Wem gehört das Internet?

Yves Bossart im Gespräch mit Evgeny Morozov

Der Internetkritiker und Publizist Evgeny Morozov beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie gesammelte digitale Daten einem Gemeinwohl und der Stützung demokratischer Systeme dienen können. Wie sollten Gesellschaften proaktiv eingreifen, um das Potenzial digitaler Daten für dringliche Aufgaben – wie die Lösung der Klimakrise – auszuschöpfen?

Printausgabe mediendiskurs: 27. Jg., 1/2023 (Ausgabe 103), S. 4-9

Vollständiger Beitrag als:

Verwenden Sie Google Maps?

Ja, eigentlich ständig. Gerade heute Morgen wieder.

Stecken Sie als Kritiker dieser Technologien nicht in einem Dilemma, wenn Sie diese verwenden?

Ich denke, wir sollten diesen Plattformen und ihren Dienstleistungen auf intelligente Art kritisch begegnen und mit den Fingern auf die Richtigen zeigen. Es ist nicht mir als Nutzer und Bürger anzulasten, dass es keine Alternativen zu den vom Silicon Valley angebotenen Onlinekarten gibt.

Man könnte auch sagen: Letztlich haben wir die Macht? Wir können entscheiden, dass wir beispielsweise von Twitter weggehen!

Diese Macht haben wir nicht. Denn wir reden hier von Infrastrukturen, die großer politischer Programme bedürfen. Wenn es in Ihrer Stadt keine Verkehrsinfrastruktur gibt, erwartet man ja auch nicht von Ihnen, dass Sie die Straße bauen. Fehlende Infrastruktur ist das Versagen kollektiven Handelns. Hier muss die Öffentlichkeit aktiv werden. Deshalb sollte nicht der Einzelne unter einem moralischen Dilemma leiden, das auf einem politischen Scheitern beruht. Denselben Fehler machen wir auch in Bezug auf das Silicon Valley: Wir sehen das Versagen des kollektiven Handelns der Politik als unser eigenes moralisches Scheitern – was schlicht nicht stimmt.
 


Fehlende Infrastruktur ist das Versagen kollektiven Handelns.



Sie würden sagen, Facebook, Google … sind Teil einer öffentlichen Infrastruktur, weswegen die Politik sich ihrer annehmen sollte.

Das ist politisch, aber auch historisch so. Google Maps geht auf einen großen Auftragnehmer des Pentagons zurück, den Google mitsamt den Daten übernahm. Diese wurden mit öffentlichen Geldern gesammelt. Es sind – historisch gesehen – also öffentliche Daten. Wir müssen uns der politisch wichtigen Frage stellen, ob wir das derzeitige Arrangement überstürzt getroffen und den privaten Akteuren zu viel Macht überlassen haben – in der Annahme, es handle sich dabei um ein Marktphänomen und nicht um Fragen, die politisch erörtert werden sollten. Nun gilt es sicherzustellen, dass wir nicht noch mehr aufgeben im Kontext von Cloud-Computing und Quantencomputern. Wir müssen es langsamer angehen und etwas von dem, was wir in den letzten 20 bis 30 Jahren preisgegeben haben, zurückfordern.

Für Nutzerinnen und Nutzer ist es sehr bequem, all diese Dienstleistungen zu verwenden, weil sie gratis sind. Wir wissen, es ist nicht ganz gratis, sondern wir bezahlen mit unseren Daten. Dafür sehen wir dann personalisierte Werbung. Das ist das Geschäftsmodell. Was ist das Hauptproblem an diesem Geschäftsmodell?

