrufbar unter: www.pharmazeutische-zeitung.de

Metzig, S.: Sildenafilcitrat nun doch als Medikament im Kontext Angina Pectoris? In: Sachsen Fernsehen, 12.07.2021. Abrufbar unter: www.sachsen-fernsehen.de

NeuroLoops: Das Gedächtnis lügt. Warum wir sind, wie wir sind. In: Jaunita Belher, 01.07.2015. Abrufbar unter www.youtube.com

Phoenix:Prof. Dirk Brockmann zu Gast bei Michael Krons. In: Phoenix persönlich, 11.12.2021. Abrufbar unter: www.youtube.com

PwC (PricewaterhouseCoopers GmbH): Vertrauen in Medien 2018. In: pwc.de, Juli 2018. Abrufbar unter: www.pwc.de

Sokola, I.: Langzeitstudie. Vertrauen in Medien deutlich gestiegen. In: Zeit Online, 08.04.2021. Abrufbar unter: www.zeit.de

SWR Marktcheck: Die Tücken der Erinnerung: Warum Zeugenaussagen oft so ungenau sind. In: Vorsicht Verbrechen, 21.07.2020. Abrufbar unter www.youtube.de

Universität Augsburg: Wissenschaft und Wahrheit. Aktueller Sammelband zu Ursachen, Folgen und Prävention wissenschaftlichen Fehlverhaltens. Pressemitteilung 20/62, 13.10.2020. Abrufbar unter: www.uni-augsburg.de

Weinhold P.: Social Media. Wie die Tagesschau-Redaktion Instagram einsetzt. In: Buchreport, 17.09.2020. Abrufbar unter: www.buchreport.de

Wischmeyer, D.: Homöopathie: Der Hokuspokus der Alternativmedizin. In: ZDF heute-show, 16.1.2018. Abrufbar unter: www.youtube.com

[Alle Quellen zuletzt abgerufen: 01.02.2022]