Was ist Wahrheit?
Psychologische Aspekte
Im Johannesevangelium stellt Pilatus diese Frage: „Was ist Wahrheit?“ – ohne auf eine Antwort zu warten. Er will Jesus freisprechen, weil er keine Schuld an ihm findet – und gibt am Ende doch dem Drängen nach, ihn wegen Hochverrats zu verurteilen, weil die Hohepriester das Volk aufgehetzt haben und er die öffentliche Ruhe wiederherstellen will. Nietzsche hat im Antichrist Pilatus als Autor des wichtigsten Satzes der Evangelien gepriesen. Aber noch in anderer Hinsicht ist die Szene wesentlich: Sie zeigt, dass nicht allein die Inhalte, sondern auch das soziale Feld und die in ihm wirkenden Kräfte mitentscheiden, wie viel Wahrheit sich durchsetzen kann.
Die Angst vor Orientierungsverlust
Die Suche nach der Wahrheit hilft uns, „richtig“ und „falsch“, Illusion und Realität zu unterscheiden. Ohne diese emotional begründete Suche, die in dem uralten Überlebenswillen des Animalischen wurzelt, würde uns das Interesse für Logik ebenso fehlen wie das für Metaphysik. Die Mäuse im Labor, die ein Labyrinth erkunden, auch wenn ihr Fressnapf vor und nicht hinter diesem steht, sind die ersten Philosophen. Die erst einmal zweckfrei wirkende Forschung hat ihren Überlebenssinn: Die Tiere fänden sich, wenn es nötig wäre, schneller zurecht.
Die strenge Hüterin der Wahrheit ist die Mathematik; im Protest gegen ihre kühle Majestät neigen manche Philosophen dazu, zwischen dem „Richtigen“ und dem „Wahren“ zu unterscheiden. Unser Alltagsdenken macht da nicht mit. Der Wunsch, sich nicht geirrt zu haben, die Realität richtig und genau zu erkennen und sich in ihr zurechtzufinden, wird von mächtigen Affekten bewacht, in erster Linie der Angst vor dem Orientierungsverlust, in der wir der ältesten und (über‑)lebenswichtigsten Angst des Menschen begegnen: der Angst des Kindes, den Schutz der Mutter zu verlieren.
Die strenge Hüterin der Wahrheit ist die Mathematik; im Protest gegen ihre kühle Majestät neigen manche Philosophen dazu, zwischen dem „Richtigen“ und dem „Wahren“ zu unterscheiden.
Wenn unsere Sinneseindrücke konstant bleiben und sich gegenseitig bestätigen, fühlen wir uns geborgen. Das spiegelt sich in einem typischen Albtraum: Ich habe in einer fremden Stadt den Namen des Hotels vergessen, in dem Ausweis und Geldbörse liegen. Die Angst, dass sich unser sozialer Status als Lüge entpuppt, spiegelt sich auch in dem sogenannten Hochstapler-Phänomen: Ungefähr ein Viertel erfolgreicher und mit korrekten Diplomen ausgerüsteter Personen wird gelegentlich von Ängsten heimgesucht, dass plötzlich jemand kommt und sie als Hochstapler entlarvt.
Zwei Gehirnhälften – zwei Wahrheiten?
Die neurologische Forschung hat herausgefunden, dass unsere beiden Gehirnhälften unterschiedliche Aufgaben haben. Die linke ist (beim „normalen“ Rechtshänder) ein erfindungsreicher Geschichtenerzähler, der ständig naive Vermutungen produziert und sie dem Bewusstsein als Wahrheit anbietet. Wer Pilze sucht, wird bemerkt haben, dass er in dieser „Stimmung“ alles Mögliche in die Form der begehrten Schwämme hineinsieht. Erst bei einem zweiten Blick, gar nach einem prüfenden Handgriff stellt er fest, dass es sich um ein Grasbüschel, ein Stück Holz, einen Stein handelt.