Wir müssen zuallererst die extreme Komplexität ihres Geschäftsmodells verstehen. Die Nutzerdaten, die Google über die einfache Suche sammelt, fließen in die Ausgestaltung komplexerer Dienstleistungen im Bereich künstlicher Intelligenz ein, die dann an Regierungen und Unternehmen weiterverkauft werden – für Dinge, die nichts mit der Suche zu tun haben. Bei diesem Geschäftsmodell sind die Personen, die online nach Schuhen oder einem Restaurant suchen, nicht die eigentliche Zielgruppe. Diese Unternehmen erzielen ihren Umsatz vor allem mit Dienstleistungen für unsere Gesundheits-, Bildungs- und Verkehrssysteme. Die Daten, die für den Aufbau und das Funktionieren der dafür notwendigen künstlichen Intelligenz und das Cloud-Computing gebraucht werden, kamen von uns. Ist es deshalb in Ordnung, dass unsere Regierungen für die Nutzung dieser Dienste bezahlen? Diese Unternehmen versuchen, solchen Fragen auszuweichen, weil ihre Geschäftsmodelle sonst hinterfragt werden. Plötzlich müssten sie Steuern zahlen und ihre Daten teilen. Möglicherweise müssten sie staatliche Interventionen akzeptieren, die sie bisher strikt abgelehnt haben.

Sie meinen, die Zeit, wo nur Daten gesammelt wurden, ist vorbei. Jetzt werden smarte Dinge verkauft, in denen künstliche Intelligenz steckt, die mit unseren Daten informativ angereichert wurde. Sie haben damit einen Wettbewerbsvorsprung. Und es ist unverständlich, warum Nutzer:innen für ihre eigenen Daten bezahlen sollen.

Hier besteht ein breites Unverständnis. Viele Menschen denken, dass künstliche Intelligenz entweder vom Himmel fällt oder von genialen Typen in Kapuzenpullis und Flip-Flops in einer Garage im Silicon Valley entwickelt wird. Tatsächlich sind es aber in erster Linie wir Nutzer:innen, welche die Daten liefern und die Instrumente schlauer machen. Google stellt Ihnen gelegentlich die Aufgabe, aus einer Reihe von Bildern diejenigen mit Ampeln oder Autos auszuwählen und anzuklicken, um auszuschließen, dass Sie ein Spammer sind oder Malware vertreiben. Beim Ausfüllen dieser Captchas, wie sie genannt werden, trainiert man aber die Bilderkennungssoftware von Google, die so befähigt wird, ein Auto von einem Tier und ein Tier von einer Ampel unterscheiden zu können. Wer aber war ausschlaggebend für diese Fähigkeit? Sind es wir mit unserer Vorleistung für das Unternehmen? Wenn ja, warum sollten wir dann als Bürger:innen für die Anwendung auch noch zahlen müssen?

Aufgewachsen sind Sie in Weißrussland. Studiert haben Sie in Bulgarien und eine Zeit lang waren Sie in Berlin für eine NGO … Mich interessiert biografisch: Wann hat das bei Ihnen angefangen, dass Sie gemerkt haben: „Das läuft in die falsche Richtung. Ich will kein Nerd sein, der da mitentwickelt, sondern die Dinge kritisieren.“

Nun, ich habe mich schon früh sehr für Computer interessiert. Meine Eltern haben mir einen Computer geschenkt, als ich 12 oder 13 Jahre alt war. So gesehen war ich ein ziemlicher Nerd, der ins Programmieren eintauchte. Über dieses Interesse an Computern stieß ich auf die Welt der Neuen Medien. Bevor der Begriff „Social Media“ aufkam, sprach man in den frühen 2000ern über die Neuen Medien, über die politische Macht von Blogs, sozialen Netzwerken und Textnachrichten. Der US-Präsidentschaftskandidat Howard Dean beispielsweise nutzte Textnachrichten und Blogs für sein Fundraising. Vor Obama und vor Bernie Sanders gab es 2004 diese Hoffnung auf einen Parteirebellen, der über Geldspenden die Tradition der Demokratischen Partei aufbrechen könnte …

