Wenn das Eckige ins Runde soll

Politische Meinungsbildung und fiktionale Fernsehangebote

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Das Thema ist schwierig. Einerseits hat Politik bei vielen Menschen derzeit keinen guten Ruf – „die da oben“ machen ja angeblich doch nur, was sie wollen. Und dann bedeutet fiktionales Fernsehen doch vor allem Spannung und Gefühl, Menschen und ihre Schicksale, egal ob als Tragödie oder Komödie. Aber andererseits kommt beides nicht ohne das jeweils andere aus – politische Meinungsbildung geschieht auch über fiktionale Fernsehangebote, und die kommen gar nicht umhin, wenigstens gelegentlich Politisches oder Politik zu thematisieren.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 44-47

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Hintergrund dieses Umstandes ist, dass das Fernsehen unbestritten ein Forum gesellschaftlicher Diskurse darstellt, politische Diskurse eingeschlossen (vgl. Newcomb/Hirsch 1986). Dazu tragen alle Programmangebote bei, nicht nur nonfiktionale und informative: Auch ein Quiz ist ein Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion von „Leistung“, auch eine Soap Opera kann zum gesellschaftlichen Agenda Setting beitragen, wofür in Deutschland mehr als jede andere Produktion seit 1985 die Lindenstraße steht (vgl. Dörner 2001, S. 173 ff.). Der zweite Punkt macht sich gleich in Gestalt mehrerer Phänomene bemerkbar. Egal wie privat oder alltagsnah das Thema einer fiktionalen Produktion ist, politische Entscheidungen setzen oft Rahmenbedingungen: eine Liebesgeschichte um ein gleichgeschlechtliches Paar – dürfen sie heiraten, dürfen sie ein Kind adoptieren? Eine Krankenhausgeschichte über einen todkranken Krebspatienten – darf er über seinen eigenen Tod bestimmen? In manchen Genres ist die Nähe zur Welt der Politik schon durch das auftretende Personal gegeben: Kriminelles Verhalten lokaler Politprominenz hat schon so mancher Folge eines Serienkrimis ihren Stoff gegeben, und die ermittelnde Polizei hat allein aufgrund ihrer Position als Repräsentantin staatlicher Ordnung einen indirekten Bezug zur Politik.

In all diesen Fällen werden als Konsequenz Vorstellungen von Politik vermittelt, ob beabsichtigt oder nicht. Und dann kann Politisches schließlich auch direkt als Thema dienen, politische Akteure als Protagonisten oder politische Orte als Setting.
 

Eine bessere Welt ist möglich … aber nur eine Zeit lang

Lange vor der Lindenstraße waren es vor allem einige Produktionen aus den frühen 1970er-Jahren, der Zeit der ersten sozialliberalen Koalition, die den kulturellen Wandel der BRD mit politisch ambitioniertem fiktionalem Unterhaltungsfernsehen begleiteten. Rainer Werner Fassbinders kapitalismuskritische Miniserie Acht Stunden sind kein Tag (1972/1973) spielte in der Welt von Industriearbeitern, zeigte ihre Kämpfe, ihren Alltag und ihre Träume – ein radikales Gegenprogramm zu konventionellen Familienserien. Ab 1973 brachte Wolfgang Menge zeittypische Konflikte zwischen reaktionären Vätern und progressiven Kindern ausgerechnet in Form einer Familien-Sitcom mit aufklärerischen Absichten ins Fernsehen. Ein Herz und eine Seele basierte zwar auf einer englischen Vorlage (Till Death Us Do Part), die aber für deutsche Verhältnisse komplett umgeschrieben wurde.
 


Solche Produktionen blieben aber Episode und Ausnahme. Wenn danach Politik und Politisches in fiktionalen Fernsehproduktionen prominent vorkamen, geschah dies auf andere Weise und unter anderen politischen und medialen Bedingungen. Während in den 1970er-Jahren die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse ein großes Thema war, setzte sich danach immer mehr das von der ehemaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher eingeführte Diktum „there is no alternative“ durch. Wenn eine bestimmte Politik als „alternativlos“ bezeichnet wird, ändern sich damit natürlich auch die diskursiven Ausgangsbedingungen im kulturellen Forum Fernsehen. Während bei Acht Stunden sind kein Tag und Ein Herz und eine Seele ein Primat der politischen Ambitionen erkennbar war, zeichnet neuere Produktionen ein Primat der Befolgung medialer Spielregeln aus – womit sie gleichzeitig auch gut zu heutiger Politik passen.
 


Das Eckige und das Runde

Einer Redewendung zufolge geht es beim Fußball darum, dass das Runde ins Eckige muss – beim Verhältnis von fiktionalem Fernsehen und Politik ist es umgekehrt. Für das Unterhaltungsmedium Fernsehen sind fiktionale Angebote Kernbestandteil und im übertragenen Sinn eine runde Sache – Handlung, Akteure und Setting ermöglichen Spannung, Anteilnahme und im besten Fall das Eintauchen in faszinierende Bildwelten. Politik als Themenfeld mit schlechtem Leumund zeigt sich dagegen als ziemlich sperrig, um nicht zu sagen: eckig.