Solche Illusionen bilden sich blitzschnell und verschwinden wieder, wenn wir sie durchschauen und korrigieren. Die menschliche Realitätswahrnehmung (und mit ihr das Empfinden von „wahr“ oder „falsch“, von Wirklichkeit und Täuschung) ist nicht linear, sondern dynamisch. Sie ergibt sich aus der Korrektur schneller Fehlurteile durch langsame Forschung.
Kritische Aktionen, in denen unterschiedliche Wahrnehmungen koordiniert, Eindrücke verglichen werden, steuert (beim Rechtshänder) vor allem die rechte Hirnhälfte. Die linke Gehirnhälfte erzählt Märchen; nicht immer werden diese geprüft. Sie bleiben stehen, wenn es dem Überleben nicht schadet. 90 % der Deutschen halten sich für überdurchschnittlich gute Autofahrer, 90 % der Amerikaner für überdurchschnittlich intelligent: Illusionen, die das Selbstgefühl festigen und so lange bestehen bleiben, wie die Realität keine Korrektur erzwingt (Ramachandran/Blakeslee 2001).
Das Zusammenspiel von naivem Erfinden und kritischer Prüfung dient dem Überleben. Es macht Sinn, einen Schatten im Gehölz, ein Rascheln im Gras als Tiger, als Schlange zu „sehen“ und erst einmal aus möglichst sicherer Entfernung vorsichtig zu klären, ob sich dieser erste Eindruck bewahrheitet. Besser zehnmal zu oft und zu früh eine Gefahr „wahr“-genommen – als einmal zu wenig oder zu spät.
Es gibt also eine erste und eine zweite Wahrheit; an die erste glaube ich, wenn ich kräftig in ein köstlich aussehendes Stück Torte beiße, mit der zweiten muss ich mich abfinden, wenn sich herausstellt, dass die Torte aus kunstreich bemaltem Plastik besteht. Was in unseren Emotionen wurzelt, erleben wir als eine tiefere, buntere, kräftigere Wahrheit als alles, was sich durch Zählen und Messen feststellen lässt. Zur emotionalen Wahrheit gehört der Glaube, zur geprüften das Wissen – und wir müssen uns damit abfinden, dass unser Leben von beidem bestimmt wird.
Das kann doch nicht wahr sein!
Das elementare Gefühl von Wahrheit bildet sich, wenn unser Ich die Wirklichkeit erfasst und festhält: Ich bin, der ich bin, den die anderen mit meinem Namen nennen, ich gehöre an diesen Ort, das sind meine Eltern, das ist meine Jacke, in der mein Personalausweis steckt. Dieses Gefühl stabilisiert sich durch eine weitgehend unbewusste Abgleichung mit den sinnlichen Wahrnehmungen der Umgebung. Unser Nervensystem ist auf diese Funktion zentriert – wie sehr, das bemerken wir in Rauschzuständen, vor allem nach Konsum der sogenannten Halluzinogene (Meskalin, Psilocybin, Lysergsäurediethylamid, kurz LSD).
Sie heben einen Teil der unbewussten Aktivität unseres Nervensystems auf, durch die eine beständige Umwelt hergestellt wird. Gegenstände haben im Halluzinogen-Rausch auf einmal farbige Ränder, wie durch eine schlecht geschliffene Linse gesehen. Der Berauschte erkennt, dass in der Tat die Linse in seinem Auge solche Bilder entwirft. Nur hat sein Gehirn bisher die farbigen Säume ebenso weggerechnet wie die Verzerrungen der Perspektive. Wenn ich im Meskalin-Rausch meine Hand anschaue, ist sie verzerrt, die Finger, die nahe am Auge sind, sind grotesk verdickt – eigentlich das „korrekte“ Bild der Netzhaut, wenn die automatische Korrektur fehlt.
Wir erkennen nur so viel, wie wir verarbeiten und ertragen können.