Ein Instrument der Freiheit, der Demokratie …

Und gleichzeitig auch eine sehr populistische Botschaft. Ganz normale Menschen würden dank dieser neuen Technologien in der Lage sein, den Status quo zu durchbrechen. Bei mir schlichen sich leise Zweifel an dieser Mythologie ein. Ich arbeitete für die NGO Transitions Online. Wir waren vor allem in Osteuropa aktiv, wo wir mit regierungskritischen Aktivist:innen, Oppositionellen und Journalisten im Gespräch waren, um sie – nach dem Vorbild von Howard Dean – mit diesen neuen Medien vertraut und somit schlagkräftiger zu machen. Irgendwann wurde mir klar, wie naiv wir waren. Die Regierungen und die westlichen Unternehmen hatten ganz andere Pläne. Sie sahen diese Werkzeuge nicht als Instrumente der Befreiung, sondern als Instrumente der Kontrolle, als Maschinen zum Geldverdienen. Dann fanden diese beiden Logiken zusammen, die Logik der Regierungen, diese Werkzeuge für Zwecke der Überwachung, der Zensur, der Verbreitung der Propaganda und für Cyberangriffe zu nutzen. Und die Logik der Unternehmen, über den Verkauf der Werkzeuge und Dienstleistungen mit ihren Plattformen Geld zu verdienen. Wir setzten diese jungen Aktivist:innen einem großen Risiko aus, als wir ihnen rieten, Blogs und soziale Netzwerke für ihre regierungskritischen Proteste zu nutzen. Die Regierungen wussten um die Sicherheitslücken; und die jungen Leute organisierten im Wesentlichen ihre eigene Verhaftung oder sogar – noch schlimmer – ihre Misshandlung und Folter. Ich sah, dass wir einer Utopie nachhingen. In dieser demokratischen Utopie gäbe es keine Manipulation, keine staatliche Einmischung, keine Fake News, keine Zensur, keine Überwachung. Tatsächlich landeten wir genau am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Mir war das schon 2010/11 klar.

Es gab eine Radikalisierung in Ihrem Denken, die mit Ihrer Frau zu tun hat, Francesca Bria. Sie ist in Italien eine der führenden Figuren im Bereich „Innovation der Digitalisierung“. Wie hat sie das geschafft?

Ich bin geprägt vom Erbe der Dissidenten und dem Kampf gegen die Regierungen in Osteuropa. Wir schätzten die amerikanische und die westliche Kultur – Jeans, Hollywood, Coca‑Cola. Westeuropäischer Dissens war mir weitgehend unbekannt. Erst durch meine Frau begegnete ich einer anderen radikaleren, kritischeren Perspektive auf Politik, Geopolitik und Wirtschaft. Wir führen diesen Dialog nun schon seit zehn Jahren, lernen voneinander. Ihre Arbeit war immer viel näher an den sozialen Bewegungen und Aktivist:innen. Als Chief Technology Officer hatte sie eine prominente Rolle in Barcelona unter der Bürgermeisterin Ada Colau.
 


Es geht nicht nur darum, billiger einzukaufen oder billiger zu fliegen und sich unterhalten zu lassen.



Bei dieser Position geht es darum, die Bürger:innen in die Entscheidungsprozesse über digitale Technologien einzubinden, sich also nicht vor der Technologie zu verstecken, sondern die Politik egalitärer und gerechter zu gestalten. Es stellen sich dabei ganz praktische Herausforderungen. Als intellektueller Theoretiker habe ich das bis zu diesem Zeitpunkt irgendwie vernachlässigt. Seitdem denke ich viel pragmatischer. Welche politischen Maßnahmen können wir ergreifen, was können Städte tun, was können Nationalstaaten tun? In welche Richtung sollten wir gehen – außer Start-ups zu fördern, Gründerzentren aufzubauen und riesige Kapitalgeber flüssig zu halten, wie das bisher von den Regierungen gehandhabt wurde?! Was wäre darüber hinaus machbar, wenn wir uns nicht nur um Verbraucher und Risikokapitalgeber kümmerten, sondern um die Bürger:innen? Denn sie sind ja Eltern, Nachbarn, auch Aktivisten, denen die Umwelt am Herzen liegt. Sie müssen in dieser Debatte auch gehört werden. Es geht nicht nur darum, billiger einzukaufen oder billiger zu fliegen und sich unterhalten zu lassen.