Dieser erste Eindruck gewinnt bei näherem Hinsehen an Plausibilität. Typisch für „Politik“ im allgemeinen Sinn ist das vernetzte Handeln vieler Akteure über längere Zeiträume. Die Resultate politischer Arbeit sind nur in Ausnahmefällen sofort sichtbar und eindeutig, also auch nicht immer gleichbedeutend mit Sieg oder Niederlage einer Seite. Der Normalfall ist eher der Kompromiss, mit dem alle Beteiligten einigermaßen leben können. Politische Arbeit selbst ist in der Regel unsichtbar – sie besteht vor allem aus Gesprächen, die oft hinter verschlossenen Türen stattfinden, und dem Abfassen von Texten. Wo sie sichtbar wird, etwa in Parlamenten, ist sie unspektakulär: Menschen reden im Plenum, heben Hände für Abstimmungen.

Fiction dagegen hat immer einzelne Akteure, die nicht nur reden, sondern handeln. Die Ergebnisse ihres Handelns sind eindeutig und unmittelbar sichtbar, gerne auch in spektakulären Bildern. Selbst wenn die Zeiten der einfachen Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren vorbei sind, bleiben doch in der Regel leicht zu durchschauende Grauvarianten – oder die Undurchschaubarkeit des Graus ist der Kern der Produktion.

Fiction produziert generisch Bilder, um die sich Politik mit erheblichem Aufwand zusätzlich bemühen muss. Dies geschieht etwa durch eine über die Zeit gewachsene Ikonografie aus Händeschütteln, Gruppenbildern, Bildern von Paraden, ankommenden Autos und roten Teppichen. Wichtig sind traditionell auch Bilder symbolischer Arbeit, die die eigentliche Arbeit repräsentieren – erste Spatenstiche beispielsweise oder das Durchschneiden von Bändern bei der Eröffnung von Straßenneubauten.

Politik – wie das Leben überhaupt – besteht überwiegend aus unspektakulärem Normalbetrieb. Fiction dagegen hat immer das Besondere zum Gegenstand. Selbst in Daily Soaps bleibt tägliche Routine ausgespart – das wichtige WG-Gespräch am Frühstückstisch wird gezeigt, aber nicht das Zähneputzen und Duschen der Beteiligten.
 

Wenn sich das Eckige rund macht

Alle politischen Akteure wissen natürlich um die Wichtigkeit von Bildern in einer Mediengesellschaft, vor allem angesichts eines empfundenen Mangels an politischen Alternativen. Wenn Wahlkämpfe mehr zu einer Konkurrenz der Gesichter als der Konzepte werden, braucht man mehr und andere Bilder, als sie die alte Ikonografie des Politischen liefern kann. Dass die Auftritte politischer Akteure in Unterhaltungsshows deren Sympathiewerte steigern können, ist seit Langem bekannt, in neuerer Zeit werden dafür auch fiktionale Produktionen genutzt. Bekannte Beispiele sind etwa Björn Engholm, der 1993 als amtierender Ministerpräsident Schleswig-Holsteins in einer Folge der ZDF-Reihe Der Landarzt auftrat; im gleichen Jahr war Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder in Dieter Wedels Der große Bellheim zu sehen und 1998 dann in Gute Zeiten, schlechte Zeiten. 2015 war es der bayerische Minister Markus Söder, der eine Gastrolle in der regionalen Soap Dahoam is Dahoam spielte.
 


Die neue Affinität der Politik zum Fiktionalen hat noch weitere Facetten, nicht zuletzt den Trend zur „Fiktionalisierung des Politischen im Wahlkampf“ (vgl. ebd., S. 112 ff.), etwa durch die Transformation von Politikern zu „hyperrealen Medienfiguren“ (ebd., S. 117). Dem gleichen Trend folgt das mediale Gegenüber der Politik, aktuelle Berichterstattung und dokumentarische Formen. Inszenierungen des Politischen setzen heute – nicht nur in Wahlkampfzeiten – auf Fiktionalisierung und treffen dabei auf einen Journalismus, der Fakten nicht einfach berichten, sondern in Geschichten verpacken und Storytelling betreiben will (vgl. Wolf 2003, S. 67 f.).
 

Die (politische) Welt ist schlecht … aber manchmal auch lustig

Wenn eine entpolitisierte (Sachzwang-)Politik mit einem Hang zu fiktionalisierender Inszenierung auf eine nicht wirklich an Politik interessierte Fiction bei einem in erheblichen Teilen nicht an Politik interessierten (bis politikfeindlichen) Publikum trifft, ist die Lage schwierig – aber nicht aussichtslos. Film- und Fernsehgeschichte haben eine ganze Reihe im Kern unpolitischer Erzählweisen über das Politische hervorgebracht, die aktuell vor allem außerhalb Deutschlands erfolgreich genutzt werden, wo die Serien The West Wing, Borgen und House of Cards schon den Status von neuen Fernsehklassikern haben.
 