Unser Bewusstsein entwirft kein genaues Abbild der Umgebung, sondern immer ein Bild, das uns möglichst viel Sicherheit gibt und unserem Überleben dient. Wir erkennen nur so viel, wie wir verarbeiten und ertragen können. Ein Todkranker bedrängt den Arzt mit Fragen, wann er wieder nach Hause gehen kann. Der Arzt nimmt sich Zeit, klärt auf, schildert die körperlichen Beeinträchtigungen. Der Patient begreift, dass es mit ihm zu Ende geht und bedankt sich für das Gespräch. Am nächsten Morgen begrüßt er den Arzt mit der hoffnungsvollen Frage: „Herr Doktor, wann kann ich endlich wieder nach Hause?“
Wo sie unangenehme Wahrheiten gegen angenehme Illusionen tauschen können, sind die meisten Menschen versucht, das auch zu tun. Die beiden wichtigsten Mechanismen, um unerwünschte Wahrheiten vom Erleben fernzuhalten, sind Verdrängung und Verleugnung: In der Verdrängung verschwinden Inhalte vollständig, wir haben zu ihnen keinen besseren Zugang als zum Inneren eines fremden Menschen. In der Verleugnung wird die unerwünschte Realität anerkannt, ist aber ihrer Bedeutung beraubt.
Die Macht dieser Abwehrmechanismen wird vom Ichbewusstsein unterschätzt. Ein Beispiel: Frauen, die ein Kind bekommen haben, können kaum glauben, wie es möglich ist, eine Schwangerschaft in der Weise zu ignorieren, dass die Mutter mit heftigen Bauchschmerzen eine Toilette aufsucht und – ihr Kind gebiert. Solche Ereignisse werden aber immer wieder beschrieben. Ein anderes Beispiel ist der deutsche Soldat, der felsenfest überzeugt ist, nie in seinem Leben einen jüdischen Zivilisten erschossen zu haben, bis er sich als Täter auf der Fotografie eines Kameraden erkennt.
Wo sind die Drachen?
Auf alten Weltkarten sollen unerforschte Bereiche mit „Hic sunt dracones“ („Hier sind Drachen“) betitelt worden sein. Heute ist die ganze Erdoberfläche kartografiert. Nachprüfbares Wissen hat sich vom Konversationslexikon bis zu Wikipedia immens vermehrt. Parallel dazu ist aber die Aufgabe, wahre und falsche Aussagen zu unterscheiden, viel schwerer zu bewältigen, denn die technischen Möglichkeiten stehen dem Lügner so gut zur Verfügung wie dem Wahrheitssucher.
Fotografie, lange ein verlässlicher Zeuge, lässt sich inzwischen komplett manipulieren. Die sinnliche Übermacht von künstlichen Realitäten in Reklame, Weltraumabenteuer oder Superhelden-Melodram tastet nach den narzisstischen Fantasien, die in jedem Menschen schlummern. In den virtuellen Welten von Computerspielen können sich vor allem Jugendliche verlieren. Sie werden süchtig nach Surrogaten von Kampf und schnellem Sieg, nach einer Gegenwelt von Rittern und Drachen, die digital vorgefertigt ist und außer dem Kick des Augenblicks keine Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, keine handwerklichen Fähigkeiten schult, wie das beispielsweise ein Musikinstrument tut.
Das traditionelle Märchen lieferte den Text von Hexen, magischen Tieren und verirrten Königen; die Fantasie der Hörer gab die Bilder dazu. Heute hingegen dringen die Bilder in uns ein. Sie sind von der Realität nicht mehr zu unterscheiden. Es ist möglich geworden, Menschen komplett zu digitalisieren, ein ganz und gar gefälschtes Leben neben das wahre zu setzen. Auf Bildschirm und Kinoleinwand können Marilyn Monroe und James Dean von den Toten auferstehen. Es ist eine komplizierte rechtliche Frage, wem in solchen Fällen die Gage bezahlt werden soll: dem Programmierer? Oder doch den leiblichen Erben der Stars, deren künstliche Bilder neue Texte sprechen und in neuen Szenen agieren.