Die US-Ökonomin Shoshana Zuboff hat den Begriff des Überwachungskapitalismus geprägt, den sie so beschreibt: „Er beruht auf der Entdeckung, dass die private menschliche Erfahrung der letzte unberührte Rohstoff sein sollte, der für die Gewinnung, die Produktion, die Vermarktung und den Verkauf zur Verfügung steht. Menschen, d. h., wir wurden zu einer handelbaren Ware. Die Konsequenzen aus dieser Entwicklung erschüttern die Demokratie in ihren Grundfesten. Sie verändern unser tägliches Leben. Sie stellen die Gesellschaftsverträge infrage, die wir von der Aufklärung geerbt haben, und bedrohen die Überlebensfähigkeit der menschlichen Freiheit, genau wie es vorhergesagt wurde. Auch wenn die Demokratie unter Beschuss steht, so ist sie doch der einzig mögliche Ausweg.“ Was denken Sie, wie groß ist die Gefahr für unsere Demokratien?

Sie ist groß. Zum einen auf individueller Ebene: Angst und Sorge haben zu einem Kontrollverlust geführt. Die Inhalte im Netz könnten manipuliert sein, was uns als politische Subjekte beeinträchtigt. Dann besteht auch eine institutionelle Gefahr. Wir sind Gefangene der Lösungen geworden, die diese Unternehmen anbieten, und bauen die Gesellschaft um sie herum anstatt umgekehrt. Nachdem die KI erfunden worden ist, sind wir nun angehalten, unser Gesundheitswesen um die Sensoren herum auszurichten, die wir tragen und mit denen wir uns selbst überwachen. Dies geschieht, weil das die einfachste Art für Google, Facebook, Amazon oder Microsoft ist, Geld zu verdienen. Dabei verpassen wir es aber, robuste Gesundheitsinstitutionen aufzubauen, die uns helfen würden, Ressourcen zu bündeln, Risiken zu kollektivieren und ein sinnvolles und möglichst angstfreies Leben zu führen. Ihre Geschäftsmodelle begünstigen ein Gesundheitssystem der ständigen Überwachung. So ist ihr Geschäftsmodell zur Normalität geworden. Man präsentiert es uns als Lösung für ein wichtiges Problem wie das Gesundheitswesen. Dem sollten wir mit Ablehnung begegnen. Anstatt auf ihre Lösungen zu setzen, sollten wir das Gesundheitswesen neu denken. Wir müssen Gesundheitsversorgung neu definieren, digital, aber auch gerecht, ohne die Verantwortung uns allen aufzubürden, denn es besteht die Gefahr, dass wir uns mit den tief hängenden Früchten zufriedengeben und auf ehrgeizigere strukturelle Maßnahmen verzichten. Ich meine nicht, wir sollten uns gegen technische Lösungen stellen, aber wir sollten uns nicht mit falschen Erklärungen für unsere Probleme abspeisen lassen, die real sind und nicht nur auf unserem individuellen Versagen beruhen.

Das ist das, was Sie Solutionismus nennen, dass man gesellschaftliche Probleme mithilfe von Technik (beispielsweise einer App) lösen kann. Auf dieses Denken, sagen Sie, sind wir reingefallen.

Wir müssen uns ehrlicherweise aber auch eingestehen, dass wir mit dieser Technik die Probleme nicht wirklich lösen, sondern ihre Auswirkungen auf ein akzeptables Maß reduzieren, ohne die zugrunde liegenden Ursachen anzugehen. Das zeigt sich auch beim Klimawandel. Wir begegnen der globalen Erwärmung mit abmildernden Maßnahmen, ohne irgendetwas an der Art und Weise zu ändern, wie wir wirtschaften. Man bietet uns alle möglichen Geräte und Lösungen an, dank denen die Welt leb- und überlebbarer wird. Damit bewegen wir uns immer mehr in Richtung einer schönen neuen Welt, wie Aldous Huxley sie beschrieben hat, in der unser Vergnügen nur das Ergebnis einer Halluzination ist, welche durch Pillen und medizinische Eingriffe ausgelöst wurde. Ich fürchte, dass die digitale Realität, in der wir leben, wenig bis nichts dazu beiträgt, den Hunger in Afrika zu überwinden, die Energiekrise zu lösen, unsere Lebenszeit zu verlängern. Sie sorgt einzig dafür, dass jemand seine Lösungen verkaufen und daran verdienen kann. Jeff Bezos fliegt ins All und Elon Musk kauft einen weiteren Dienstleistungsanbieter. Was an Aktivität geschieht, ist relativ trivial. Man versucht nicht einmal, ehrgeizig oder radikal zu sein.