Diese Erfolge wurden auch in Deutschland registriert (vgl. etwa Barg 2016; Dörner 2017; Schillinger 2018), aber nicht repliziert, weder von den Originalen noch von davon inspirierten Eigenschöpfungen wie Kanzleramt (ZDF, 2005) oder Die Stadt und die Macht (ARD, 2016). Liegt es daran, dass das deutsche Fernsehpublikum einfach keine Politik im Unterhaltungsfernsehen will, wie Autor Ralf Husmann vermutet (vgl. Dörner 2017, S. 57 f.), an der vergleichsweise biederen Machart oder schlicht an der geringeren Fallhöhe, was Produktionen über deutsche Politik betrifft? Ein Kanzleramt ist nun mal kein Weißes Haus … Falls die erste Vermutung zutrifft, ist das Problem ein grundsätzliches: Allein Setting und Personal genügen offensichtlich, um ein Massenpublikum abzuschrecken, denn politische Inhalte und Ziele spielen in der Regel keine große Rolle. Gezeigt werden eher Kämpfe um Macht und Einfluss, also geradezu Antipolitisches (vgl. Schillinger 2018, S. 61 ff.), in House of Cards wird Politik gleich zum Fight Club (vgl. Barg 2016, S. 73).

Immer wieder gerne aufgegriffen werden auch klassische Erzählmuster wie der Kampf David gegen Goliath (oft in der Form des Kampfes aufrechter Polizistinnen und Polizisten gegen kriminelle Lokalgrößen [vgl. Dörner 2017, S. 58 f.]) und Erzählfiguren wie der skrupellose politische Karrierist. Dies folgt zwar medialer Logik, denn ein komplexer „Böser“ ist immer interessanter als ein eindimensionaler „Guter“, aber latent werden dadurch natürlich Aversionen gegen „die da oben“ gestützt, eine im Kern unpolitische Haltung.

Einen Beitrag anderer Art zur politischen Meinungsbildung leistet ein zweiter Typus von fiktionalem Fernsehen über Politik: die Komödie. Anstatt sich an konkreter Politik abzuarbeiten, wird hier politische Absurdität ausgestellt und in ihrer Lächerlichkeit erkennbar, und das teilweise sogar mit großem Erfolg wie im Falle der Provinzposse Um Himmels Willen (ARD, seit 2002 [vgl. ebd., S. 57]). Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Fernsehproduktionen, die politische Inkompetenzzentren und Intrigantenstadl zum Thema haben oder gar die Dysfunktionalität politischer Strukturen: The Gravy Train (1990/1991), deutscher Titel Der große Reibach (ZDF, 1992/1993), macht sich über die EU-Bürokratie lustig, Eichwald, MdB (ZDF, ab 2014) über den Berliner Bundestagsdschungel und Das Institut – Oase des Scheiterns (BR, ab 2017) über auswärtige Kulturpolitik.

Angesichts dieser Vielfalt einschlägiger Produktionen ist ein Fazit schwierig: Einerseits können fiktionale Produktionen Einblicke in den Politikbetrieb ermöglichen, andererseits interessieren sie sich im Normalfall nicht wirklich für politische Inhalte, sondern eher für Machtkämpfe und gelegentlich für das humoristische Potenzial des politischen Betriebs. Zur politischen Meinungsbildung können sie trotzdem beitragen. Vieles in realer oder fiktionalisierter Politik mag furchtbar oder absurd erscheinen, aber es kann im Idealfall Interesse daran wecken, sich selbst einzumischen. Auch die Politik in fiktionalen Produktionen erinnert daran, dass alle Politik uns alle betrifft – und verändert werden kann.
 


Literatur:

Barg, W. C.: Politik als Kompromiss und Intrige. Die Darstellung politischer Entscheidungsprozesse in US-amerikanischen und europäischen High-Quality-Serien. In: tv diskurs, Ausgabe 75, 1/2016, S. 70 – 73

Dörner, A.: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt am Main 2001

Dörner, A.: Machthungrige Schurken? Zum Bild politischer Akteure in Serien und Krimireihen des deutschen Fernsehens. In: tv diskurs, Ausgabe 80, 2/2017, S. 54 – 59

Newcomb, H. M./Hirsch, P. M.: Fernsehen als kulturelles Forum. Neue Perspektiven für die Medienforschung. In: Rundfunk und Fernsehen, 2/1986, S. 177 – 190

Schillinger, H.: Politik in Serie(n). Die Politik, das Politische und die Tragödie. In: N. Switek (Hrsg.): Politik in Fernsehserien. Analysen und Fallstudien zu House of Cards, Borgen  & Co. Bielefeld 2018, S. 53 – 75

Wolf, F.: Alles Doku – oder was? Über die Ausdifferenzierung des Dokumentarischen im Fernsehen. Düsseldorf 2003