Leider haben sich die Futurologen geirrt, die uns eine aufgeklärte Zukunft durch die universelle und mühelose Verfügbarkeit über einen großen Teil des Wissens der Menschheit durch das Internet versprachen. Sie haben die Rechnung ohne den Primat der Emotion gemacht, die erst einmal dominiert, woran wir uns orientieren.
Sie haben nicht bedacht, dass die Schnelligkeit, mit der digitale Medien reagieren und Bilder herbeizaubern oder verschwinden lassen, nicht die langsamen, kritisch prüfenden Teile unserer Psyche stimuliert, sondern die schnellen Affekte, in erster Linie (Neu‑)Gier, Angst und Aggression. Die wenigsten millionenfach angeklickten Bildschnipsel auf Instagram oder TikTok orientieren sich an der Suche nach Wahrheit oder nach einer Vermehrung von Wissen. Es geht um Schlüsselreize, um eine weitgehend sinnarme und folgenlose, schnell gefesselte und ebenso schnell schwindende Aufmerksamkeit.
Nicht die seelischen Qualitäten, die es der Menschheit ermöglicht haben, gotische Dome zu bauen, werden in den sozialen Medien unterstrichen und gefördert. Es sind eher die Fähigkeiten des Jägers, des Kriegers, der schnell entscheiden muss, ob er kämpfen oder fliehen soll und in seinem unsteten Leben von der Hand in den Mund nicht über den Augenblick hinaus plant. So wird häufig geurteilt, ehe ein Zusammenhang verstanden ist.
Einfache Lügen beruhigen, komplexe Wahrheiten wecken Unsicherheit. Aber ohne den Respekt vor der Wahrheit und die Fähigkeit, Unsicherheit auf der Suche nach ihr zu ertragen, hat die Menschheit keine Zukunft.
„Schauen wir doch ins Lexikon“, hieß es früher, wenn sich ein Streit über „wahr“ oder „falsch“ entspann. Diese Möglichkeit hat sich vervielfacht; Wikipedia hat eine riesige Fülle an Material gesammelt und geordnet. Was früher tagelange Suche in Bibliotheken klären konnte, findet der versierte Nutzer in wenigen Stunden. Aber der Umgang mit solchen Instrumenten will gelernt sein; je mehr Quellen von Wissen es gibt, desto mehr Ausdauer fordert auch eine Untersuchung, die sich nicht mit Vereinfachungen zufriedengibt.
Aber nicht nur die Sammlung von Wissen, auch die Äußerung von Meinungen hat sich enorm beschleunigt. In vordigitalen Zeiten gab es nach einem kontroversen Text in einer überregionalen Tageszeitung vielleicht fünf oder zehn Leserbriefe. Heute muss der, der sich für solche Leserreaktionen interessiert, durch 500 oder 1.000 Mails scrollen, von denen freilich nur die allerwenigsten argumentieren.
Anfangs hat man auch wüste Beschimpfungen stehen lassen. Sie nahmen überhand und werden in den digitalen Ausgaben der seriösen Presse inzwischen gelöscht; nur in Blogs und Foren treiben sie noch ihr Unwesen. Die Zahl der Menschen wächst, die zu schnellen Urteilen neigen und soziale oder wissenschaftliche Phänomene gar nicht mehr differenziert sehen wollen. Ihre grobianischen Vereinfachungen erleben sie als den einzig denkbaren und richtigen Standpunkt, alles andere ist Wischiwaschi. Einfache Lügen beruhigen, komplexe Wahrheiten wecken Unsicherheit. Aber ohne den Respekt vor der Wahrheit und die Fähigkeit, Unsicherheit auf der Suche nach ihr zu ertragen, hat die Menschheit keine Zukunft.
Literatur:
Ramachandran, V. S./Blakeslee, S.: Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene unseres Bewusstseins. Reinbek bei Hamburg 2001