Man könnte sagen, dass diese großen Konzerne zerschlagen werden müssen – wie damals die Öl- und Stahlkonzerne. Oder?

Es gibt mehrere Gründe, warum dies nicht geschieht. Auch geopolitische. Eine Aufspaltung der Unternehmen in den USA würde einzig China in die Hand spielen, dessen Internetkonzerne dadurch zu Weltmarktführern würden. Das weiß man natürlich im Silicon Valley. Bei seinen Anhörungen vor dem Kongress verpasst es Mark Zuckerberg nicht, darauf hinzuweisen, dass die Zerschlagung seines Konzerns unweigerlich zur Stärkung seiner Mitbewerber wie Alibaba oder Tencent führt. Ich denke, das wird aus geopolitischen Gründen nie geschehen. Aber auch ohne diese geopolitische Herausforderung würde eine Aufspaltung in 20, 30 kleine Facebooks letztlich auch nicht viel bringen. Im Hinblick auf ein ehrgeiziges, kühnes Programm zur sinnvollen Gestaltung der Kommunikation von Menschen, Bürgern und Institutionen hilft es nicht, mit 50 verschiedenen Gruppen sprechen zu müssen. Die Zerschlagung ist also nicht die Lösung.

Was heißt das? Wollen Sie all diese Firmen verstaatlichen?

Es braucht nicht unbedingt den Staat, schon gar nicht als Betreiber der einzelnen Dienste, die auf digitalen Infrastrukturen gründen. Aber es sollte einige grundlegende Voraussetzungen geben, nach denen neue Dienste aufgebaut werden können. Bestimmte Prozesse bei der Suche, der Erstellung und der Organisation von Information wird der Markt nie lösen, weil es einfach nicht profitabel ist. Es lohnt sich nicht, akademische Artikel und hochwertige Videos zu kuratieren, die nicht von Katzen handeln. Katzenvideos sind profitabel, weil jeder sie sehen will.

Gegenbeispiel: Nehmen wir Wikipedia. Da ist etwas entstanden, das ziemlich gut ist …

Niemand sagt, dass das schlecht ist, aber Wikipedia ist als privat finanzierte Einrichtung auf unsere Spenden und die Zuweisungen von großen Technologieunternehmen angewiesen. Würden Sie ein durch Wohltätigkeit finanziertes Modell auch bei Ihrer Gesundheitsversorgung akzeptieren? Wollen wir es einfach der Gnade wohltätiger Leute überlassen? Dann floriert Wikipedia so lange, wie Elon Musk und Jeff Bezos es unterstützen.
 


Es lohnt sich nicht, akademische Artikel und hochwertige Videos zu kuratieren, die nicht von Katzen handeln. Katzenvideos sind profitabel, weil jeder sie sehen will.



Was bedeutet das aber langfristig? Will man bei den fortschrittlichen Technologien in 20 Jahren konkurrenzfähig sein, reicht das Crowdfunding nicht. China investiert 300 Mrd. Dollar in Mikrochips. Diese geopolitischen Gegebenheiten hat man in Europa weitgehend ignoriert. Aus Bequemlichkeit. Und in der Annahme, sich bei den Amerikanern oder in China eindecken zu können. Dies führt unweigerlich in eine Abhängigkeit.

Sie schlagen vor, unsere Daten kollektiv zu nutzen. Was meinen Sie damit?

Nun, wir sind soziale Wesen. Wir interagieren miteinander. Dadurch hinterlassen wir normalerweise eine Datenspur. Diese Spuren sind in derzeitigen Systemen sehr chaotisch verteilt. Wenn ich einen Verkaufsautomaten nutze, hinterlasse ich dort eine Datenspur. Verwende ich mein Smartphone, weiß die 5‑G-Antenne, wo ich bin. Der Bus, den ich benutze, weiß, dass ich in ihm sitze. All diese Dienste, die von unterschiedlichen Privatunternehmen betrieben werden, sind eigentlich Datensilos. Die dort gespeicherten Daten können nicht untereinander kommunizieren, was es unmöglich macht, sie sinnvoll für Planungszwecke zu nutzen.

Angesichts unserer großen Probleme wie dem Klimawandel sollten wir die Ressourcen aber effizienter nutzen können. Unsere Busse sollten nur dorthin fahren, wo tatsächlich Menschen auf sie warten, damit wir kein Benzin verschwenden. Private Akteure führen solche Maßnahmen nicht ein, sie denken nicht ganzheitlich, sondern interessieren sich nur für ihren kleinen Bereich.

Das heißt, wir brauchen viele Daten, aber wir müssen sie zusammenbringen und vernetzen, damit wir zu neuen Lösungen kommen.

Genau. Ich bin ja nicht technikfeindlich. Daten machen bestimmte Dinge besser. Eine gute Datenlage erlaubt es den Bürger:innen, Alternativen aufzuzeigen, über die sie dann im Planungsprozess für eine Brücke oder Straße diskutieren können. Wenn genügend Daten vorhanden sind, können wir die Zukunft modellieren und Bürger:innen in die Entscheidungsprozesse einbeziehen. Das wirkt der Entfremdung entgegen. Das Angebot, auf digitalen Plattformen, nicht Facebook, mitzudiskutieren, führt zu einer stärkeren Einbindung. Damit erhält der politische Prozess etwas vom Glanz zurück, den er verloren hat. Dies alles ist aber nur möglich, wenn das Konzept einer intelligenten Stadt nicht privaten Firmen überlassen wird. Man muss es mit einer ganzheitlichen Strategie angehen. Privatunternehmen sollten innerhalb dieser Strategie durchaus mitwirken können. Aber eine solche ganzheitliche Strategie betrachtet die Datenebene als eine Ressource zur Belebung unseres demokratischen Systems und nicht als Mittel zum Zweck, Waren zu verkaufen oder Daten zu sammeln, die diese Unternehmen dann an Werbetreibende weiterverkaufen.

Das klingt aus meiner Sicht ziemlich radikal. Alles, was die EU gerade macht, mit der Datenschutz-Grundverordnung, dem Digital Services Act … Das ist alles für Sie nur Symbolpolitik?

Nun, es besteht eine kognitive Dissonanz zwischen dem Wunsch, die Demokratie zu schützen, und der Unfähigkeit, demokratische Institutionen im modernen digitalen Zeitalter tatsächlich bereitzustellen. Dieses Problem existiert, weil es uns in Europa schon peinlich geworden ist, über Demokratie zu sprechen. Wir begrenzen die Demokratie auf die Wahlurne. Die Bürger:innen stimmen nur einmal in sechs Jahren ab. Alles andere geschieht auf dem Markt, man stimmt also mit seinem Geldbeutel ab. Dabei muss die Privatsphäre gewahrt bleiben. Wir müssen dafür sorgen, dass man mit der Brieftasche abstimmen kann, wie man will, ohne dass jemand Kenntnis darüber hat, was man kauft und tut.
 


Es besteht eine kognitive Dissonanz zwischen dem Wunsch, die Demokratie zu schützen, und der Unfähigkeit, demokratische Institutionen im modernen digitalen Zeitalter tatsächlich bereitzustellen.



Eine stabile und funktionierende Demokratie braucht auch andere Möglichkeiten der politischen Beteiligung. Diese gilt es aktiv zu fördern. Das geht nur über neue Institutionen, die Einbeziehung der Menschen in die entsprechenden Entscheidungsfindungen. Wir wollen ja Bürger, die sich einbringen und etwas Sinnvolles beitragen. Als kreative politische Subjekte, die über andere Dinge als Kostenminimierung und Produktionsoptimierung nachdenken.

Leider fußt unser politisches System aber auf jenem Modell, das die Bürger:innen im Wesentlichen als Menschen im Produktionsprozess behandelt. Entweder als die Heldenfigur der Unternehmer:innen, die in der Garage neue Dinge erfindet, oder als Verbraucher, die beim Marktreferendum mit dem Geldbeutel abstimmen.

Das wird nicht reichen, um den Herausforderungen aus China oder dem Silicon Valley mit seinen düsteren extremistischen Schattierungen zu begegnen.

Wir sprechen zwar oft über Rechtsextremismus, Populismus und Extremismus. Dabei wird aber oft vergessen, dass der trendige Rechtsextremismus dort seinen Ursprung hat. Mit Leuten wie Peter Thiel, der als Investor rechtsextreme Bewegungen finanziert, die der Demokratie mit Hass begegnen. Es ist ihnen ein Leichtes, die schwache rhetorische Fassade zu durchbrechen, die wir in Europa aufgebaut haben. Im Glauben, dass es ausreicht, den Menschen Privatsphäre und einen Raum zu geben, in dem sie ihr ruhiges privates Leben leben können. Und dass die Demokratie überlebt, so lange sie wählen gehen.

Wir müssen mehr tun! Proaktiv sein! Und die Technologie nutzen, um neue Institutionen aufzubauen. Denn sonst erliegen wir diesem System der Kontrolle und der prädiktiven Überwachung, welches die rechtsextremen Bewegungen aus dem Silicon Valley fördert und demokratischere Alternativen untergräbt.

Sie selbst haben vor einigen Jahren ein eigenes Projekt gestartet, „The Syllabus“. Sie verschicken jede Woche einen Newsletter mit wichtigen, guten Informationen aus dem Netz zu einem bestimmten Thema. Es ist kuratiert und kostet Geld. Was war die Grundidee?

Wir haben menschliche Kuratoren, die auswählen, was wichtig ist, und die letztlich für den Content Verantwortung übernehmen. Wenn Nutzende glauben, wir schicken ihnen Fake News, können sie uns zur Rechenschaft ziehen.

Aber wir präsentieren uns nicht als Werkstatt, in der wir, umgeben von Papier, sitzen und jeder 10 Mio. Artikel durchgeht. Natürlich nutzen auch wir Algorithmen. Die Frage aber ist, wo im Produktionsprozess man die Algorithmen einsetzt. Lässt man den Algorithmus entscheiden, was wichtig ist, oder lässt man ihn eine Shortlist erstellen, aus der dann ein Kurator auswählt? Die Idee für „The Syllabus“ entstand, weil ich das Gefühl hatte, dass in dieser vollständig privatisierten digitalen Welt wichtige Themen untergehen. Ausschlaggebend ist der kleinste gemeinsame Nenner. Wir wollen uns über Donald Trump lustig machen, Tiervideos schauen – aufregende und provokative Inhalte bekommen den Vorzug vor gewichtigeren Themen, obwohl dazu auch Material vorhanden ist. Öffentliche Institutionen, Bibliotheken, Galerien, Thinktanks produzieren tonnenweise interessante und relevante Inhalte, die uns helfen könnten, den Klimawandel oder das Problem der Ungleichheit anzugehen. Nur bekommt sie niemand zu sehen, sie gehen unter. Mit „The Syllabus“ wollte ich die öffentlichen Institutionen beschämen. Es ist ihre Aufgabe, zu kuratieren, zu finden und zu informieren. Deshalb haben wir die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten, die Museen und die Bibliotheken gegründet. Die aber drücken sich vor ihrer Verantwortung – mit der Ausrede, dass sie Milliarden an Investitionen in Technik und Talente bräuchten, um sich mit Google zu messen. Ich wollte ihnen zeigen, dass es auch mit einem Minimum an Ressourcen, ohne staatliche Mittel und Risikokapital geht. Ich wollte ihnen zeigen, dass man in den Markt um Aufmerksamkeit eingreifen kann. Wir können und wir sollten etwas tun.
 

Die Inhalte des Interviews beruhen auf der Sendung Sternstunde Philosophie vom 25. September 2022.